Alice Schwarzer schreibt

Dünne machen!

Artikel teilen

Sie haben Komplexe, lassen sich den Appetit verderben, zählen Kalorien, haben zu tun. Hausfrauen, Studentinnen, Sekretärinnen, Karrierefrauen - keine scheint gefeit. Während Männer nach Profil streben, streben Frauen nach Linie. Während Männer Raum einnehmen, machen Frauen sich dünne. Wie günstig.

Anzeige

Seit neuestem aber ist Sand im Getriebe. Das Gift des Diätwahns scheint in Überdosis verabreicht worden zu sein. Die bisher diskret hungernden (und heimlich fressenden) Frauen flippen aus. Zunehmend. Ärzte schlagen Alarm. Eine neue Frauenkrankheit breitet sich aus: die Bulimie, profaner auch Fress- und Kotzsucht genannt. An ihr leiden Frauen, die zwischen Hungerkuren und Fresstouren schwanken, in diesen Phasen ungeheure Mengen verschlingen und durch künstliches Erbrechen und Abführmittel gleich wieder ausschieden. Allein in der Bundesrepublik schätzen Ärzte die Zahl der fresssüchtigen Frauen auf mindestens 300.000-400.000. Für sie ist die alltägliche Diät zur unentrinnbaren Sucht geworden, Sucht, die ihr Denken und Fühlen beherrscht und ihr Leben bestimmt.

Die Zahl der Frauen, für die das Essen so zur Sucht geworden ist (oft in Kombination mit Medikamenten, den Abführmitteln) wie für andere der Alkohol, steigt. Täglich bis zu 1.500 Briefe erhält nach eigenen Angaben die Frauenzeitschrift Brigitte zur Diät. 1.500 Briefe. Man stelle sich vor, Frauen schrieben täglich 1.500 Briefe, um mehr Rechte für Frauen zu fordern.

Doch man muss diese Zahlen nicht kennen, man muss sich nur im eigenen Leben umschauen, um zu begreifen, in welchem Maße die Obsession "Ich bin zu dick" Frauen okkupiert. Egal, wie alt sie sind. Egal, wie bewusst sie sind. Egal auch, wie schlank oder dick sie wirklich sind. Die Zauberformel "Diät" scheint Erlösung von allem Leiden zu versprechen. So kommt es, dass die "Traumfigur" inzwischen in den Träumen vieler Frauen noch vor dem "Traumprinzen" und der "Traumrobe" rangiert. Und dafür sprechen auch die Schlagzeilen der auflagenstarken Frauenzeitschriften, deren Verkaufsargument Nummer eins die jeweils neueste Diät ist.

Besonders beunruhigend dabei ist, dass der alltägliche Diätwahn so selbstverständlich geworden ist, dass wir ihn noch nicht einmal mehr als solchen wahrnehmen. Die Perversion ist eine doppelte: Man muss schon in einer Überflussgesellschaft leben, um Essen so zum Spielball der Ideologien machen zu können. Und man muss schon im Patriarchat leben, um als Frau in einer Überflussgesellschaft so zu hungern.

Etwa Mitte der 70er Jahre haben wir Feministinnen begonnen, laut über die Ursachen und Folgen des Schlankheitsdiktats nachzudenken. Wir haben schon einiges dazu gesagt, aber noch längst nicht alles. Es scheint so zu sein, dass ausgerechnet in den Zeiten, in denen wir Frauen es geschafft haben, äußere Fesseln zu sprengen, sich neue, innere Fesseln um uns gelegt haben. Und, dass eine der schlimmsten inneren Fesseln eben dieser Schlankheitswahn ist, der größere Folgen hat, als wir ahnen. Es beginnt mit einem tief gestörten Verhältnis zum Essen. Millionen Frauen essen entweder nicht. Oder sie essen zu wenig. Oder sie essen, haben dabei ein schlechtes Gewissen. Oder aber, neuere Entwicklung, sie schlingen das Essen hinunter. Aus Hunger. Hunger nach Leben. Und sie kotzen es wieder aus. Weil das Leben zum Kotzen ist.

