Die Mädchen abballern

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Wenige Tage nach dem Amoklauf von Winnenden hatte er dem "sehr geehrten Prof. Dr. Pfeiffer" eine Email geschickt "Ich bin heute 28 Jahre alt und stehe Gottseidank wieder bzw. erstmalig mitten im Leben", hieß es darin. Aber es sei noch gar nicht so lange her, dass er und seine Freunde sich "nächtelang zum Spiel" getroffen hätten und "über Amokläufe geredet haben". Das "zentrale Problem", schrieb Sven (Name geändert), "war unsere völlige Erfolglosigkeit beim anderen Geschlecht. Wodurch wir einen unbändigen Hass auf Frauen entwickelten." Prof. Pfeiffer war Sven durch seine Fernsehauftritte aufgefallen, in denen er seine Studien über Jugendgewalt vorstellte und dringlich dafür plädierte, vor dieser Entwicklung nicht länger die Augen zu verschließen. Sven nun fragte sich, warum man noch nie versucht habe, mit einem Mann zu sprechen, der solche Fantasien hat bzw. hatte. "Einen toten Amokläufer kann man nicht fragen", schreibt er. Er, Sven, lebt. – Christian Pfeiffer, mit dem EMMA seit vielen Jahren zusammenarbeitet, schickte uns diesen Brief und vermittelte den Kontakt. Sven kam nach Köln in die EMMA-Redaktion und erzählte uns beeindruckend offen, wie auch er beinahe zum Amokläufer geworden wäre – und warum er es dann doch noch geschafft hat, einen anderen Weg einzuschlagen.

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Sven, warum haben Sie eigentlich Prof. Pfeiffer geschrieben?
Na ja, das war doch schon der zweite Amoklauf in Deutschland. Aber wenn ich im Fernsehen die Sendungen darüber gesehen habe, hatte ich das Gefühl, dass man die wirklichen Ursachen gar nicht erkannt hat. Klar, härtere Waffengesetze und das Verbot von Ego-Shootern … Alles richtig. Aber die Frage ist doch: Wie kann es überhaupt so weit kommen?

Und wie ist es bei Ihnen – fast – so weit gekommen?
Das ging so ein, zwei Jahre vor dem Abi los. Ich war mit 18 zu Hause rausgeflogen. Aber ich hatte zwei Freunde, die waren genau so Außenseiter wie ich, die hatten ganz ähnliche Probleme: mit den Eltern und mit den Frauen. Wir hatten alle drei keinen Stich bei den Frauen. Und darüber haben wir eben geredet.

Wie geredet?
Dass wir Frauen blöd fanden. Oberflächlich und total auf Äußerlichkeiten fixiert. Wir fanden auch das Fernsehen mit den vielen menschenverachtenden Sendungen – vergleichbar mit heute zum Beispiel DSDS – totalen Schrott. Menschen wurden dort bewertet, abgeurteilt und als Loser zurückgelassen. Wir waren so richtig frustriert und missgünstig und hatten einen totalen Hass auf die ganze Gesellschaft. Dann ging das los mit den ersten Ego-Shootern. Der allererste war Wolfenstein, in dem ist man immer in den Gängen eines Gebäudes rumgerannt und hat so Typen in Naziuniformen abgeballert.

Und was war daran so toll?
Dass man Druck abbauen konnte. Man konnte sich den ganzen Hass vom Leib spielen. Jetzt könnte man meinen, das wäre dann doch ein Ventil und nicht gefährlich. Aber das Problem war, dass ich dadurch überhaupt erst auf den Gedanken kam: Was wäre, wenn ich es auch mal in echt tun würde? Das besondere an Ego-Shootern ist ja, dass man immer durch irgendwelche Gänge rennt und alle Menschen abballert, die aus den Türen kommen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, dass es doch toll wäre, an unsere Schule zu gehen und sich mal so richtig an allen zu rächen! Das war lange, bevor es in Deutschland den ersten Amoklauf gab.

Habt ihr darüber auch miteinander geredet?
Absolut! Welche Lehrerin und welche Schülerinnen wir abballern! Und wo man sich in unserer verwinkelten Schule toll verstecken könnte.

