Der Jahrhundertmensch

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Heinrich Himmler war nicht unfreundlich, er lächelte, er habe sie eine Weile betrachtet, erinnert sich Lina Haag.

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Sind Sie Kommunistin?, fragte er, und Lina Haag antwortete: Ja. Aber wir Kommunisten sind nicht das Gesindel, für das man uns hält. Wir haben aus Idealismus gekämpft. Himmler wollte dann wissen, an jenem Tag im Januar 1940, ob sie denn mittlerweile eingesehen habe, dass dieser Idealismus falsch gewesen sei? Ich habe immer nur dafür gekämpft, was ich für gut und recht gehalten habe. Auch mein Mann hat nur dafür gekämpft, sagte sie.

Und jetzt?, fragte Himmler, soll ich Ihren Mann freigeben?

Sie war damals, vor knapp 68 Jahren, im Hauptquartier der Gestapo, im Büro des Reichsführers der SS, 33 Jahre alt. Heute ist Lina Haag 100 Jahre alt. Sie öffnet die Tür ihres Münchner Reihenhauses, sie grüßt flüchtig, dreht sich um, geht zurück in ihr Wohnzimmer, das vollsteht mit Büchern, in Regalen, auf Stapeln, in Kartons verpackt. Es sieht nach Einzug aus oder nach Auszug.

Lina Haag lehnt ihren Stock an das Sofa. Als er langsam auf den tiefen Teppich sinkt, grummelt sie ein paar Wörter, die nicht zu verstehen sind. Sie ist nicht gern 100 Jahre alt. Sie findet vieles anstrengend seit einiger Zeit, seit fünf oder sechs Jahren vielleicht, seit wann genau, das weiß sie nicht. Sie weiß nicht, wann es begann, dass sie Veranstaltungen mied, auf denen andere Gäste über sie denken könnten: Warum ist die Alte nicht zu Hause geblieben?

Lina Haag möchte nicht, dass jemand sie bemitleidet. Es soll niemand merken, dass sie alt geworden ist, dass ihre Beine nicht mehr richtig funktionieren, dass ihr Kopf langsamer geworden ist. Denn ihr Kopf war immer auch ihre Waffe, und durch ihren Kopf war es ihr möglich, anderen überlegen zu sein.

Nun, seit einiger Zeit, fehlen ihrem Kopf manchmal die Ideen, er hat Schwierigkeiten, Orte und Zeiten und Inhalte zuverlässig aneinanderzubinden, es fällt ihm zunehmend schwer, immer und immer weiter zu arbeiten, wie ein Motor, der immer lief, aber alt wird irgendwann, der dann stockt und spuckt, der bei Regen nicht gleich anspringt. Lina Haag unterhält sich lieber am Morgen als am Abend. Am Morgen ist ihr Kopf noch verlässlich. Da ist er noch erholt von der Nacht.

Ab 60 sehen die Menschen schlechter, sagen Wissenschaftler, ab 70 Jahren hören sie schlechter, ab 80 verlieren sie nach und nach den Rest ihrer Sinne. Was alten Menschen bleibt von der prächtigen Krone aus Nervenzellen und Verbindungen in ihrem Kopf, ist ein lichtes Geäst. Und trotzdem können sie noch immer viel. Sie sind voller Wissen darüber, wie sich das Denken verändert, das Fühlen, die Erinnerung, der Schmerz.

Hundertjährige sind die Alterselite, sie haben Seuchen, Krankheiten, persönliche Krisen, ein kriegerisches 20. Jahrhundert überstanden. Ob sie genetisch besonders stark sind, ob sie besonders anpassungsfähig sind oder welche Faktoren ihr langes Leben bestimmt haben könnten, beschäftigt Wissenschaftler, weil darin die Antworten liegen für die Zukunft des Alterns.

