Genau hinsehen: Go west, young woman!

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Sie hat mit 35,7-prozentiger Wahrscheinlichkeit Abitur, für ihre Ausbildung verlässt rund ein Viertel von ihnen, je nach Bundesland, ihre Heimat, es steht fifty-fifty, dass ihre 1,4 Kinder (die sie durchschnittlich fünf Jahre später als noch vor 20 Jahren bekommt) bereits nach zwölf Monaten in der Krippe sind und nur 17 Prozent von ihnen sind arbeitslos gemeldet: Marlies Musterfrau aus Ostdeutschland.

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Über Nutzen und Unfug von Statistiken wird viel gelästert, viel häufiger aber noch werden ihre jeweils genehmen Ergebnisse für die eigenen tagespolitischen oder ideologischen Bedürfnisse vereinnahmt. Die Zweidrittelfrau mit ihren Vierfünftelwünschen aus dem Osten ist dabei eine der neuesten Entdeckungen in Umfragen, „alarmierenden Studien“ und volkswirtschaftlichen Gesundungsfantasien.

Wer ist diese „junge Ostfrau“ und was will sie? Warum ist sie so häufig außerhalb der neuen Bundesländer anzutreffen? Worin unterscheidet sie sich von ihren westdeutschen Geschlechtsgenossinnen, vor allem aber: Lassen sich 20 Jahre nach dem Fall der Mauer wirklich noch prinzipiell unterschiedliche Verhaltensmuster und Lebenserwartungen feststellen? Die Antwort lautet: Ja.

Eine Vielzahl jüngerer Studien zeichnet ein genaues Bild der Ostfrau, der großen Abwesenden. Denn als solche taucht sie vor allem in den Berichten über die weibliche Verödung ganzer ostdeutscher Landstriche auf. Die Studie „Frauen ­machen Neue Länder – erfolgreich in Ostdeutschland“ widmet sich jedoch ganz bewusst den positiven Bedingungen für weibliche Lebens- und Arbeitswege im Osten, die in der Rede vom weiblichen „brain drain“ Ostdeutschlands allzu rasch vernachlässigt werden. Die AutorInnen Susanne Dähner und Daniel Erler, die diese Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erstellt haben, stellen fest, dass die ostdeutsche Frau ihr Leben sehr viel selbstbestimmter angeht als ihr westdeutsches Pendant: sei es im Bildungsbereich, am Arbeitsmarkt oder bei der Balance zwischen Beruf und Familie.

Zwar wurden nach der Wende Frauenjobs im Osten überdurchschnittlich häufig abgewickelt, aber die Ostfrauen kamen von einem hohen Niveau, nämlich von einer Erwerbsquote von 92 Prozent im Jahr 1989. Auch im vereinigten Deutschland hält sich der weibliche Anteil am ­Arbeitsmarkt im Osten immerhin bei 70 Prozent plus. Die Anzahl westdeutscher Frauen, die einer Erwerbsarbeit ­nach­gehen, nähert sich nur langsam dem ­ostdeutschen Schnitt: Sie stieg von 57 Prozent (1991) auf 67 Prozent (2008).

Besonders auffällig im direkten Vergleich zwischen ost- und westdeutschen Frauenerwerbsquoten ist der Einbruch, der bei den westdeutschen Zahlen im Falle der Mutterschaft eintritt: Jede zweite Mutter mit Kindern unter drei Jahren bleibt im Westen zu Hause, in Ostdeutschland ist es hingegen nur jede dritte. Erreichen die Kinder das Kindergartenalter, hütet im Osten gerade einmal jede Zwölfte das Haus, im Westen weiterhin jede Dritte. Spätestens mit dem Schuleintritt ihrer Kinder sind ostdeutsche Frauen wieder Vollzeit beschäftigt, während sich West-Mütter immer noch mehrheitlich für ein Teilzeitarbeitsmodell entscheiden. Den ostdeutschen Frauen scheint die klassisch-männliche Versorgerehe auch 20 Jahre nach dem Ende der DDR schlicht fremd.