Wir wollten immer nur die Frauen abballern

Stopp! Sie haben gerade nur von Lehrerinnen und Schülerinnen geredet. Wollten Sie denn nur Frauen erschießen?
Ja, genau das ist doch der Punkt. Wir wollten immer nur die Frauen abballern. Vielleicht noch ein paar Alphamännchen dazu. Aber richtig interessant waren die Frauen. Die Frauen, von denen man sich gedemütigt gefühlt hat und abgestoßen.

Warum?
Na, weil die Mädchen einem einen Korb gegeben hatten. Oder eben Lehrerinnen, die … ja … diese ganz Taffen, so'n Tick maskulin … also die klassischen Emanzen. Die waren uns auch ein Dorn im Auge. Bei den Schülerinnen waren es eher die Unemanzipierten, die wir im Visier hatten, die, die nur auf den Starken standen und mit Riesenausschnitt und Supermini rumgerannt sind. Bei den Lehrerinnen waren es im Gegenteil eher die besonders Emanzipierten, die, die einen in die Schranken wiesen. Die hat man auch gehasst. Bei den Sorten von Frauen fühlte man sich nicht ernst genommen.

Sind Ihre Mordfantasien denn immer nur um die Schule gekreist?
Na klar, das war der perfekte Ort. Supermarkt oder Zug war doch uninteressant. Die Schule war zu der Zeit unser Lebensmittelpunkt, wir kannten da viele. Und ich bin jeden Morgen mit Magenschmerzen in die Schule gegangen. Vor allem, als es aufs Abi zuging und auch noch der allgemeine Leistungsdruck zunahm.

Hatte der Frust auch was mit Leistungsdruck zu tun?
Klar, in allen Bereichen. Und diese Fantasien, die gaben so ein totales Allmachtsgefühl, weil man genau wusste: Die Anderen haben keine Chance. Es wäre ja langweilig, sich vor den Zug zu werfen, das sieht doch keiner. So ein Amoklauf, das ist einfach die finale Abrechnung. Später hatte ich denn auch mal so fixe Ideen mit Kirchen, weil ich so einen Hass auf meine religiöse Erziehung hatte.

Habt ihr eigentlich auch Pornos geguckt?
Nein, das kam bei mir erst später, in der Bundeswehr. Meine sehr katholische Mutter hatte uns ja sehr prüde erzogen. Sogar aus den Neckermann-Katalogen hat sie die Bikini-Fotos rausgeschnitten und aus den Medizinbüchern die sexuellen Darstellungen. Die war total körper- und lustfeindlich.

Hattet ihr drei auch echte Waffen?
Wir hatten alle Waffen: Totschläger, Springmesser und Gaspistolen.

Ich sehe sie nicht als Menschen, das sind Schweine!

Habt ihr nicht auch mal Skrupel gekriegt, wenn ihr so in Mordfantasien geschwelgt habt?
Lichte Momente? Ja, die gab es. Dass man dachte: Das kannst du eigentlich nicht machen. Aber dann sagte man sich wieder: Die Anderen, das sind ja gar keine Menschen. Die haben mit mir kein Mitleid gehabt, also habe ich jetzt mit denen auch kein Mitleid. Die haben mich wie einen Unmenschen behandelt… also sehe ich sie auch nicht mehr als Menschen! Das sind Schweine!

In der Zeit hattet ihr alle drei keine Freundin?
Nee, keiner von uns.

Und ihr hattet alle Probleme mit den Eltern?
Ja. Meine beiden Kumpels waren ohne Vater aufgewachsen. Die Mutter von dem einen war Alkoholikerin, die von dem anderen hat ihn extrem bemuttert. Das widerte ihn regelrecht an!

Aber Sie haben doch Vater und Mutter. Sie kommen aus einer Akademikerfamilie und haben fünf Geschwister.
Aber meine Eltern hatten beide ein Alkoholproblem, waren total überfordert. Meine Mutter hatte ernsthafte psychische Probleme und extreme Stimmungsschwankungen: von supernett bis extrem autoritär. Gewalttätig war sie nicht, das hat sie immer an meinen Vater delegiert. Na, und der hat ordentlich geprügelt. Und wenn ich nachmittags von der Schule kam, wusste ich nie: Hat sie jetzt gute oder schlechte Laune? Und ab sechs Uhr abends wurde getrunken.

