Suminas Geschichte

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Sumina Balami sucht nach den Signalen der Liebe. Verbirgt sie sich in den Blicken, die der Filmheld einer schönen Frau zuwirft? Klingt die Liebe wie die Sitarmelodien, zu denen Tänzerinnen in safrangelben Saris über die Kinoleinwand wirbeln? Sumina fragt sich, ob es eine Geheimsprache gibt, die sie nicht zu entschlüsseln vermag, weil die Liebe eine wie sie nicht findet.

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Das Licht geht an. Zwei Plätze weiter, ganz außen in der Reihe, sitzt Prakasch. Er ist 16 Jahre alt, ein Jahr älter als Sumina; auf seinem T-Shirt steht „Rocker“. Zu Beginn des Films hatte er neben Sumina gesessen. Doch noch während des Vorspanns war er von ihr weggerückt. Vielleicht ist die Liebe nur eine Erfindung, sagt Sumina sich, um Reisbäuerinnen wie mich in Bollywood-Filme zu locken.

Auf der Ladefläche eines Lastwagens fahren Prakasch und Sumina zurück ins Dorf, lassen die Betonbauten Kathmandus, die Händler, die Abgase und den Lärm der nepalesischen Hauptstadt hinter sich. Auf schlammigen Serpentinen kämpft sich der Wagen aus dem Tal hinaus in einen Wald aus Bambus, Zedern und Bananenstauden, überholt Wasserbüffel und barfüßige Kinder, taucht in ein Bergland, über dem Nebelschwaden hängen. Nach einer Stunde Fahrt eine Ansammlung Lehmhütten mit Strohdächern. Wie Schwalbennester sitzen sie zwischen den Reisterrassen im Hang. Hibiskus säumt steile Trampelpfade. Vor den Häusern schlafen Kühe; Hunde wühlen im Müll.

Kagati heißt die Siedlung. 85 Prozent aller Nepalesen leben in Dörfern wie diesem.

Am Ortsrand ein kleiner Tempel, Saraswati geweiht, der hinduistischen Göttin der Weisheit. Hier haben Sumina und Prakasch Balami im März 2007 „den Knoten geknüpft“ – so nennt man in Kagati das Heiraten. Vor dem versammelten Dorf hatte Prakasch im Schein flackernder Butterlampen „Sindur“, geweihte rote Farbe, auf Suminas Scheitel getupft. Sie hatte das Mantra der Braut gesprochen. Dann hatten die Männer das weinende Mädchen zum Haus der Schwiegereltern getragen.

„Sprich mit ihr!“, befahl der Vater seinem Sohn, nachdem Sumina eingezogen war. Aber Prakasch vergrub sich in seine Schulbücher. Sprach zu Sumina – aber nur in Befehlen: „Hol die Fernbedienung! … Geh arbeiten!“

Sie redete. Prakasch schwieg.

Wenn der Vater betrunken war, brüllte er seinen Sohn an: „Warum schläfst du nicht mit deiner Frau? Ist sie dir nicht gut genug? Ich will einen Enkel sehen, bevor ich sterbe!“

Anfangs ließ Prakasch seine jüngere Schwester wie eine Schutzmauer zwischen sich und Sumina im Ehebett liegen. Er hatte Angst. Woher sollte er wissen, wie man mit einem Mädchen schläft? Wie sollte er die Verantwortung für ein Kind übernehmen? Wenn die Schwester nicht zwischen ihnen liegen wollte, wurde Prakasch wütend. Und Sumina, zusammengerollt auf ihrer Betthälfte, weinte lauter als ihre kleine Schwägerin.

Eines Abends, der Vater war wieder betrunken, verprügelte er seinen Sohn. Zumindest in einer Hinsicht vermochte er Prakaschs Willen endlich zu brechen: Sumina ist im sechsten Monat schwanger, weniger als ein Jahr nach ihrer ersten Regel. Doch mit seiner Frau reden will Prakasch immer noch nicht.

Die Liebe ist wie ein Wassertopf, der erst nach der Hochzeit zu kochen beginnt – dies Sprichwort gebrauchen die Leute im Dorf, wenn sie Kinder wie Prakasch und Sumina miteinander verheiraten. Und Chakraman wartet, seit 14 Jahren schon, aber da will nichts brodeln in seiner Ehe.