Lina Haag ist nicht nur Zeitzeugin, sondern auch Vorbotin für das, was immer mehr Menschen erleben werden. 10.000 Menschen leben heute schon in Deutschland, die 100 Jahre alt sind und älter. In den siebziger Jahren waren es rund 300. Inzwischen ist es so, dass einige Bürgermeister nicht mehr zu den Hundertjährigen nach Hause kommen, um ihnen zu gratulieren, sondern nur noch zu den 105-Jährigen. Die älteste Frau der Welt, eine Französin, wurde 122 Jahre alt. Sie hat jeden Tag eine Zigarette geraucht, bis sie 119 war, hat immer viel Schokolade gegessen und starb 1997.

Die Menschen leben nicht nur länger, sondern bleiben auch länger gesund. Vor 100 Jahren, als Lina Haag geboren wurde, wurden die Menschen im Durchschnitt nicht älter als 50, sie starben schon als Baby oder an Infektionen, an Hunger, im Krieg. Mittlerweile sind die meisten Menschen in den Industriestaaten gut versorgt, medizinisch vor allem; in Zukunft wird jedes zweite Mädchen aus einer Kindergartengruppe 100 Jahre alt werden, jeder zweite Junge 95.

Hundertjährige sind keine Sensation mehr. „100 wird bald jeder“, schreibt die Max-Planck-Gesellschaft. Florian Holsboer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, sagt lange schon, dass man die Entstehung alterstypischer Erkrankungen wie Demenz oder chronische Depression dringend erforschen müsse, damit die Lebensjahre, die eine älter werdende Gesellschaft hinzugewinnt, gute Jahre sind. Nur habe das lange niemanden interessiert.

Der Wissenschaftler sagt, Lina Haag sei ein gutes Beispiel, weil sie so beispielhaft gealtert sei. Sie passe sich dem Alter an. Die Herausforderung, sagt Holsboer, liege darin, mit weniger Mitteln das Gleiche zu erreichen. Mittlerweile schaffen es Holsboer und andere Alternsforscher aus den Spalten der Fachliteratur in die der Illustrierten.

Es verändert sich etwas in der Gesellschaft, wenn ein wachsender Anteil der Menschen zu den Alten zählt; sie muss ihre Balance finden und ihren Umgang mit Alter neu definieren. Sie kann Alter als Bereicherung empfinden oder als Belastung.

Als Bereicherung, wie zu den Zeiten, als Wissen nicht allseits verfügbar war und Alte als Datenbanken dienten, die anderen ihr Wissen weitergaben. Man brauchte sie dafür. Und als Belastung, weil alte Leute versorgt werden müssen und weil im Schicksal eines jeden alten Menschen das eigene Schicksal gespiegelt ist. Jetzt, da es immer mehr alte Menschen gibt, da hohes Alter sichtbar wird, lässt es sich nicht mehr verdrängen. Also wird nach Chancen gesucht, und die Wissenschaft hilft. Alter bedeutet nicht mehr nur Gebrechen, Armut und Einsamkeit; ein 90-Jähriger, sagen Forscher, fühle sich heute zehn Jahre jünger als der 90-Jährige vor 30 Jahren.

Als das Berliner Hotel Adlon 100 Hundertjährige zum 100. Geburtstag des Hotels einlud, sei sie als Einzige ohne Stock gekommen, sagt Hanna Merke.

Sie trug einen hellen Hosenanzug. Ihre Lippen waren geschminkt. Ihre Haare, die kinnlang sind und kastanienbraun, die aussehen wie eine Perücke und über die sie nicht sprechen möchte, waren ordentlich über ihre schmalen Wangen gelegt. Sie posierte, lächelte für die Fotografen. Es war wie früher, als sie auf der Bühne stand als Tänzerin.

Sie ist am 12. Oktober 100 Jahre alt geworden. Ihr Sohn, der Ingenieur wurde und heute Rentner ist, wollte diesen Tag feiern und hatte einen Saal gemietet. Hanna Merke wäre viel lieber an die Ostsee gefahren, in ein elegantes Seebad.

Hanna Merke spricht schnell und lacht hoch und sagt, dass ausgerechnet sie so alt werden würde, hätte sie niemals gedacht.

„Meine Mutter wurde nur 73 Jahre alt, mein Vater nur 85.“ Jemand wie Hanna Merke, die sich erst alt fühlt, seit sie 98 ist, findet es natürlich früh, wenn jemand mit 85 stirbt.