War Ihre Mutter berufstätig?
Nein, sie hatte ja genug zu tun mit sieben Kindern. Mein Vater war selbstständig, und sie hat ihren Beruf als Ingenieurin erst sehr viel später ausgeübt, so hobbymäßig. So lange wir klein waren, hat unsere Mutter uns total isoliert und kontrolliert. Ich durfte nicht in den Kindergarten, denn da waren ja nur die armen Kinder von den Rabenmüttern. Wir durften auch nicht in den Fußballverein, denn sonntags musste man ja in die Kirche. Und auf Klassenfahrten durften wir auch nicht mitfahren – da hätten wir ja darüber reden können, was bei uns zu Hause so los was.

Und Ihr Vater?
Mein Vater? Der war beruflich sehr erfolgreich, aber in der Familie abwesend. Bis heute weiß ich eigentlich nicht, was ihn interessiert – außer der Arbeit und dem Garten: Wie ich klein war, habe ich meine Mutter gehasst, später war es eher der Vater. Als ich in die Pubertät kam, habe ich angefangen, ihn zu verachten. Weil er alles gemacht hat, was sie gesagt hat. Er war ein Schwächling. So einer wollte ich nicht werden.

Ab wann wurden Ihnen denn Ihre Probleme bewusst?
Ab der Grundschule. Da war ich als Junge ein totaler Außenseiter. Ich habe eigentlich nur mit Mädchen gespielt, die haben mich wenigstens akzeptiert. So Mädchenspiele, die mir total suspekt vorkamen …

Was denn für Spiele?
Ach, das ist echt peinlich …

Wir sind ja hier nur Mädchen. Uns können Sie es doch sagen.
Na ja, so Gummihüpfen und Fangenspielen im Pausenhof. Ich hätte sehr viel lieber Fußball gespielt. Die Jungs fanden mich dadurch dann noch komischer, beschimpften mich als "Weiberheld" und so. Dabei kam ich mir überhaupt nicht so vor.

Über uns wurde sich nur lustig gemacht

Und ab wann sind Sie zu den Männern gestoßen?
Ab dem Gymnasium. Im ganzen ersten Jahr hatte ich überhaupt keine Kontakte, denn die Mädchen von meiner Grundschule gingen nicht aufs Gymnasium. Aber dann habe ich mich mit ein paar anderen Außenseitern zusammengetan. Es war ja ziemlich schnell klar, wer die Alphamännchen in der Klasse sind: die sportlich gut waren, coole Klamotten und immer einen Spruch drauf hatten. Die hatten dann auch die tollen, gut aussehenden Mädchen um sich rum. Über uns wurde sich nur lustig gemacht …

Und Ihre Außenseiter-Clique?
Wir haben uns meist zu Hause getroffen und Computer gespielt. Aber wir haben auch sehr viel geredet. Man wird ja in so einer Situation zu einem nachdenklichen Menschen. Außenseiter sind Jungs, die sich viele Gedanken über die Welt machen, aber nicht damit klarkommen.

Und ab wann wurde die Situation heikel?
So ab der siebten, achten Klasse. Nachdem ich die ersten Körbe von Mädchen gekriegt hatte. Da habe ich begriffen, dass ich als Mann überhaupt nicht ankomme. Dass da andere gefragt sind. Ich fing an, frustriert zu sein und so ein Gefühl von Demütigung und Ablehnung zu kriegen. Irgendwann war mein Misserfolg bei Mädchen dann mein Hauptproblem.

Waren denn auch freundliche Abweisungen für Sie ein Problem?
Klar! Ich fand das nicht unbedingt klasse, wenn eine sagte: Du bist lieb und nett, ein guter Kumpel, aber nicht mein Typ. Es gab aber auch so richtig verächtliche, in der Art: Was willst du eigentlich? Guck mal in den Spiegel!

