Alice Schwarzer schreibt

Es geht um viel mehr als um zwei Menschen

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Ich schreibe diesen Text am 20. September. Bis zum Erscheinen dieser Ausgabe werden noch zwei Verhandlungstage stattfinden und bis zum Urteil, das für Ende Oktober/Anfang November erwartet wird, noch mehrere Wochen vergehen. Noch steht Aussage gegen Aussage. Die Anklage lautet weiterhin auf „besonders schwere Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung“.

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Ich war bisher zweimal dabei im Verhandlungssaal 1 des Landgerichts Mannheim. Der vierstöckige, leicht abgerissen wirkende Bau steht zehn Fußminuten vom Bahnhof entfernt, direkt gegenüber vom Stadtschloss. An den ersten Verhandlungstagen drängten sich Dutzende von JournalistInnen schon vor dem Eingang, und ich geriet in eine Doppelrolle: Ich bin im Fall Kachelmann Berichterstatterin und Gegenstand der Berichterstattung zugleich. Was sagt die Feministin Schwarzer zu diesem Prozess?

Die Journalistin Schwarzer greift sich erstmal ihren Block und macht Notizen. Der Verhandlungsraum ist gesichert wie ein Hochsicherheitstrakt, der Sicherheitscheck penibler als am Flughafen. In den ersten drei Reihen sitzen 48 JournalistInnen, ich auf Platz 26 in Reihe zwei; in den folgenden Reihen 86 ZuschauerInnen, manche von ihnen stehen seit morgens um sechs an, um einen Platz zu ergattern.

Unter die JournalistInnen mischt sich am zweiten Verhandlungstag eine „Mediatorin“: Johanna Post-Birkenstock, die Ehefrau von Kachelmanns Verteidiger Reinhard Birkenstock. Der beantragte ihre Zulassung im Verhandlungsraum mit der Begründung, seine Frau würde den Angeklagten „in den Pausen betreuen“.

Ich kannte Frau Post-Birkenstock schon vom Ansehen. Bei der Entlassung Kachelmanns aus der U-Haft stand sie beim TV-Interview wenige Meter schräg hinter dem Wetter-Moderator und ihrem Mann und ließ ihren tief gerührten Blick nicht eine Sekunde von dem der Vergewaltigung Beschuldigten. Ihre Rührung war sichtbar so groß, dass ich mich fragte: Wer mag das sein? Eine Freundin? Nein, zu alt für Kachelmanns Beuteschema. Die Mutter? Nein, zu jung für Kachelmanns Alter. Jetzt weiß ich es: Es ist die Frau des Verteidigers; die Frau fürs Seelische, fürs Händchenhalten.

Neben der Seelentrösterin ist der TV-Star eskortiert von vier Anwälten: drei Strafverteidiger – darunter eine Strafverteidigerin, die am ersten, besonders medienträchtigen Tag neben ihm saß – sowie ein Medienanwalt, der ihn „vor den Medien schützen“ soll. Hinzu kommen vier Experten, die im Auftrag der Verteidigung Gutachten erstellt haben und nun den ganzen Prozess verfolgen, um gegebenenfalls zu intervenieren.

Daneben sieht das mutmaßliche Opfer ganz schön alt aus. Die 37-jährige Radiomoderatorin aus Schwetzingen saß in den ersten beiden Verhandlungstagen bis nach der Verlesung der Anklage dem mutmaßlichen Täter gegenüber. Das, im Journalistenjargon, Muma-Opfer saß alleine neben seinem Anwalt, Thomas Franz, der als erfahrener Opferanwalt die junge Frau als Nebenkläger vertritt. Da sind keine Sachverständigen, die a priori auf ihrer Seite wären und eine „Mediatorin“ schon gar nicht. Dieser Frau hält in den Pausen niemand die Hand.

Das Ungleichgewicht der Waffen wird also im Verhandlungssaal sehr anschaulich, vermutlich auch für die fünf Richter; eine von ihnen ist eine Richterin, zwei sind Laienrichter. Der Gegenspieler der Verteidigung ist als Vertreter der Anklage der ermittelnde Staatsanwalt, Lars-Torben Oltrogge. Der ernst und entschlossen wirkende Mittdreißiger ist weiterhin uneingeschränkt überzeugt von der Schuld des Angeklagten.

In dem beschlagnahmten E-Mail-Verkehr fand man 1.400 E-Mails zwischen der Ex-Freundin und Kachelmann allein in den letzten drei Jahren. An manchen Tagen gingen sogar zehn E-Mails hin und her. Diese E-Mails sind oft erotischer Natur, jedoch auch durchzogen von Zukunftsplänen. Heute wissen wir, dass der auf allen Ebenen Vielbeschäftigte so weit ging, seinen diversen Geliebten häufig die gleichen Kosenamen zu geben, wie „Lausemädchen“ (was vermutlich Sammelmails erlaubte) und einigen sogar ein und dasselbe Haus im Schwarzwald als zukünftigen Hort des gemeinsamen Glücks zu präsentieren.

Wir JournalistInnen kennen bisher die Wahrheit nicht – bis auf zwei Journalistinnen. Die sitzen immer ganz dicht nebeneinander in der ersten Reihe und haben öfter auch mal was zu kichern: Sabine Rückert von der Zeit sowie die schon lange einschlägig bekannte Gisela Friedrichsen vom Spiegel. Einschlägig in dem Sinne, dass männliche Täter bei ihr mit Vorliebe unschuldig sind oder zumindest sehr zu bedauern – und weibliche Opfer ignoriert werden oder auch schon mal diffamiert.