In Umfragen antworten die meisten Menschen, dass sie finden, jemand sei alt, sobald er 60 ist. Hanna Merke hält das für Quatsch. Mit 60 Jahren, sagt sie, habe sie sich erst gefühlt wie mit 40. Sie dachte nur immer, sie bekomme Krebs. Sie dachte das jedes Mal, wenn ihr etwas weh tat. „Aber vielleicht kommt der Krebs noch“, sagt sie, und: „dass diese Angst aber auch nie aufhört!“

Und so sitzt sie an ihrem Schreibtisch und wartet auf den Krebs.

Aber mindestens einmal am Tag geht sie hinaus, entweder in das Café an der Ecke, in den Supermarkt, zu Kaisers, oder zum Briefkasten. Jeden Donnerstag nimmt sie ihre Klaviernoten und fährt mit der S-Bahn zur Orchesterprobe. Da spielt sie Bach und Beethoven und Tanzmusik. Da trifft sie auf 70-Jährige, die schon faul geworden seien, sagt sie, weil sie denken, ab 60 sei der Mensch alt, es gehe zu Ende.

Wie man altert, hängt auch damit zusammen, wie man mit seiner Vergangenheit lebt. Die Geschichten von Hanna Merke und Lina Haag sind die Geschichten von Menschen, die in die erste Schulklasse gingen, als der Erste Weltkrieg ausbrach, die Teenager waren während der Weimarer Zeit und Mütter während des Zweiten Weltkriegs, die nach dem Krieg, in den fünfziger Jahren, auf ihre Männer warteten und schon zu den Senioren gehörten, als die 68er vor ihren Fenstern durch die Straßen zogen.

Wenn Hanna Merke zurückblickt, sieht sie sich tanzen; im Jahr 1940 sieht sie sich an der Deutschen Oper in Duisburg als Ballerina. Wenn Lina Haag zurückblickt, sieht sie sich kämpfen; im Jahr 1940 sieht sie sich immer wieder in das Hauptquartier der Gestapo gehen. Sie wusste, dass sie origineller sein musste als die anderen, die zu Himmler kamen und nur bettelten und weinten.

Jedes Mal füllte sie einen Zettel aus, sie wolle den Reichsführer SS sprechen, bis das Wunder passierte, dass ihr jemand half. „Major Suchanek“, sagt Lina Haag mit ihrer jetzt schon kratzigen, aber noch forschen Stimme, „einer von Himmlers Adjutanten“, sagt sie. „Suchanek“, wiederholt sie noch einmal. Er sagte, er wolle versuchen, den Reichsführer für ihren Fall zu interessieren.

Kurz darauf stand Lina Haag in Himmlers Büro und sprach über ihren Mann. Ein paar Monate später, im Sommer 1940, ließ Heinrich Himmler Alfred Haag aus dem KZ frei.

„Hier steht eigentlich alles drin“, sagt sie. Sie zieht jetzt ein Buch aus dem Regal, es heißt „Lina Haag. Eine Hand voll Staub. Widerstand einer Frau, 1933 bis 1945“, es erschien 1947 das erste Mal, es wurde in mehrere Sprachen übersetzt, Kinder lasen es in der Schule.

Sehen Sie noch manchmal in das Buch? „Manchmal schaue ich hinein, um es neu zu erleben.“

Sind die Farben und Gerüche und Töne noch da? Die Sätze, die Himmler sprach? „Ja“, sagt sie, „aber ich kann gut damit umgehen.“

Lina Haag hat gelernt, mit dem umzugehen, was sie erlebte. In den ersten Jahren nach dem Krieg zuckte sie jedes Mal zusammen, wenn sie einen Teppich aus rotem Kokos sah, einen, wie Himmler sie hatte auf den Korridoren vor seinen Büros. Und heute? „Heute ist es egal.“

Ihr Gehirn hat es geschafft, das Bild vom roten Teppich, das immer mit viel Schmerz und mit viel Angst verbunden gewesen ist, vom Schmerz zu lösen und von der Angst. „Frau Haags Erfahrungen“, sagt Holsboer, der Wissenschaftler, „sind nahezu ein Musterbeispiel für die Plastizität des Gehirns.“

Diese Plastizität ist der Grund, warum Holsboer nichts hält von formalen Altersgrenzen. Er sagt, wenn alle künftig älter würden, und das immer gesünder, könne es sich der Staat nicht mehr lange leisten, seine Leute mit 67 Jahren zum Blumengießen in den Garten zu schicken.