Er hat eine kleine Tochter und einen Sohn. Doch wenn er deren Mutter Radikha, seine Frau, sieht, verspüre er nichts, sagt er. Nicht einmal Verliebtheit – oder das, was er sich darunter vorstellt. Wenn der 29-jährige Dorfschullehrer seinen Cousin Prakasch und dessen Frau Sumina besucht, ist es, als schaue er in einen Spiegel: verschattete Gesichter, hängende Schultern. Ein junges Unglück, seinem eigenen so ähnlich. Ohnmacht überkomme ihn dann, erzählt er, er fühle Zorn gegen den Onkel, der nicht mit sich reden ließ, als es um Prakaschs Zukunft ging, Wut auf die Tante, die den ganzen Tag über an Zigarettenstummeln saugt und sich von ihrer Schwiegertochter bedienen lässt.

Chakraman und seine Frau wurden einander schon als Babys versprochen. Ihre Eltern waren Nachbarn, wie jene von Prakasch und Sumina. Als Jugendlicher drohte Chakraman damit, sich umzubringen, sollten seine Eltern ihre Heiratspläne in die Tat umsetzen. Er wollte nach Kathmandu ziehen und studieren, statt gehorsam das Mädchen von nebenan zu ehelichen. Die Eltern kauften ihm ein Paar Jeans und ein Hemd. Chakraman verbrannte beides, er wollte keine Bestechungsgeschenke. Dann wurde der Vater krank. Auf dem Sterbebett flehte er den Sohn an, ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Der Vater weinte. Chakraman auch. Dann gab er nach. Er war 15 Jahre alt.

Radikha, seine Braut, konnte weder lesen noch schreiben, geschweige denn rechnen. Als sie einzog, behielt Chakraman die Schlüssel für die Haushaltskasse in der Hosentasche. Dann meldete er Radikha in der Schule an. Doch seine Mutter schimpfte, dass die Schwiegertochter das Feld vernachlässige.

Abends, nach der Arbeit, verweigerte sich Radikhas Kopf. Die Buchstaben, die Chakraman ihr auf Zettel kritzelte, wollten keine Wörter ergeben. Sie lachte müde und sagte, das sei nichts für eine wie sie. Und er hatte Mitleid, begann, seiner Frau nach der Schule auf dem Feld zu helfen, fühlte Verantwortung für sie und seine Familie, wenigstens das. Den Gedanken an Trennung lässt Chakraman auch nach 14 glücklosen Jahren nicht zu.

„Du wirst sehen, unsere Traditionen werden verschwinden. Alles wird anders!“, sagte Chakraman eines Tages.

„Alles?“, fragte Radikha ungläubig. „Das, was gut ist, darf doch nicht verschwinden!“

„Von nun an entscheiden wir, was gut ist!“, sagte er mit fester Stimme.

Es ist sieben Jahren her, dass Chakraman den Entschluss fasste, den Bann zu brechen und gegen die Eltern aufzubegehren, die das Schicksal ihrer Kinder bestimmten, als wären sie Götter. Er hatte Freunde, alle ebenfalls Opfer von Zwangsheiraten. Sie versammelten sich und zogen durch das 600-Seelen-Dorf. Sie riefen Parolen, schwenkten Plakate: Hochzeit erst ab 21! Stoppt Kinderarbeit! Schule für alle!

Die Alten hockten am Straßenrand, als wären sie Häuser mit vernagelten Fenstern und Türen. Die Jungen drohten mit der Polizei, falls das Dorf sich nicht dem Gesetz beugen wollte, das Kinderhochzeiten verbietet. Sie gründeten einen Verein und wählten Chakraman zu ihrem Präsidenten. In der Vereinssatzung hielten sie fest: „Wir glauben an die Würde des Menschen, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Jeder hat das Recht auf freien Willen und ein besseres Leben in Freiheit.“

Am schlimmsten sei die Eifersucht, sagt Sumina. Prakasch darf zur Schule gehen, sie nicht. Vor der Hochzeit habe der Schwiegervater ihr versprochen, dass auch sie den Vormittagsunterricht besuchen dürfe. Als sie ihn an die Abmachung erinnerte, lachte das Familienoberhaupt nur und belehrte sie mit dem Satz: „Deine Schule ist der Stall!“ Sumina war empört; doch es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass sie versuchte, sich der Tradition zu widersetzen.

Im Hang hinter dem Dorf haben Radikha und die anderen Frauen Sumina beigebracht, das Feld ihrer neuen Familie zu bestellen. Verwöhnt war sie, sagt Sumina, und schlecht vorbereitet. Ihre Mutter hatte sie nur gelehrt, wie man Reis mit Linsen kocht. Sie konnte weder mit der Sense umgehen noch Kuhdung trocknen, hatte nie gelernt, wie man Messer wetzt, Affen verjagt und Vieh antreibt. Nun sind ihre Hände voller Schwielen, und darauf ist sie stolz. Sie hat auch keine Angst mehr, nachts allein im Stall zu schlafen. Lieber spart sie sich den einstündigen Weg durch Nebel und Dunkelheit zurück ins Dorf.