Der Misserfolg bei Mädchen war mein Haupt-problem

War denn so gar nicht der Typ des schüchternen Helden angesagt? So à la James Dean?
Genau das wollte ich immer werden: ein schüchterner Held! Aber es ist mir nicht gelungen. Dabei war ich nicht ohne Selbstbewusstsein. Ich wusste, dass ich nicht dumm bin und habe versucht, Frauen über charakterliche Dinge zu beeindrucken. Fehlschlag.

Und wann hat es zum ersten Mal geklappt?
Mit 19. Da war ich zum ersten Mal richtig verliebt, wollte eine Beziehung haben. Auf Sex hatte ich es noch gar nicht abgesehen. Aber das hat nur sechs Wochen gehalten. Ich bin zum Bund gekommen, wir haben uns ein paar Wochen nicht gesehen und plötzlich hieß es: Ich war eigentlich schon immer an einem anderen interessiert, und mit dem bin ich jetzt zusammen; es tut mir leid, aber wir können ja gute Freunde bleiben. Da wusste ich noch nicht, dass ich diesen Satz noch öfter hören würde …

Sie sind nach dem Abitur zur Bundeswehr gegangen?
Da kam ich gut klar! Das war so eine ganz archaische Sache. Ich wurde total gefordert, bekam auch schon mal Tadel, aber auch Lob. Wir hatten alle Uniformen an, waren alle gleich. Unser einziges Feindbild waren die Vorgesetzten, untereinander haben wir total zusammengehalten. In der Zeit hatte ich auch nicht mehr diese Amokfantasien.

Aber jetzt waren die Pornos angesagt?
Stimmt. Als ich das erste Mal Nachtdienst hatte, da kam der Unteroffizier und hat gesagt: Hier hast du was zu lesen für heute Nacht. Und dann hat er mir einen Riesenstapel Playboys hingelegt. Auch in den Gesprächen unter Kumpels ging es vor allem um Sex. Ich hab da nur zugehört, ich hatte ja auf dem Gebiet nicht viel vorzuweisen. Aber ich wollte nicht, dass das jemand merkt: Umso lauter habe ich dann natürlich bei den Pornos mitgeprahlt.

Und die Ausbildung an den Waffen?
Na, da ist man natürlich auch auf Fantasien gekommen: Und wenn ich jetzt mal ernst mache …?

Und nach der Bundeswehr?
Da habe ich meine Ausbildung als Kaufmann gemacht und kam in ein Großraumbüro mit 40 Frauen. Das war ein krasser Bruch. In der Bundeswehr war ich ja in einer sehr männlichen Welt gewesen – und jetzt diese Frauenwelt. Die meisten waren nicht gerade emanzipiert, sondern hatten ziemlich traditionelle Vorstellungen, wie ein Mann zu sein hat. Da habe ich überhaupt nicht gepasst, ich wurde wieder zum totalen Außenseiter. Die Frauen haben mich so richtig gemobbt, haben mir Fehler untergeschoben. Eine hat sogar vorm Chef behauptet, ich wäre ihr hinterhergestiegen. Das war wirklich frei erfunden! Ich habe nie was von der gewollt. Die Leute lassen einfach ihren Frust an Schwächeren ab. – Da habe ich dann eine richtig krasse Wut auf Frauen gekriegt. Meinen beiden Kumpels von damals ging es übrigens nicht anders, die hatten vor allem Ärger mit Frauen in Führungspositionen.

Und wie haben Sie reagiert?
Ich bin dann zu einem richtigen Chauvinisten geworden. Ich habe alle Frauen minderwertig gefunden, mich richtig vor denen geekelt. In der Zeit habe ich dann sogar ein paar homosexuelle Erfahrungen gemacht. Heute ist mir klar, dass das weniger mit meinen Interessen an Männern zu tun hatte, sondern eher mit meiner Verachtung für Frauen. Heute ist klar, dass ich auf Frauen stehe.

Wie sind Sie denn eigentlich von Ihrem Horrortripp wieder runtergekommen?
Ich bin krank geworden. Und ich kriegte Zwangsstörungen: Zählzwänge, Kontrollzwänge, irgendwann bin ich gar nicht mehr aus dem Haus gegangen. Ich hatte Angst vor dem ganzen Leben, eine krasse Depression. Ich bin dann zum Psychologen gegangen und hab gesagt: Ich kann nicht mehr.