Holsboer hat eine Formel für erfolgreiches Altern entwickelt, aus „Biomarkern“, wie er sagt. Das sind Kombinationen aus Laborwerten, die anzeigen, wozu ein Mensch im Alter noch in der Lage ist und wovor er sich schützen sollte.

Er sagt: Nicht allein die Gene bestimmen, wie alt der Mensch wird, sondern auch, wie er lebt.

Das Gehirn schafft etwas, wozu nur das Gehirn in der Lage ist, etwas, was die Haut nicht kann, weil sie runzelt, oder die Knochen nicht, weil sie porös werden. Das Gehirn kann das Altern aufhalten. Es besitzt eine Art Reservemotor, der anspringt, sobald die Hauptmaschine im Kopf schwächer wird. Der Reservemotor ist in der Lage, die Verluste zu kompensieren, die entstehen, wenn sich die Nervenzellen weiter zusammenziehen wie ein zu heiß gewaschenes T-Shirt und die Kreisläufe langsamer werden; aber das schafft er nur, wenn das Gehirn fit gemacht worden ist für das hohe Alter. Wenn es über einen längeren Zeitraum trainiert wurde. Das ist wie bei der Rente.

Es profitiert nur der, der vorher lange eingezahlt hat. Es nützt deshalb nichts, mit 90 anzufangen, sich auf ein Rad zu setzen oder in die Volkshochschule.

Plastizität, das benennt die Kompensationsstrategien des Kopfes, um den Verlusten entgegenzuwirken. Plastizität ist nichts Stoffliches, sondern etwas, das fließt, ein Erregungszustand, der sich daraus ergibt, dass Nervenzellen, die über Synapsen verbunden sind, miteinander kommunizieren.

Sie ist einer der Gründe, warum Lina Haag zwar alt ist, aber ihr Kopf noch immer gut funktioniert. Deshalb, sagt Holsboer, seien die Bücher im Wohnzimmer von Lina Haag so wichtig. „Schauen Sie“, sagt sie und sieht auf einen der Stapel, „das sind alles Bücher, die ich geschenkt bekommen habe. Davon hat mich eigentlich kein einziges interessiert, aber ich habe sie alle gelesen, manche sogar mehrere Male.“

Henning Mankell, der „Chronist der Winde“? Christa Wolf, „Nachdenken über Christa T.“? „Das hat mir beides nichts gegeben.“ Wolfgang Köppen, „Tauben im Gras“? „Das ist ganz blöd.“

Manchmal greife sie noch zu alten Büchern, sagt sie, die gäben ihr noch etwas. Zum Beispiel? „Tucholsky. ‚Drei Minuten Gehör‘.“

Sie hat früh gelernt, wie wichtig es ist, ihren Kopf zu trainieren. Bevor sie bei Himmler um das Leben ihres Mannes kämpfte, hatte sie selbst mehrere Jahre in der Zelle gesessen, damals lernte sie Klopfzeichen und das Morsen. Im Frauen-KZ auf der Lichtenburg, auf der Elite-Station V, der Politischen, zeichnete sie als Häftling Nummer 719 Illustrationen aus Hendrik van Loons „Die Geschichte der Menschheit“ nach, um den Verstand nicht zu verlieren. Dass sie ihren Verstand nicht verlor, hat ihr das Leben gerettet.

Heute hat ihr Kopf ihren Körper überlebt, sie sitzt fast nur noch auf dem Sofa, liest, geht selten vor die Tür, alle zwei Wochen, wenn sie zum Friseur muss. „Ich muss es akzeptieren.“ Sie zuckt freundlich mit den Achseln.