Und Sabine Rückert? Die schrieb bereits im Juni, also Monate vor Prozessbeginn, in der Zeit unter dem Titel „Schuldig auf Verdacht“ gleich ein ganzes küchenpsychologisches Dossier über die eindeutige Unschuld des Angeklagten und forderte glatt die Einstellung des Verfahrens. Denn es bestehe der massive Verdacht, dass hier die „Huldigung einer Blindverliebten“ umgeschlagen sei in „Vernichtungswünsche gegen den Verräter“. Kurzum: Die Ex-Freundin wolle sich nur rächen an dem armen Kachelmann.

Bereits am 2. August hatte Hans Leyendecker in der Süddeutschen Zeitung enthüllt, dass Rückert dem Kachelmann-Verteidiger Birkenstock via E-Mail folgendes Angebot gemacht hatte: „Wir können nur zusammenkommen, wenn Ihre Verteidigung in einem angedeuteten Sinne professionalisiert wird, dazu sollten Sie sich überlegen, einen Kollegen einzubinden, der dieser Art Verfahren auch gewachsen ist.“

Wer nun glaubte, für die liberale Zeit sei es eine professionelle Selbstverständlichkeit, eine Berichterstatterin, die noch vor dem Prozess  gemeinsame Sache mit dem Verteidiger des Angeklagten macht, von dem Fall zu suspendieren, sah sich getäuscht. Am 13. September lud die von tieferen Erkenntnissen offensichtlich wenig belastete Hobbypsychologin Rückert auf ZeitOnline nach. Sie erklärte kurzerhand die gesamte „Zunft der Traumatologen“ – also der WissenschaftlerInnen, die die Folgen der Traumatisierung von Opfern erforschen – zu einer „Glaubensgemeinschaft“. Die Traumatologie ist seit 1980 eine international anerkannte Wissenschaft. Und ohne ihre Erkenntnisse – gewonnen bei Holocaust-Opfern, Kriegsveteranen und Opfern sexueller Gewalt – hätten die verstummten Opfer bis heute keine Stimme.

Doch es zeichnete sich schon länger ab, dass ausgerechnet die Gerichtsreporterinnen der zwei als fortschrittlich geltenden Wochenblätter Zeit und Spiegel, sich bedingungslos in den Dienst der traditionellen Psychiatrie und deren Abwehrkampf gegen die neuere Disziplin der Traumatologie stellen. Im Fall Kachelmann gipfelt das in einem wahrhaft vernichtenden Angriff auf den Traumatologen Prof. Günter Seidler von der Universität Heidelberg durch den Psychiater Prof. Hans-Ludwig Kröber von der Berliner Charité, der vom Gericht für ein Gutachten über die Gutachter bestellt wurde.

Der international renommierte Seidler hatte nicht nur eine Expertise für das Gericht über das mutmaßliche Opfer erstellt, er ist seit Anfang März auch der Therapeut der jungen Frau. Die erzählte nun dem Gutachter der Gutachter ohne Arg, sie sei heute ganz sicher nicht mehr am Leben ohne die Hilfe von Seidler. Was Kröber spöttisch mit den Worten kommentierte, es sei „sehr gefühlvoll und mit einem schwärmerischen Strahlen vorgetragen“ worden. Denn das mutmaßliche Opfer war tatsächlich bereit, sich zum dritten Mal – und immer freiwillig! – begutachten zu lassen. Zwei Tage lang stand die Radiomoderatorin Kröber über viereinhalb Stunden uneingeschränkt Rede und Antwort. Mit dem mutmaßlichen Täter allerdings redete auch Kröber nicht. Der schweigt bekanntlich beharrlich.

Das Gutachten über die Gutachten des Berliner Psychiaters geriet schließlich über 58 Seiten zu einem Traktat: zur vernichtenden Abrechnung mit der von ihm offensichtlich verachteten Traumatologie. Dem behandelnden Therapeuten Seidler wirft er „Kritiklosigkeit“ und „Selbstverleugnung“ gegenüber der Patientin vor. Doch in Bezug auf die Kernfrage geht die Sache aus wie das Hornberger Schießen. Kröbers letzter Satz lautet: „Die Glaubhaftigkeit der Aussage war nicht Gegenstand dieses Gutachtens.“

Das Gericht hat nun acht (Ex?-)Freundinnen von Kachelmann als Zeuginnen geladen. Die werden nicht nur ein Bild von Kachelmanns Persönlichkeit zeichnen, sondern vielleicht auch Faktisches zu berichten haben, was mit der Aussage des mutmaßlichen Opfers übereinstimmen könnte. Kachelmanns Verteidiger hat versucht, die Aussage dieser Freundinnen zu verhindern. Argument: Sie hätten nichts mit der fraglichen Nacht zu tun und könnten nur über das „Privatleben“ seines Mandanten berichten. Das ist richtig. Doch er scheint zu vergessen, dass auch die Tat – so sie denn so passiert ist, wie die Ex-Freundin behauptet – im Privatleben stattgefunden hat.

Es ist in diesem so quälenden Prozess nicht nur für das mutmaßliche Opfer bzw. den mutmaßlichen Täter zu hoffen, dass das Gericht die Wahrheit herausfinden kann. Ein Freispruch „Im Zweifel für den Angeklagten“ wäre fatal für beide: für Kachelmann, weil der Verdacht lebenslang über ihm schweben würde – und für die im Internet seit Monaten als Freiwild verleumdete und gehetzte Ex-Freundin, weil sie noch nicht einmal Genugtuung erhielte.

Doch im Fall Kachelmann steht inzwischen noch viel mehr auf dem Spiel. Längst ist der Prozess zum Paradefall für die öffentliche Debatte über das Problem der sexuellen Gewalt in Beziehungen eskaliert. Wenn wir bedenken, dass heute jeder zweite Vergewaltiger der eigene Ehemann oder Freund bzw. Ex-Mann ist, dann ahnen wir, welche Brisanz in diesem Prozess steckt.

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