Über so was spricht man einfach nicht

Und da wurde Ihnen geholfen?
Nee, erstmal bin ich bei den Falschen gelandet. In einer ganz traditionellen Psychiatrie, wo ich immer kränker wurde. Da bin ich dann nach ein paar Monaten abgehauen. Und dann habe ich das wahnsinnige Glück gehabt, den richtigen Therapeuten zu finden, in einer Fachklinik, wo ich acht Monate lang stationär behandelt worden bin.

Und dem haben Sie von Ihren Amokfantasien erzählt?
Nein, das weiß selbst er bis heute nicht. Das ist das einzige, was ich nie gesagt habe. Über so was spricht man einfach nicht. Das wäre ja, wie wenn jemand erzählt, dass er pädophil ist. Beides ist ja die unterste Stufe, das Niederste, was man machen kann.

Sie hatten einen Mann als Therapeuten?
Klar, ich hätte zu diesem Zeitpunkt niemals eine Frau akzeptiert. Das hat der Therapeut auch sofort gemerkt, mein Problem mit den Frauen. Ihn aber habe ich dann ziemlich schnell akzeptiert.

Warum?
Er war absolut sachlich, streng und konsequent, aber nie willkürlich. Er hat mich als Mensch respektiert und auch Mitgefühl gehabt – aber eben kein Mitleid. Vorher die Therapeuten, die hatten alle Mitleid, da hatte ich immer das Gefühl: Die fangen gleich selbst an zu heulen, wenn ich ihnen von meinem Leben erzählte. Die habe ich alle um den Finger gewickelt. Doch mit dem ging das nicht. Von ihm habe ich mir auch sagen lassen, was bei mir selbst schief lief – und darüber nachgedacht. Ich fand ihn auch als Mann bewundernswert. Er ist bis heute mein Vorbild.

Was für ein Mann war denn Ihr Therapeut?
Als ich am Anfang immer argumentiert habe: typisch Mann, typisch Frau, da ging dem das total auf den Nerv. Er hat mich provoziert und gesagt: Es gibt überhaupt keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Sie denken nur so, weil Sie in Wahrheit damit Ihre Mutter meinen.

Und was haben Sie daraus gelernt?
Mein Therapeut hat mir geholfen, meinen eigenen Fehler zu erkennen. Und auch, eine gewisse Frustrationstoleranz zu entwickeln: Ich kann ja nicht jeder gefallen. Ich muss auch mit Abweisungen umgehen können.

Was machen eigentlich die beiden Kumpel von damals heute?
Der Eine hat eine ganz tolle Freundin, die ihn wirklich so akzeptiert, wie er ist. Um den anderen mache ich mir, ehrlich gesagt, ein bisschen Sorgen. Er hat das Studium abgebrochen, hat Schulden – und vor zwei Wochen hat er mir nachts gemailt: "Ich hab die Schnauze voll. Ich räche mich nochmal an allen …" Da habe ich am nächsten Morgen gleich angerufen, aber angeblich hat er sich an nichts erinnert. Ich habe dann Freunde organisiert. Das war ganz toll, unheimlich viel Solidarität. Wir haben ihm auch Geld gegeben, und er war echt gerührt. Jetzt will ich mal hoffen …

Sie sind ja sechs Geschwister gewesen, darunter eine jüngere Schwester. Wie geht es der heute?
Die ist in den letzten drei Jahren völlig abgedriftet.

Wohin?
Sie ist extrem exhibitionistisch, in tausend Socialnetworks online, mit Steckbrief und Aktfotos. Die können 80 Millionen Deutsche nackt sehen. Phasenweise hat sie auch Drogen konsumiert. Und bis heute hat sie unterschwellige Essstörungen.

Eine Familie – aber sehr unterschiedliche Folgen für den Jungen und das Mädchen.
So ist es.