Dass sie lächelt und erkennt, was sie kann und was nicht, sei wichtig, sagt der Wissenschaftler Holsboer, vielleicht das Wichtigste. Jemand, der 85 Jahre alt ist, weiß, dass er andere überlebt hat. Das lässt ihn vieles ertragen.

Lina Haag und Hanna Merke gehören zu den letzten fünf Prozent ihres Jahrgangs. Beide waren selten krank in ihrem Leben. Beide sind sie neugierig, beide sehen gern Politiksendungen im Fernsehen, beide finden den Klimawandel beängstigend, beide trinken, während sie reden, einen Schluck Rotwein.

Sie wohnen zu Hause. Hanna Merke wohnt allein in vier großen Altbauzimmern, manchmal besucht ihr Sohn sie oder ihre Tochter, die Apothekerin ist. Lina Haag wohnt zusammen mit ihrer Tochter, die 80 ist und für sie mittags kocht.

Dass die meisten ihrer Freunde sterben, sagt Hanna Merke, das störe sie am Altsein. Und dass Ärzte anfangen, sie nicht mehr ernst zu nehmen, wenn sie zu ihnen kommt und sagt, sie habe Rückenschmerzen. Nun gehe sie zu keinen Ärzten mehr.

„Als ich in die erste Klasse gekommen war, bekam ich schon Quäker-Speisung“, sagt sie.

Quäker-Speisung? „Ach, das kennen Sie gar nicht“, sagt sie und lacht hoch wie ein Mäuschen in einem Zeichentrickfilm, „Haferschleim“, sagt sie, „mir war so elend als Kind, ich war mager wie ein Fädchen.“

An was erinnern Sie sich noch? „Dass meine Mutter mit uns nach Gesundbrunnen zog.“ Und sonst? Sonst nichts.

Hanna Merke lächelt, so als würde sie selbst mehr wissen wollen über ihre Kindheit. Sie erinnert sich erst wieder an die Zeit ab 13.

„Kaum war ich im Turnverein, ging es mir gut. Ich bewegte mich so wahnsinnig gern.“

Nach der Schule lernte sie trotzdem erst einmal im Büro, danach lernte sie das Tanzen, Ballett, und wurde eines von zwölf „Hiller-Girls“, sie fuhr als „Reisendes Ballett“ vier Jahre lang durch Europa. Kurz bevor der Krieg begann, schaffte sie es ans Theater in Duisburg, wo sie ihren Mann traf, den ersten, der aber schon bald geschäftlich nach Holland musste.

„Ich war auf der Bühne eine Wildsau im ‚Freischütz‘ oder der Gottfried in ‚Lohengrin‘“, sagt Hanna Merke. Sie macht den Gottfried jetzt vor, tanzt, dann singt sie, „da-di-da-di-da-damm“. Sie sagt, dass sich das am längsten in ihrem Kopf einpräge, was ihr am meisten nahegegangen sei.

Das ist wie bei Darwin. Das, was am stärksten ist, überlebt.

Wenn das Gehirn älter wird, nur noch das lichte Geäst bleibt, hat es immer mehr Mühe, die Bilder, die eingehen, an der richtigen Stelle abzulegen. Es gibt neue Bilder, die eingehen, es gibt alte Bilder, die sich mit jedem neuen Eindruck, mit jedem neuen Satz, der gesprochen wird, auch erneuern und auch irgendwo liegen und abgespeichert werden müssen. Und weil das viel Arbeit ist und ein ständiger Prozess, trennt das Gehirn sich vom Unwichtigen.

Der alte Mensch selektiert. Der alte Mensch optimiert auch. Deswegen spricht Lina Haag erst, wenn sie sicher sitzt.

Der alte Mensch kompensiert den Verlust. Deshalb trägt Hanna Merke mehrere Schichten übereinander, trägt unter ihrer Bluse noch einen dicken Pullover und einen Push-up-BH, wenn sie das Haus verlässt. Sie will kräftiger wirken, nicht so dünn. Sie trickst.

Auch das Gehirn trickst, es kompensiert, optimiert, selektiert, zum Beispiel so, dass am Ende nur die schönen und die schrecklichen Erinnerungen bleiben. „Es war wunderbar damals! Auf der Bühne waren wir Menschen“, sagt Hanna Merke. Draußen war Krieg.

