Abramović: Ihr Gesicht verloren
Eine Frau fällt Frauen in den Rücken. Und nicht irgendeine. Es ist jene Künstlerin, die Zeit ihres Lebens das Klischee des schwachen Geschlechts unterlaufen hat. Marina Abramović, gerne mit Messern unterwegs, die sie gegen sich selbst richtet, wechselt von der Kunst ins Beauty Business. Statt einen durch Selbstbewusstsein gestählten Körper verkauft sie jetzt Lotionen für einen perfekten Teint. Und hat selber auch schon ihr so lebensgefurchtes Gesicht verloren, sicherlich nicht nur durch Cremes.
Auf ihrer Website lockt die einst Alterslose mit einem Vorzugspreis: Abramović, 77 Jahre alt – medial im Strahlenglanz einer 37-Jährigen – verkauft ihr neustes Werk höchstpersönlich. Schlappe 200 Euro löhnt frau zum Beispiel für ihre ultimative «Face Lotion». Wenig eigentlich, wenn man weiß, dass man dadurch Teil einer Eucharistie wird: Die Künstlerinnen-Paste besteht aus Vitamin C, Brot und Wein. Halleluja!
Mit Brot und Wein will Abramović 110 Jahre alt werden, erklärt die Künstlerin in Interviews. Für eine lebende Legende gilt auch ohne Paste: "The sky is the limit".
Für Generationen von Frauen war Abramović jahrzehntelang ein Vorbild. Ob man in der Kunstszene zugange war oder bloß mit dieser eindrucksvollen öffentlichen Frau zeitlos älter wurde. Mit halben Sachen gab Abramović sich nie zufrieden. Als junge Künstlerin ritzte sie sich das Zeichen des Teufels in den Bauch, geißelte sich, bis der Rücken blutete, und schlug ihren Partner während Stunden hart ins Gesicht – in einem Museum. Postminimal-Art war das und der Beginn einer großen Performance-Karriere. Die Serbin Abramović tat Dinge, die im Widerspruch standen zu den Erwartungen an ihr Geschlecht.
Herausfordernd ließ sie sich vom Publikum mit Hammer, Axt, Nägeln, Gürtel, Peitschen – und einer geladenen Pistole traktieren. 2009/10 dann denkwürdige drei Monate im Museum of Modern Art New York: 721 Stunden saß Abramović wortlos insgesamt 750.000 BesucherInnen gegenüber, berühren verboten dieses Mal. Auch das Publikum ließ sich das nicht entgehen und nahm Platz, darunter: Sharon Stone, Tilda Swinton, Björk und Lady Gaga.
KunstkritikerInnen erklärten die Radikalität der Serbin mit ihrer Biographie. Als Kind kommunistischer Eltern und Tito-Partisanen ist sie mit Prügel und Härte erzogen worden; ihre tiefreligiöse Großmutter wiederum vererbte ihr die Anfälligkeit für den Spiritualismus. Diese Prägung kommt in der Alterskarriere der Künstlerin stärker zum Ausdruck.
Abramovićs aktueller Wandel zur Schönheitsschamanin geht schon länger ein Abdriften in die Eso-Ecke voraus. Neu ist sowas in Kunstkreisen nicht. Auch nicht die Kommerzialisierung. Nun aber hat eine der charakterstärksten Künstlerinnen unserer Zeit ihr Gesicht verloren. Im doppelten Sinn. Wie traurig.
DANIELE MUSCIONICO