Sie ist inzwischen gern allein hier oben, im einsamen Außenposten der Schwiegerfamilie. Sie fühlt sich verantwortlich für das Stück Land, auch wenn es ihr nicht gehört. Hier hat sie feste Aufgaben: Gras mähen, Ziegen, Büffel, Hühner füttern. Hier vergisst Sumina die Enge im düsteren Haus, die Tobsuchtsanfälle des Schwiegervaters, der sich Schnaps in den Hals schüttet und dem niemand, niemand, Grenzen setzt. Sie vergisst auch Prakaschs Wortlosigkeit.

Sumina hat eingesehen, dass eine Frau nur dann gut ist, wenn sie vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang arbeitet – auch wenn sie im sechsten Monat schwanger ist. Manchmal fragt sie sich, wie sie das Feld bestellen soll, wenn erst das Kind da sein wird. Dann macht ihr der Bauch Angst, der so gefährlich angeschwollen ist. Er erinnert sie daran, wie die 16-jährige Surita vor Kurzem beim Unkrautjäten in einer roten Lache zusammengesackt ist und eine Fehlgeburt erlitt. Auch, dass die 19-jährige Nachbarin Ashmita nach der Geburt ihres Babys einfach weggestorben war. Niemand weiß warum, einen Arzt gibt es nicht im Dorf.

Sumina hofft, dass das Kind ein Junge ist. Sie müsse den Schwiegervater zufriedenstellen, sagt sie. Ein Sohn wird auch Prakasch zum Reden bringen.

Im Dorf herrsche Streit, sagt Chakraman. Weil jede zweite Ehe scheitere. Und weil mit jeder Trennung immer auch die freundschaftlichen Bande zweier Sippen zerreißen.

Arrangierte Ehen, die in Trümmern liegen, sind für die Familien in Kagati der Ruin, erklärt der junge Lehrer. Allein die Mitgift einer Tochter beträgt mindestens einen prächtigen Büffel und eine wohlgenährte Ziege, zählt er auf. Zudem bringen die Bräute meist neue Möbel, Küchenutensilien, neuerdings sogar teure Fernsehgeräte mit ins Haus der Schwiegereltern. Hinzu kommen Geschenke, mit denen sich die Familien über Jahre hinweg gegenseitigen Respekt erweisen. Nicht zu vergessen die feierliche Verköstigung des gesamten Dorfes. Schnell überschreiten die Kosten für eine Hochzeit umgerechnet 1.000 Euro – eine Unsumme in einem Land, in dem ein Jahreseinkommen selten über 200 Euro liegt. Die Kredite, die Eltern für die Hochzeit aufnehmen, zahlen viele ein Leben lang ab.

„Mitgiftjäger!“, schimpfen die Brauteltern, wenn nach Jahren der Drangsal wieder eine Ehe gescheitert ist.

„Eure Tochter ist eine Hure!“, poltern die Eltern des Bräutigams.

Niemand will schuld sein an den zahllosen Tragödien im Dorf. Dass die Söhne und Töchter viel zu jung sind für das Leben in einer Ehe, dass sie selbst entscheiden sollten, wann und wen sie heiraten, entzieht sich der Logik einer verknöcherten Tradition.

„Es ist wie mit dem Reis“, sagt Chakraman. Der wächst auf den Terrassen im Hang, so weit das Auge reicht. „Das war schon immer so!“, behaupten die Bauern, als müssten sie einer unausweichlichen Bestimmung folgen. Und darum wollen sie Neues wie Kartoffeln, Kohl, Tomaten oder Spinat nicht anbauen, obwohl sie mit Gemüse mehr verdienen könnten als mit gewöhnlichem Reis. „Verrückt!“, sagt Chakraman, „unsere Felder sind fruchtbar, nur die Köpfe der Bauern sind vertrocknet.“

„Der Mann ist der Guru der Frau“, wiederholen jene Bauern auch, als sei dies ein universelles Gesetz. „Der Mann reinigt das Weib von all seinen Sünden. Es hat sich dem Mann zu unterwerfen, bevor die Begierde Besitz von ihm ergreift.“ Eine früh verheiratete Tochter, heißt es in Kagati seit Jahrhunderten, verhelfe der gesamten Familie zur Erleuchtung.

„Nur Bildung kann diesen Aberglauben allmählich beenden“, glaubt Chakraman. Auch deshalb ist er schließlich in Kagati geblieben und Lehrer geworden. Im Jahr 2007 hat seine Schule, ein Rohbau mit Wellblechdach, zum ersten Mal eine zehnte Klasse bekommen. Die beiden Mädchen darin sind Chakramans größter Stolz.

"Braut wider Willen", Geo, Februar 2008

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