Anna Pappritz: Sie war die Erste

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Deutschland ist seit Jahren zunehmend Hotspot sexueller Ausbeutung von Frauen und damit ein Paradies für die mafiösen Strukturen von Zuhältern und Menschenhändlern. Aber es regt sich Widerstand. Die sogenannten „AbolitionistInnen“ treten ein spannendes Erbe an, denn bereits um 1900 hatte es eine Bewegung mit diesem Namen gegeben, die sehr erfolgreich gegen die Reglementierung der Prostitution vorgegangen war. Können sie von damaligen Strategien lernen? Wer waren unsere Vorkämpferinnen gegen die Prostitution?

Da ist zum Beispiel Anna Pappritz, im Jahr 1861 auf einem Rittergut in Radach geboren. Sie konnte gemeinsam mit ihren abolitionistischen MitstreiterInnen einen großen Erfolg verbuchen: Im Jahr 1927 wurde, nicht zuletzt dank Pappritz, in Deutschland ein erstes reformiertes Prostitutionsgesetz erlassen – womit die deutsche Republik im internationalen Vergleich ganz weit vorne war.

Dabei hatte zunächst nichts darauf hingewiesen, dass Pappritz einen solch hochpolitischen Weg einschlagen würde – im Gegenteil. Mutter Pauline wollte das einzige Mädchen unter drei Brüdern vor allem unter die Haube bringen, der Vater scheint sich nicht sonderlich für seine Tochter interessiert zu haben. Auf ihre Brüder blickte Anna immer mit einer Spur Neid, durften diese doch das Rittergut verlassen, um in einem Internat ihre Schulbildung zu vervollständigen. Sogar das blieb Anna verwehrt. In Radach gaben sich etliche Gouvernanten die Klinke in die Hand, um die einzige Tochter zu erziehen, allerdings hielten es diese in der Einsamkeit des Rittergutes nie lange aus.

Rückblickend schrieb Anna über ihre Familie: „Ich bin in den allerstrengsten kirchlich-orthodoxen, politisch-konservativen und patriarchalischen Anschauungen erzogen und großgewachsen. Und doch habe ich von meiner frühesten Kindheit an alle Geschehnisse des Lebens, in Gegenwart und Vergangenheit vom Gesichtspunkt einer begeisterten, zielbewussten Frauenrechtlerin angesehen, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass es eine Bewegung dieser Art gebe, ohne zu ahnen, dass andere Mädchen ebenso dachten und litten wie ich und dass bereits Frauen aufgestanden waren, um den Kampf für die Befreiung ihres Geschlechtes aufzunehmen.“ Kein Wunder, dass sie sich ihr Leben lang als geborene Frauenrechtlerin bezeichnete: Die Ohrfeigen ihrer Mutter, weil sie das ‚unsittliche‘ Wort ‚Hose‘ ausgesprochen hatte, vergaß sie nie.

Die enge familiäre Situation änderte sich erst, als Anna nach dem Tod des Vaters im Jahr 1884 im Alter von 23 Jahren mit ihrer Mutter nach Berlin zog. Hier tat sich ihr ein neues Leben auf. Allerdings: Was damit anfangen? Einen Beruf ausüben? Undenkbar – fehlte ihr doch die dafür nötige Ausbildung. Studieren? Ging – zumindest in Deutschland – nicht, erst im Jahr 1900 öffneten die ersten deutschen Universitäten ihre Pforten für Frauen. Ausziehen und allein leben? Daran war aus Gründen der Schicklichkeit nicht zu denken – es gehörte sich für eine alleinstehende Tochter nicht, die verwitwete Mutter allein zu lassen.

Da kam der Zufall zu Hilfe, eine Erholungsreise nach England, auf der Pappritz prompt einer Vertreterin des englischen Abolitionismus begegnete.

Über sie, die „fantastische Mrs Thripthrop“, erfuhr Anna von der polizeilichen, frauenverachtenden Reglementierung der Prostitution: die Einschreibung von Frauen auf Prostituiertenlisten, die medizinischen Zwangsuntersuchungen, die Polizeiwillkür und Kasernierung in Bordellen und die damit einhergehende permanente Missachtung der Frauenwürde.