Haben Sie jemals mit Ihren Eltern über all das geredet?
Nein. Seit ich die Therapie gemacht habe, bin ich souveräner und weiß mit meinen Eltern umzugehen. Neulich hat meine Mutter zur späten Stunde sogar meine Hand genommen und meine Backe getätschelt. Und dann hat sie gesagt: Ich bin stolz auf dich und hab dich total lieb. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass meine Mutter so was zu mir gesagt hat. Seither lass ich mich auch mal von ihr in den Arm nehmen, ohne es unerträglich zu finden. Aber über meine Probleme von früher mit meinen Eltern reden … Nein. Ich glaube nicht, dass die sich rückwirkend Fehler eingestehen würden. Sie haben alles verdrängt, was sie falsch gemacht haben. Das jetzt nachträglich einzugestehen – da würde ja eine Welt für die zusammenbrechen.

Haben Sie heute Menschen, von denen Sie sich verstanden fühlen?
Absolut. Ich habe eine gemischte Freundesclique, mit ganz tollen Frauen und tollen Männern. Heute habe ich keine Probleme mehr … und wenn, dann weiß ich, dass es meine Verantwortung ist, sie zu lösen.

Das Gespräch führten Chantal Louis und Alice Schwarzer

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Alice Schwarzer schreibt

Im Inneren des Walfischs

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Es ist, als säßen wir im Bauch eines Walfisches. Mittendrin, da, wo der gewaltige Fisch selbst nicht zu sehen ist, sondern nur eine diffuse Undurchdringlichkeit. Anders lässt es sich nicht erklären, dass ein Amokläufer in einer Schule gezielt zwölf Menschen töten kann, von denen elf weiblich sind und der zwölfte als "Frauenversteher" gilt, aber niemand es sieht. Und was das vollends Beklemmende ist: Nicht nur die Medien wollen es nicht wahrhaben – auch die Polizei und die ermittelnde Staatsanwaltschaft schließt fest die Augen.

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"Das Geschlecht", erklärt Pressesprecherin Claudia Krauth der zuständigen Stuttgarter Staatsanwaltschaft auf Anfrage von EMMA, "hat für den Täter nach unseren bisherigen Erkenntnissen keine Rolle gespielt". Welche bisherigen Erkenntnisse? Haben in den Klassen etwa deutlich mehr Mädchen als Jungen gesessen? Nein, sagen die entkommenen SchülerInnen – die Ermittler geben auf diese simple Frage jedoch auch einen Monat nach der Tat noch keine Antwort. Hat der versierte Schütze doch nicht in allen Fällen die SchülerInnen durch "gezielte Kopfschüsse hingerichtet", wie ein Polizist der Mutter eines Opfers laut Zeit gesagt haben soll? Auch darauf geben die Ermittler bis Mitte April keine Antwort.

Ist die Frage nach dem Geschlecht nicht relevant für das Verfahren?

Gibt es bei Tim K., der laut Polizei 200 "Pornobilder" (Fotos? Filme? DVDs?) auf seinem Rechner hatte, darunter 120 so genannte Bondage-Bilder (also Fesselungen und Folterungen von Frauen), Anzeichen für ein angespanntes, ja aggressives oder gar hasserfülltes Verhältnis zum anderen Geschlecht? Auch darauf bisher keine Antwort von der Staatsanwaltschaft. "Welche Gewalt oder ob auf den 200 Bildern überhaupt Gewalt zu sehen ist", das sei für die Staatsanwaltschaft "kein verfahrensrelevanter Gesichtspunkt", antwortete die Pressesprecherin auf Nachfrage von EMMA.

Das muss man sich mal vorstellen! Wenn von zwölf Ermordeten elf weiblich sind, dann ist die Frage nach dem Geschlecht der Opfer für die Ermittler "kein verfahrensrelevanter Gesichtspunkt". Das heißt, sie stellen sich gar nicht erst die Frage, warum das so ist! Wie aber kann es überhaupt sein, dass Ermittler ein so zentrales Indiz einfach ignorieren?