Als der Krieg heftiger wurde, musste das Theater schließen. Sie suchte sich ein neues Theater, in Detmold, war Ballettmeisterin und zog zwei Kinder groß. Und als ihr Mann nicht zurückkam aus Holland, ging sie nach Berlin, wo ihr Vater sie brauchte, wo ihr Jugendfreund 30 Jahre lang auf sie gewartet hatte, wo sie heiratete, das zweite Mal.

Sie und ihr Mann, das war vor 50 Jahren, zogen zusammen in die Wohnung, in der Hanna Merke sitzt.

Nach dem Krieg arbeitete sie als Turnlehrerin, bis sie 80 war.

In einem der Zimmer ist eine Turnleiter hinter die Tür geschraubt und ein riesiger Spiegel, wie es sie in Ballettsälen gibt. Wenn Hanna Merke am Morgen aufsteht, stellt sie sich an die Stange, streckt sich, hebt die Hand, den Kopf, die Fingerspitzen, geht langsam in die Knie, und am Abend macht sie ihre Übungen noch einmal. (…)

Gibt es Vorteile, die das Alter hat?

„Ich kann aufstehen, wann ich will. Ich kann essen, was ich will, denn am liebsten esse ich schöne Wurst und gutgewürzten Käse, ich kann mir im Fernsehen ansehen, was ich möchte, ich habe Kabelfernsehen. Und ich spiele nachts Klavier, sehe fern oder sitze hier und schreibe einen Weihnachtsbrief auf meiner Schreibmaschine.“

Haben Sie keinen Computer? „Nein. Meinen Sie, ich sollte mir einen anschaffen? Ich wollte auch ins Internet gehen, aber ich habe den Eindruck, dass man vom Internet nicht mehr so viel hat, wenn man alt ist wie ich.“ Lina Haag sagt das auch; und dass sie sich schon an das Radio gewöhnt habe, an den Fernseher und an die Waschmaschine, das reiche ihr.

Ab Anfang 70 beginnt der Rückzug zu sich selbst, die Abkehr vom Konsum. Lina Haag fragt, ob sie ihre Botschaft eigentlich schon gesagt habe, die mit den Frauen und dem Pazifismus. Nein. „Die Frauen müssen den Pazifismus aufrechterhalten“, sagt Lina Haag, „das ist mein Glaube, und der hält ein Leben lang.“

Sie lächelt, fast erleichtert, als habe sie nach vielen Stunden Gespräch nun endlich das gesagt, was das Wichtigste ist für sie.

Es ist der Grund, warum sie so ausdauernd vom Krieg erzählt. Sie erzählt nur wenig aus den Jahren nach dem Krieg, als sie Masseurin war und ihr Mann Verwaltungsangestellter, fast so, als hätte es diese Jahre für sie nicht gegeben, fast so, als hätte ihr Leben in ihrer Erinnerung eigentlich nur zehn Jahre gedauert.

„Wir haben das Reihenhaus gekauft, und ich habe wieder geschaut, dass wir eine Familie sind, Fred, Kätle, die Kosmetikerin wurde, und ich. 1982 starb Fred.“

Sie weiß kaum noch, was vergangene Woche war, aber was 1939 im KZ Lichtenburg gewesen ist, das kann sie erzählen mit der Präzision eines Drehbuchautors. Sie erzählt dann wieder vom Krieg, vom KZ Lichtenburg, wie sie sich, in gewisser Weise, selbst befreite.

Irgendwann, nach einem Jahr in Gefangenschaft, war Lina Haag zu Schreibarbeiten in die Kommandantur gerufen worden, nach ein paar Tagen traf sie den Lagerkommandanten. Name?, fragte er. Haag. Seit wann hier? Seit zwölf Monaten. Warum? Politisch. Führung? Ohne Beanstandung.

So, sagte er und blickte sie prüfend an, drehte sich um mit den Worten: Kann vielleicht entlassen werden.