Für einen schlechter bezahlten und wenig zukunftsträchtigen Teilzeitjob hat sich jede zweite ostdeutsche Teilzeit-­Arbeiterin, ob mit oder ohne Kinder, nur unfreiwillig entschieden, nämlich dann, wenn sie nichts anderes gefunden hat. Zwei von drei ihrer westdeutschen Schwestern geben indes „familiäre Gründe“ für ihr Teilzeitmodell an.

Bei ihrer Entscheidung für einen Ganztagsjob kann die statistisch durchschnittliche Ostfrau allerdings auf ein sehr gut ausgebautes Netz an Kinderbetreuungsmöglichkeiten zurückgreifen. Zwar ist die so genannte Betreuungsquote der drei- bis fünfjährigen Kinder gesamtdeutsch betrachtet hoch (Ost: 94 Prozent, West: 88 Prozent), aber: während in den alten Bundesländern nur 17 Prozent der Kinder ganztags betreut werden, sind es im Osten immerhin 60 Prozent.

Zu diesen Zahlen scheinen Umfragen zu passen, die die Allmendinger-Studie der Zeitschrift Brigitte ermittelte. Nämlich, dass die 17- bis 29-Jährigen in Ostdeutschland mehrheitlich Kinder und Beruf ­wollen. Die Werte erreichen hier fast real-­sozialistische Ausmaße: 86 Prozent der Ostfrauen in dieser Altersklasse wollen Kinder (West: 81 Prozent), 89 Prozent ist die berufliche Verwirklichung ein Anliegen (West: 78) und im Gegensatz zu den ­Frauen in den alten Bundesländern halten die Frauen in den neuen Bundesländern beides auch noch für kombinierbar.

Das westdeutsche „Entweder-Oder“ von Familie und Beruf ist, so das Statistische Bundesamt, allerdings keine rein weibliche Befindlichkeit: 40 Prozent aller westdeutschen Frauen und Männer bejahten die Aussage, dass es besser wäre, wenn Frauen bei Kind und Küche verblieben, während der Mann sich Vollzeit verdingt; hingegen fand dieses traditionelle Fami­lienbild nur bei 17 Prozent der Ostdeutschen Anklang. Genauso zählebig erweist sich die „Rabenmutter“-Rhetorik, der im Westen immer noch 60 Prozent zustimmen. Dass ein Kleinkind tatsächlich unter der Berufstätigkeit der Mutter leidet, glauben im Osten aber nur 29 Prozent.

Die sehr viel raschere Rückkehr der ostdeutschen Frauen ins Berufsleben schlägt sich natürlich auch in einem ausgeglicheneren Lohnverhältnis Frau-Mann nieder. Durchschnittlich verdienen Ostfrauen 94 Prozent von dem, was Männer für ihre Arbeit bekommen, im Westen müssen sich die Frauen mit 76 Prozent des männlichen Einkommens begnügen.

Dass ostdeutsche Frauen sich mehr ­zutrauen und ihnen mehr zugetraut wird, lässt sich auch an der weiblichen Präsenz in den Führungspositionen öffentlicher und privater Betriebe ablesen: 30 Prozent beträgt der Frauenanteil auf der ersten, 44 Prozent auf der zweiten leitenden Ebene im Osten. Zwar ist hier kaum die Rede von börsen­notierten, international agierenden Firmen, sondern von einer kleinteiligen und regionalen Wirtschafts-struktur. Glaubt man aber den Befragungsergebnissen der Wirtschaftskrisenstudie 2009 der Initiative „Frauen machen neue Länder“ sind es genau diese Wirtschaftstrukturen, die Frauen eine Karriere leichter machen – auch ohne gezielte Frauenförderung. Was Crux und Chance zugleich ist: Es macht für strukturelle Geschlechterungerechtig-keiten blind, ermöglicht aber gleichzeitig eine fraglosere Akzeptanz von Frauen in der Chefetage.