Was wohl wäre, wenn Tim K. in einer gemischt deutsch-türkischen Klasse elf Türken und einen Türkenfreund getötet hätte, das habe ich bereits zwei Tage nach der Tat gefragt. Die Antwort ist einfach: Die Hölle wäre los! Jeder halbwegs kritische Ermittler und Journalist würde nicht nur auf diesen Umstand hinweisen, sondern dem auch nachgehen. Und Schlüsse daraus ziehen, zum Beispiel: zwischen dem Einzeltäter und einem gesellschaftlichen Klima, in dem Fremdenhass existiert – und der vielleicht nicht zufällig in seiner extremsten Zuspitzung solche Formen annimmt.

Oder was wäre wenn – ich wage kaum es niederzuschreiben – eine Ex-Schülerin in einer geschlechtergemischten Klasse quasi nur Jungen erschießen würde? Die Schüsse wären noch nicht ganz verhallt, da würde das Schlagwort vom "Männerhass" schon alle Titelzeilen und Nachrichten sprengen; Männerhass, der sich hier auf perverse Weise Bahn gebrochen habe. Das Leben dieser Mörderin würde nach dem Motiv Männerhass um und um gestülpt: Ist sie zu kurz gekommen? Hat sie schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht? Hat sie eine frustrierte, gar feministische Mutter?

Leider sind solch simple Umkehrungen noch immer nötig, um die Ungeheuerlichkeit der Normalität klarzumachen: Die Norm ist, dass Männer Frauen ermorden (in 90 Prozent aller Mordfälle zwischen den Geschlechtern). Darum ist dieses letzte Szenario so extrem hypothetisch. Weibliche Amokläufer sind (bisher) quasi inexistent. Nicht etwa, weil Frauen die besseren Menschen wären. Nein, weil Frustration und Aggression sich bei Frauen traditionell anders Bahn bricht als bei Männern, nämlich weniger nach außen und mehr nach innen, weniger physisch und eher psychisch.

Warum werden die zentralen Fragen von Ermittlern nicht einmal gestellt?

Reden wir also nicht länger drumrum und warten wir nicht auf die Erkenntnisse von Ermittlern, die sich die zentralen Fragen noch nicht einmal stellen. Selbstverständlich hat die Tat von Tim K., dem Mädchenmörder, etwas mit seinem Verhältnis zu Frauen zu tun! Genauer: Etwas mit seiner Art, ein Mann werden zu wollen, woran er gescheitert ist.

In der Genderforschung spricht man bei diesen gewalttätigen, pubertierenden Jungen von einer "Konstruktion" der Männlichkeit. Denn die Verknüpfung von Männlichkeit & Gewalt hat eine Jahrhunderte, ja Jahrtausende alte Tradition. Und schon lange warnen Studien, vor allem aus den USA: Die Männergewalt eskaliert bei sich verändernden Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern.

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir eine Erschütterung der klassischen Rolle von Männern und Frauen erlebt. Der 1990 geborene Tim K. ist der Sohn eines Vaters und einer Mutter, die mittenhinein geboren wurden in diese Umwälzungen, in die Spannungen zwischen Tradition und Fortschritt, auch wenn das im schwäbischen Hinterland vermutlich allmählicher vonstatten geht als in Berlin-Kreuzberg. Ein Vater, der 15 Waffen im Haus hat, davon eine im Schlafzimmer!, und über 4.000 Schuss Munition, scheint entschlossen, im Konfliktfall Herr über Leben und Tod zu sein. Sein Sohn hat das nun bei seinem eigenen Konflikt in die Tat umgesetzt.

Dass Konflikte in dieser Familie weniger durch Thematisierung und Verständnis gelöst zu werden scheinen und eher durch Verdrängung, darauf deutet das empörte Dementi des Vaters, Tim sei nie in psychiatrischer Behandlung gewesen. Der Psychiater sagt das Gegenteil. Warum also das Dementi? Weil eine psychiatrische Behandlung nur etwas für Verrückte ist, aber nicht für einen Jungen aus einer ganz normalen Familie wie die K.s aus Winnenden?

Normal ist es wohl auch, dass ein 18-Jähriger 120 harte Pornos, also Darstellungen sexualisierter Gewalt, auf seinem Rechner hat. So zumindest sieht es der Staatsanwalt. Normal sind auch die Gewaltspiele, die aus Jungs, die in der realen Welt kleine Milchgesichter sind, in der virtuellen Welt große Helden machen – auch das ist in der Tat die Norm, wie eine aktuelle Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer belegt.

