Ehrenmord: Aylin Korkmaz ist entkommen

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Aylin Korkmaz kann nicht mehr weitersprechen. Bis zu diesem Moment hatte sie ihrem Publikum in der Mayer’schen Buchhandlung gefasst erzählt: Über ihre Narben, von denen sie zuerst dachte, sie seien nur oberflächlich. Wie sie dann spürte, dass auch ihre Seele schwer verletzt ist. Aber jetzt bricht sie in Tränen aus. Denn nun spricht sie von dem, was sie bei all dem Grauen, das ihr passiert ist, am fassungslosesten macht: das Gerichtsurteil.

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Der Mann, der im November 2007 die Tankstelle stürmte, in der Aylin arbeitete, und seine Ex-Frau darin mit 26 Messerstichen attackierte; der den geplanten Mord Wochen zuvor angekündigt hatte; der laut Polizeiprotokoll „entspannt und gelöst“ wirkte,  bis er erfuhr, dass Aylin doch noch lebte und dann vier Mal mit dem Kopf gegen die Wand schlug – er bekam keineswegs lebenslänglich.

Das Landgericht Baden-Baden befand, dass keine „niedrigen Beweggründe“ vorlagen, denn: Mehmet K., der seit 1978 in Deutschland gelebt hatte, sei „seinen türkisch-kurdischen Wurzeln noch stark verhaftet“. Aufgrund der „konfliktgeprägten Vorgeschichte der Beziehung“ habe er seine „darauf fußende Trauer, Wut, Enttäuschung und Demütigung als wesentliche Motive für seine Tat geltend machen können“. Und noch etwas halten die Richter dem Angeklagten zugute: Die Kraft seines Opfers. Zwar bleibe Aylin Korkmaz, deren Gesicht Mehmet K. ebenso gezielt zerschlitzt hatte wie ihre Brustwarzen, „dauerhaft entstellt“. Aber: „Im Hinblick auf die Vorgehensweise des Angeklagten und des entstandenen Verletzungsbildes wären deutlich schlimmere Folgen denkbar gewesen.“

Das Urteil bedeutet: 13 Jahre. Und: Ein ausländischer Täter kann nach der Hälfte der Haft in sein Heimatland abgeschoben werden, wo er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf freien Fuß gesetzt wird. „Als ich das gehört habe“, sagt Aylin Korkmaz, „war das der 27. Messerstich“.

Sie weint jetzt so sehr, dass Gülsen Celebi, die heute abend neben ihr auf dem Podium sitzt, übernimmt. Die Düsseldorfer Rechtsanwältin berichtet, wie die Polizei am Tatort bereits den Leichenwagen rufen wollte. Wie einer der Beamten zufällig sah, dass die grausam zugerichtete Frau, in der niemand mehr Leben vermutete, ihren kleinen Finger bewegte. Wie die Ärzte dann acht Stunden lang um das Leben der Patientin kämpften.

Nachdem Aylin Korkmaz den Kampf um ihr Leben gewonnen hatte, fasste sie einen Entschluss: „Ich will kein Opfer mehr sein! Diese Rolle passt nicht mehr zu mir.“ Im Oktober 2008 sitzt sie, gemeinsam mit Rahel Volz von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes, bei Beckmann. Und bei Kerner. „Ich habe nicht gewusst, welche Rechte ich habe und dass es für misshandelte Frauen Beratungsstellen gibt“, sagt sie. „Deshalb wollte ich meine Geschichte erzählen.“

Die Geschichte von Aylin Korkmaz beginnt äußerst hoffnungsvoll 1973 in der türkischen Stadt Adana. Aylins Vater trägt lange Haare und Schlaghosen und arbeitet als Dolmetscher auf einer US-Militärbasis. Als überzeugter Kemalist hält er nichts von arrangierten Ehen im Namen des Islam, seine Tochter soll studieren. Als Aylin sechs Jahre alt ist, stirbt der Vater bei einem Autounfall. Für seine Witwe bedeutet das den Rückfall in die alten Sitten.

Sie heiratet einen Mann, den ihre Eltern für sie ausgesucht haben, und erwartet dasselbe von ihrer Tochter. Die träumt von einem Jura-Studium. Doch widerwillig stimmt sie der Hochzeit mit Mehmet aus Deutschland zu, als der ihr verspricht, sie studieren zu lassen. Das Erwachen ist böse. Mehmet ist verschuldet. Nicht einmal einen Deutschkurs für Aylin kann er bezahlen. Er schlägt und vergewaltigt sie. Elf Jahre dauert das Martyrium mitten in Deutschland.

Als Mehmet sie bei einer Feier in einem Restaurant aus Eifersucht vor aller Augen zusammenschlägt, ist es endlich genug. Aylin, die inzwischen drei Kinder hat, reicht die Scheidung ein. Die Ehe wird 2002 geschieden, aber Mehmet nistet sich wieder in der Wohnung ein, Aylin lässt es zu.

Als Aylin nach einem heimlichen Kurzurlaub zurückkommt, ist Mehmet außer sich. Nachbarn rufen die Polizei, die den Randalierer aus der Wohnung wirft und ein zweiwöchiges Kontaktverbot ausspricht. Als er von den Beamten aus der Wohnung geführt wird, zischt er Aylin auf Türkisch zu: „Ich warte den richtigen Zeitpunkt ab. Dann schlage ich dir den Kopf ab.“ „Er hat mir mit dem Tod gedroht!“ übersetzt Aylin panisch den Polizisten. „Das hat er sicher nur aus Wut gesagt“, beschwichtigen die.

Nach dem unglaublichen Urteil fällt Aylin Korkmaz „in ein schwarzes Loch. Ich habe manchmal stundenlang geweint.“ Ihre Mutter Nurten sagt: „Schreib das alles auf!“ „Dann muss ich aber auch über dich schreiben, Mama“, gibt die Tochter zu bedenken. „Mach das“, sagt die Mutter. „Ich habe viele Fehler gemacht. Jetzt musst du anderen Frauen Mut machen!“

Das tut Aylin Korkmaz. Aber jeden Morgen, wenn sie im Spiegel ihre Narben überschminkt, die auch nach 30 Operationen noch immer sichtbar sind, erinnert sie sich daran, dass Mehmet K. in vier Jahren entlassen wird. Die Staatsanwaltschaft sieht „kein öffentliches Interesse“ darin, dass der Täter seine Haft absitzt. Terre des Femmes hat eine Unterschriftenaktion gestartet.

„Wie geht es heute Ihren Kindern?“ möchte eine Zuhörerin aus dem Publikum wissen. Aylin Korkmaz lächelt. „Sie sind in der Pubertät und haben jeden Tag neue Träume“, sagt sie. „Wir sind zu viert glücklich und genießen unsere Freiheit.“

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Aylin Korkmaz: Ich schrie um mein Leben (Fackelträger)

 

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