Einer der elementarsten sinnlichen Genüsse, das Essen, ist all diesen Frauen nicht mehr möglich. Das Hungern und das Schwanken zwischen Hungern und Fressen schwächt den Körper, ja macht ihn regelrecht kaputt. Hinzu kommen die zerstörerischen Auswirkungen der Appetithemmer und Abführmittel. Die heute modische "Idealfigur" entspricht, rein medizinisch gesehen, einer Unterernährung. Doch längst ist sich die seriöse Medizin darüber einig, dass ein paar Kilo mehr gesünder sind, als ein paar Kilo zu wenig. Denn dem unterernährten Körper fehlen Abwehrkräfte und Kräfte. Und man stelle sich nur eines dieser schlanken Wesen in der körperlichen Auseinandersetzung mit einem ordentlich ernöhrten Mann vor. Hoffnungslos.

Hinzu kommt die seelische Zerrissenheit, der permanente Doublebind. Denn die "Idealfigur" ist für keine jemals erreichbar. Ich jedenfalls habe noch nie eine Zufriedene getroffen. Auch die Schlankste fühlt sich noch "zu dick" - und ist das in Relation zu den Kleiderständern der Modeseiten ja auch tatsächlich. Da ist der Hintern zu dick für Jeans, der Busen zu groß, die Waden sind zu stramm etc.

So kann der eigene Körper zum narzisstisch-autistischen Gegenstand allen Sehnens und Handelns werden. Alle Sehnsüchte, alle Revolten, alle Kämpfe gelten dem eigenen Körper. Nicht die Lebensumstände und die Welt sollen sich ändern, der Körper soll es. Und wenn er erst anders, wenn er erst perfekt wäre, dann wäre auch das Leben und die Welt wunderbar.

Einst fragte die Königin: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?" Heute fragen die Frauen: "... wer ist die Schlankste im ganzen Land?" Die Schlankheitskarriere scheint die begehrteste zu sein, der Wettbewerb um die Pfunde der weitverbreitetste Konkurrenzkampf unter Frauen: Du bist viel schlanker als ich - Ich habe jetzt endlich abgenommen - Kompliment, du bist ja wunderbar schlank geworden etc. etc. Während Männer Karriere machen, machen Frauen Diäten. Der Horizont weiblichen Strebens ist nicht vom Universum begrenzt, sondern - von der eigenen Haut.

Es wird kein Zufall sein, dass ausgerechnet mit erstarkender Emanzipation die Frauen immer dünner werden sollen. Aber warum machen die dämlichen Frauen denn all das mit, wird da so manch eine/r fragen. Ja, warum? Weil die Ideologie zäher sein kann als die Realität. Weil frau ökonomisch schon unabhängig sein kann, aber seelisch noch gefangen - das sind langwierige Prozesse. Und, weil die Frauen selbst als Schwächere, die nach dem Gesetz des Starken streben, Trägerinnen dieser Ideologie sind. Doch: Bestimmt werden Ideologien von den Herrschen. Und sie sind es auch, die letztendlich davon profitieren. Auch vom Schlankheitswahn.

Diese Männergesellschaft will, dass wir Frauen uns dünne machen. In jeder Beziehung. Unsere Körper, Terrain männlicher Macht, sind seit Jahrtausenden enteignet, kolonialisiert vom Patriarchat. Nicht zufällig lautete eine der ersten Forderungen der neuen Frauenbewegung: Mein Bauch gehört mir! Wenn wir Freiheit wollen, müssen wir zu allererst einmal uns selbst, unsere eigenen Körper befreien. Und unsere Seelen entgiften. Auch vom Gift des Diätwahns. Und dann? Ja, dann wird vielleicht ein Teil der Phantasie und Energie, die wir heute in dieses kleinliche und wahrhaft unwürdige Kalorienzählen investieren, wieder frei sein. Frei zum Leben. Frei zum Kämpfen um etwas, das sich lohnt.

Artikel teilen
 
Zur Startseite