Krimiliteratur: Leben für die Gerechtigkeit

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Natürlich ist Mikael Blomkvist – Spitzname: Kalle – das alter ego seines Erfinders Stieg Larsson. Blomkvist ist Journalist, etwas eigenbrötlerischer Workaholic und Herausgeber eines kleinen, aber im Aufdecken politischer Skandale äußerst effektiven Magazins namens Millenium. Larsson war Journalist, extrem eigenbrötlerischer Workaholic und Herausgeber eines kleinen, aber im Aufdecken politischer Skandale äußerst effektiven Magazins namens Expo. Kleiner Unterschied: Der fiktive Blomkvist sieht toll aus, der reale Larsson, nun ja, geht so. Und dabei hätte es der Krimiautor eigentlich belassen können: Eine hübschere und charmantere Ausgabe seiner selbst hetzt als investigativer Held durch Schweden und klärt Verbrechen auf. Hat er aber nicht. Stattdessen hat Stieg Larsson seinem Helden eine Heldin zur Seite gestellt, die seinem Blomkvist die Show und ihren LeserInnen das Herz stiehlt: Lisbeth Salander.

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Wir haben seit Miss Marple eine Vielfalt an Krimiheldinnen gesehen. Aber selbst Elisabeth Georges kastenförmige Sergeant Barbara Havers oder Doris Gerckes bollerige Wodkafreundin Bella Block sind Waisenkinder gegen Lisbeth. Larsson mutet uns das sprödeste, kantigste und vielleicht auch klügste weibliche Wesen zu, das die Krimiliteratur je gesehen hat. Nicht mal schön muss sie sein. Die Frau mit dem schmalen Kinderkörper und dem Wespentatoo am Hals ist eine geniale Weltklasse-Hackerin, und als solche begegnet sie im ersten Teil der Trilogie Blomkvist, der sie prompt als den „unsozialsten Menschen, den er jemals getroffen hat“ kennen und mögen lernt.

Im Laufe der drei dicken Larsson-Bände wird sich herausstellen, dass Salander ihre Gründe hat – für ihren Hass, ihre Angst, sich auf Menschen einzulassen, aber auch für ihren tiefen Gerechtigkeitssinn. „Lisbeth Salander hasst Männer, die Frauen hassen“, erklärt Mikael Blomkvist stets die Renitenz seiner Co-Heldin. Und genau so lautet im schwedischen Original auch der Titel des ersten Bandes: „Männer, die Frauen hassen“. Denn es gibt noch eine weitere Parallele zwischen Blomkvist und Larsson. Sie gehören beide derselben Spezies an, die sich in letzter Zeit in Literatur oder Film immer öfter zu Wort meldet: der sympathischen Spezies des skandinavischen Feministen.

Mankells „Fünfte Frau“, Vinterbergs „Das Fest“; Anderssens „Princess“; Moodyssons „Lilja4ever“; Indridasons „Todeshauch“ – und jetzt die Larsson-Trilogie, die in einem hochkomplexen Plot mit „erzählerischer Virtuosität“ (Spiegel) all diese Themen vereint und dabei ganz ohne Wallander’schen Weltschmerz auskommt. „Verblendung“, „Verdammnis“ und „Vergebung“ brechen gerade alle Rekorde. In Schweden war Band 1 das aktuell meistverkaufte Buch, in Deutschland verkauften sich die ersten zwei Bände quasi nur durch Mund-zu-Mund-Propaganda 350.000 Mal, inzwischen haben 30 Länder die Rechte erworben, und gerade werden die Bücher in Schweden verfilmt.

Stieg Larsson, offenbar nicht von Selbstzweifeln geplagt, war sich sicher gewesen, dass seine Romane ein Knaller werden würden. „Ach, diese ganzen Geldanlagen taugen doch nichts“, erklärte der chronisch Blanke eines Tages einem Kollegen. „Ich werde einfach Krimis schreiben und damit zum Multimillionär werden.“ Da ahnte noch niemand, dass der Krimifan neben seinem Job als Info-Grafiker bei der Nachrichtenagentur TT und seinem Fulltime-Job Nummer zwei, der Herausgabe von Expo, nachts ketterauchend sein Duo Blomkvist-Salander durch die Welt schickte. An einen Verlag sandte er das Ergebnis erst, als er bereits drei Bände fertig hatte, weil er „nicht wollte, dass mir jemand reinredet“. Das lag Svante Weyler fern. Der Leiter des Norstedt-Verlages kaufte nach Lektüre alle drei Bücher des Debütanten vom Fleck weg und erklärte: „Davon können Sie ab jetzt leben.“ Das Manuskript machte unter Verlagsangestellten die Runde, die morgens nach durchlesenen Nächten mit tiefen Augenringen zur Arbeit erschienen.

Stieg Larsson weiß um Gewalt, Demütigung und den Wunsch nach Rache. Seine Eltern waren arm und gaben den 1957 geborenen Sohn zu den Großeltern, wo er in den Wäldern von Norsjö aufwuchs. Das Trauma von Großvater Severin prägte den Enkel: 1941 war der Antifaschist in ein Arbeitslager verschleppt worden. Nach seiner Entlassung war die Existenz des Metallarbeiters, der fortan nur noch Hilfsjobs bekam, ruiniert. Der erwachsene Larsson wurde Experte für Rechtsradikalismus in Schweden. Er beriet Scotland Yard und ließ sich auch von Morddrohungen der Neonazis und einem Anschlag auf die Expo-Druckerei nicht von seinen Enthüllungsstories abhalten. „Stieg Larssons Leben war ein einziger Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung in all ihren Erscheinungsformen, ganz besonders die Diskriminierung von Frauen“, schreibt das schwedische Magazin Attention. Dazu hat zweifellos die Frau an seiner Seite beigetragen: Eva Gabrielsson. „In diesen Büchern ist unser Leben verarbeitet. Die Orte, die wir besucht haben, die Menschen, die wir kennen lernten, die Ergebnisse all unserer Diskussionen“, erzählt sie. Ach ja, das ist übrigens auch noch ein Unterschied zwischen Blomkvist und seinem Erfinder. Während der Romanheld als Womanizer unterwegs ist, hat sein Schöpfer seine Eva im zarten Alter von 18 kennengelernt – auf einer Anti-Vietnamdemo. Zweimal hat sie ihn verlassen, weil er 32 Jahre lang Tag und Nacht arbeitete.

Am 9. November 2004 bricht der Workaholic Stieg Larsson mit starken Bauchschmerzen an seinem Schreibtisch in der Expo-Redaktion zusammen. Schwerer Herzinfarkt. Eineinhalb Stunden später wird er im St-Görans-Krankenhaus für tot erklärt. Er hat den Erfolg von „Männer, die Frauen hassen“ nicht mehr erlebt.

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