Lina Haag wusste sofort, dass dieser Satz ihre große, vielleicht einzige Chance sein könnte. Sie überlegte schnell, sie müsse den Kommandanten in seiner Eitelkeit treffen, dachte sie. Kann vielleicht entlassen werden. Das wird leider nicht gehen, sagte sie. Wieso? Weil meine Heimat-Gestapo in Stuttgart ist. Und die ist die höhere Instanz. Die Stuttgarter? Die höhere Instanz?

Ein paar Wochen später war Lina Haag frei. Sie fuhr nach Berlin, zu Himmler, um ihren Mann zu befreien. (…)

Wie verändert sich das Fühlen? Fühlt man als alter Mensch so stark wie als junger Mensch?

„Die Dinge, über die ich mich freue, verändern sich“, sagt sie. „Ich freue mich heute darüber, wenn die Sonne scheint, wenn es ein guter Tag ist und ich in den Garten kann, wenn ich gut geschlafen habe.“ Und wenn ihre Urenkelin zu Besuch kommt, die viel fragt, erzählt sie, dass sie Hakenkreuze von Straßen putzt und Rockfestivals organisiert gegen rechts.

Wie wichtig ist Geld? „Das, was wir verdient haben, ist immer gleich draufgegangen. Geld war nie wichtig. Es macht nicht glücklich.“

Was ist das Wichtigste? „Dass man einen Kameraden hat, man nicht alleine ist.“

Hanna Merke sagt es genauso, aber anders. „Jemanden zu haben, der einem zuhört. Dass man einen Kaffeeklatsch haben kann.“

Früher ging Hanna Merke oft ins Schwimmbad, aber das macht sie seit zehn Jahren nicht mehr. „Ich traue mich nicht mehr“, sagt sie. Warum? „Ich fühle mich zu hässlich heute. Seitdem ich 99 bin, nehme ich nicht mehr zu. Ich bin zu wenig. Ich habe keine Figur mehr. Es sind nur noch Haut und Knochen.“ Die Eitelkeit bleibt? „Ja.“

Was ist mit Männern? „Das wäre nur interessant, wenn ich etwas von einem Mann lernen könnte, wenn er mich neugierig machen würde, wenn er Professor wäre und mich wahnsinnig lieben würde. Und wenn er mich nicht fragen würde, wann es Mittagessen gibt.“

Hanna Merke sagt, sie würde gern 110 werden, jetzt, wo sie wieder laufen könne. Alternsforscher beobachten, dass bei den ganz Alten das Risiko, den nächsten Geburtstag nicht zu erleben, langsamer steigt als bei denen, die jünger sind als 85. Wie alt Menschen werden können, darüber streiten die Forscher sich, die einen sagen, bei 130 sei Schluss, die anderen, erst bei 180 Jahren.

Warum der eine Mensch älter wird als der andere, darüber wissen sie mehr. Zu einem Drittel bestimmen die Gene die Lebensdauer; zu einem Drittel, wie die Schwangerschaft der Mutter verlaufen ist; und zu einem Drittel, wie das Leben sich entwickelt.

Dabei sei besonders wichtig, sagt der Wissenschaftler Holsboer, wie der Mensch seine letzten Jahrzehnte noch gestalten könne.

Wünscht man sich mit 100 noch etwas, Frau Merke? „Ja, einen Whirlpool.“ Hofft man mit 100 noch auf etwas? „Dass alles friedlich bleibt.“

Lina Haag hofft auf einen guten Witz und darauf, dass die Sonne scheint. Kündigt sich der Tod an, Frau Haag? „Manchmal klopft das Herz schneller. Dann nehme ich einen Schluck Schnaps, und es ist vorbei.“

Es wird still im Wohnzimmer von Lina Haag, in dem die Regale vollstehen mit ihren Büchern, einige liegen auf Stapeln, andere sind nach Autoren sortiert in Kartons. Lina Haag beginnt, ihre Bücher zu verschenken. Es sieht nach Auszug aus.

Hanna Merke denkt darüber nach, ob Nordic Walking nicht etwas für sie sei, sie will demnächst einen Tanzkursus belegen. Sie will wissen, ob sie sich noch drehen kann.

"Der Jahrhundertmensch", Der Spiegel, 17.12.2007

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