Besser entlohnt, besser im Arbeitsmarkt integriert, besser auf die Kind-und-Karriere-Kombination vorbereitet – Frauen-Musterland Ost also? Nicht ganz, denn der Vorsprung in der geschlechtergerechteren Sozialisation wird nicht nur durch die höhere Arbeitslosenquote Ost, sondern auch durch die Selbstwahrnehmung der Ostfrauen zurechtgestutzt: Die bundesrepublikanische Zufriedenheit sinkt, die Ostalgie steigt! So etwa wurde der ­Sozialreport 2008 des Sozialverbandes „Volkssolidarität“ über Stimmungen, Werte und Hoffnungen der Ostdeutschen in den Medien zusammengefasst. Und gerade Frauen betrachten sich als die „Verlierer der Wende“ und formulieren ihre Angst vor dem sozialen Abseits.

Die Mehrheit der Ost-Frauen, nämlich 61 Prozent, wurde nach der Wende erst mal arbeitslos; fast die Hälfte, nämlich 44 Prozent, lernte die Unsicherheit prekärer, schlecht entlohnter Arbeitsverhältnisse ken­nen. Aber: Ostdeutsche Unzufriedenheit, das weist die Studie klar aus, ist nicht so sehr eine Frage des Geschlechts, sondern vor allem eine des Alters, des Bildungsstandes und des eigenen Wohlstands.

Als uneingeschränkte Wendegewinner empfinden sich nämlich mehrheitlich die jungen Männer und Frauen der Nachwende- und doch Noch-Ost-Generation, auch wenn für viele von ihnen, insbesondere den jungen Frauen, der große Gewinn in der „Reisefreiheit“ gen Westen zu bestehen scheint. Denn keine Altersgruppe kehrt der ostdeutschen Heimat so oft den Rücken wie die 18- bis 25-jährigen Frauen.

„Ich erwarte mehr vom Leben“ betitelte Anne Biernat ihre Studie zu den Abwan­derungsmotiven ostdeutscher Frauen. Wie die Thüringer Soziologin herausfand, lassen sich die jungen Frauen bei ihrem Aufbruch selten von privaten Motiven leiten. Mehrheitlich treibt sie die Hoffnung auf eine ­bessere Bezahlung (denn die ist trotz ­geschlechtergerechterer Verteilung für alle niedriger als im Westen), einen sicheren ­Arbeitsplatz und größere berufliche Chancen. Einmal fortgezogen, kehren die jungen Frauen selten in den Osten zurück, weil sie hier für ihre Qualifizierung keine entsprechende Anerkennung finden – weder auf dem Arbeits- noch auf dem Singlemarkt.

Allerdings wird in der Darstellung der Frauenflucht gerne übersehen, dass diese Binnenmigration keiner spezifisch ostdeutschen Logik folgt, sondern vielmehr der allgemeinen, auch westdeutschen, Landflucht entspricht. Das heißt: Die junge Frau, die Ducherow in Ostvorpommern den Rücken kehrt, will vor allem in die Stadt, West oder Ost. Greifswald, Magdeburg, Dresden und Leipzig etwa gehören zu den zehn deutschen Kreisen mit den höchsten Zuzugsraten von Frauen. Und zwar von Frauen aus Ost wie West!

Allerdings: Wenn die potenziellen Studentinnen oder Azubis an ostdeutschen Unis, Fachhochschulen oder Ausbildungsplätzen nicht die Fächer oder Lehrstellen finden, die ihren „Neigungen“ entsprechen, suchen sie im Westen weiter. Drei Viertel der 18- bis 25-jährigen ostdeutschen Frauen geht weiterhin nach Westen, doch immerhin ein Viertel wandert in ein anderes ostdeutsches Bundesland ab. Und inzwischen tritt eine nicht unbeträchtliche Zahl westdeutscher Frauen den Weg gegen den Strom, gen Osten an. Immer noch aber sind es nicht genug (5% der 22-Jährigen), um den Weggang der Ostfrauen auszugleichen (7%).

Die Zahlen zeigen, dass Mobilität also kein grundsätzlich ostdeutsches Phänomen der Verzweiflung, sondern vielmehr ein Ausdruck weiblicher Bereitschaft ist, für die eigene Qualifikation weite Wege in Kauf zu nehmen. Die Jungs unter den „Bildungsmigranten“ ziehen da erst allmählich nach.

Dies ist die gute Nachricht: dass junge Frauen besonders flexibel und motiviert sind, was ihren Beruf angeht. Egal, ob sie im Osten oder im Westen geboren sind.

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