Sicher, nicht alle Jungen, die aus normalen Familien kommen und keinen Stich bei Mädchen haben, die Pornos konsumieren und Gewaltspiele, nicht alle werden Amokläufer. Zum Glück. Welcher Auslöser bei Tim K. noch dazu gekommen ist, darauf kann vermutlich nur die Familie ganz genaue Antworten geben – und diese Antworten ist sie den Opfern schuldig.

Das Wegsehen ist es, das die Tims dieser Welt zur Raserei bringt

Doch all diese Jungen sind gefährdet. Und sie sind unglücklich. Wir schulden darum nicht nur ihren (potenziellen) Opfern – die selten in der Leichenhalle, aber oft genug in Frauenhäusern landen – die Wahrheit, sondern auch diesen verirrten Jungen. Die Wahrheit über diese Tat und diese Familie und eine Gesellschaft, in der eine solche Untat wachsen kann.

Denn es ist das Wegsehen, das die Tims dieser Welt zur Raserei bringt. Das Gespräch, das ich vor wenigen Tagen mit Sven – dem Mann, der im Alter von Tim beinahe zum Amokläufer geworden wäre – für EMMA geführt habe, hat auch mir nochmal einiges klarer gemacht. Der heute 28-Jährige spricht zum ersten Mal über seine eigenen Amok-Fantasien und die seiner Kumpel. Damit wir besser verstehen. Und er macht deutlich, wie hoch nicht nur der Anteil des Frauenhasses bei einer solchen Tat sein kann, sondern auch der des Exhibitionismus. Sie wollen endlich als Männer wahrgenommen werden, als echte Männer, diese pubertierenden Jungen. Und sei es mit Gewalt.

Denn die Zeiten, in denen nur Männer den exklusiven Zugang zum Wissen und zur Welt hatten, sind vorbei. Heutzutage überholen die Mädchen die Jungen in der Schule, und auch Frauen fahren Auto und umsegeln die Weltmeere. Was also macht den Mann noch zum Mann? Die Gewalt.

Männer von heute stehen an einem Scheideweg: Gehen sie auf die Frauen zu – oder schlagen sie auf die Frauen ein? Sven hat sich letztendlich für den ersten Weg entschieden. Tim hat den zweiten Weg gewählt, bis zum bitteren Ende, bitter für seine Opfer, aber auch für sich selbst. Ein stärkeres Zeichen als den Tod kann so einer nicht setzen. Wollen wir wirklich trotzdem weiterhin wegsehen?

Bleibt die Frage, warum so viele Menschen so entschlossen wegsehen, Männer wie Frauen. Das hat wohl etwas mit Erschrecken zu tun und mit Verdrängung. Männer erschrecken vor sich selbst bzw. der Spezies, zu der sie gehören; Frauen erschrecken vor der (potenziellen) Gewalt von Männern. Dieser Amoklauf ist in der Tat eine Lektion für alle Männer und Frauen: als (potenzielle) Täter bzw. Opfer. Denn alle Mädchen werden verstanden haben: Die Nichtbeachtung oder Zurückweisung eines Jungen kann heutzutage lebensgefährlich sein.

Mindestens jede dritte Frau hat Gewalterfahrungen am eigenen Leibe gemacht, meist durch den eigenen Mann, Bruder, Vater. Wie fühlen solche Männer sich, wenn sie von dem Massaker hören? Schuldbewusst? Oder ermutigt? Und wie fühlen sich die Mädchen und Frauen, die Opfer dieser Gewalt wurden? Empört? Oder eingeschüchtert?

Der Walfisch, in dem wir sitzen, heißt "Gewalt gegen Frauen". Für uns ist das so normal, dass wir das Ungeheuerliche daran nicht mehr wahrzunehmen scheinen. Doch weiter bringt uns das nicht, uns Frauen und Männer. Weiter bringt uns nur die Wahrheit, zum Beispiel die des Beinahe-Amokläufers Sven. Er hat meinen ganzen Respekt.

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