Pappritz war geschockt und schrieb Jahre später: „Ich kann die Gefühle, die mich bestimmten, marterten, wie mit Ruten peitschten, gar nicht schildern. […] Dass es eine Prostitution gäbe, d. h. Frauen, die sich gegen Geld jedem Unbekannten hingaben, oft mehrere an einem Tage, dass sie von diesem Gewerbe leben, und dass es Männer gebe, die sich derartige Frauen ‚kaufen‘, nur um des Geschlechtsverkehrs willen, ohne Liebe u. Leidenschaft – die also tiefer stehen als die höheren Tiere – das war mir neu und das erschien mir furchtbar. Noch unfassbarer aber schien es mir, dass der Staat das Laster regelt, um dem Mann gesunde Frauen zur Verfügung zu stellen.“

Anna Pappritz’ Entschluss stand fest: Das durfte es im Deutschen Kaiserreich nicht geben – dagegen musste etwas unternommen werden! Und so kam sie als überzeugte Abolitionistin wieder aus England zurück.

In Berlin suchte sie den Anschluss an die Frauenbewegung und fand ihn bei dem „radikalen“ Flügel der Frauenbewegung. So lernte sie Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann kennen, Minna Cauer und Marie Stritt.

Im Jahr 1900 gründete sie mit den wenigen Gleichgesinnten aus dem radikalen Spektrum den ersten abolitionistischen Zweigverein in Berlin, aus dem in den nächsten Jahren ein schlagkräftiger Flügel innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung heranwuchs.

Das war alles andere als selbstverständlich, denn das Thema Prostitution war um 1900 noch tabuisiert. Aber mit Witz, Ironie und großer Überzeugungskraft gelang es Pappritz und ihrer engsten Mitstreiterin Katharina Scheven aus Dresden, dass sich die Ideen des Abolitionismus immer weiter verbreiteten. Der Abolitionismus setzte sich in einem ersten Schritt für die Abschaffung der Reglementierung von Prostitution ein. (daher der Name: to abolish = abschaffen); im zweiten Schritt sollte es um eine generelle Abschaffung der Prostitution gehen. Erreicht werden sollte dieses Fernziel durch eine uneingeschränkte Gleichberechtigung von Frauen und ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit. Zuvor aber kämpften AbolitionistInnen gegen das staatliche Verfahren, dessen sanktionierende Auswirkungen allein die sich prostituierenden Frauen erfuhren.

Die Prostituierten waren es, die sich in von der Polizei geführten Listen einschreiben lassen mussten, die sich von männlichen Ärzten (Ärztinnen im Polizeidienst gab es noch nicht) auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen mussten und die nur in bestimmten Wohnungen und Bezirken wohnen durften. Auch durften sie bestimmte Veranstaltungen nicht besuchen und konnten jederzeit von der Polizei kontrolliert und schikaniert werden.

Die Freier blieben selbstverständlich unbelästigt. Im Gegenteil: Letztendlich ging es darum, Männer vor den damals noch nicht heilbaren Geschlechtskrankheiten, vor allem der Syphilis, zu schützen.

Es waren die AbolitionistInnen, die nachwiesen, dass das Reglementierungssystem nicht der Eindämmung der Geschlechtskrankheiten diente. Die Polizei konnte noch so viele Prostituierte – bzw. der Prostitution verdächtigte Frauen – untersuchen lassen: Dadurch, dass die Freier nicht getestet wurden, drehte sich das Infektionsrad immer weiter.

Die Lösung, die die AbolitionistInnen anstrebten, war radikal: Das polizeiliche System müsste abgeschafft, die Lebensverhältnisse von Frauen verbessert werden – und junge Männer müssten lernen, keine Frauen kaufen zu wollen. Der Abolitionismus machte Schluss mit verschleiernden Mythen über das Gewerbe. Anna Pappritz publizierte mehrere Bücher, in denen sie das Leben von Prostituierten „ungeschminkt“ aufzeigte. Zusammen mit der ersten Polizistin in Stuttgart veröffentlichte sie ein Buch, in dem sie schilderte, wie Frauen in die Prostitution geraten waren. Zum ersten Mal bekamen die Frauen ein Gesicht und vor allem eine Geschichte, die häufig von äußeren Zwängen erzählte.

Durch die Bücher, Reden und Vorträge von Anna Pappritz wurde überdeutlich, dass der Grund für die Prostitution die Armut und nicht der vermeintlich „verworfene Charakter“ der sich prostituierenden Frauen war. Dies war auch der größte Unterschied zwischen der Auffassung der frühen AbolitionistInnen und der evangelischen Sittlichkeitsvereine, die zwar auch die Prostitution abschaffen wollten, aber die soziale Not nicht sahen. Dazu Pappritz wörtlich: „Worte wie ‚Hungerlöhne‘, ‚Wohnungselend‘ und dergleichen kommen im Laufe der Verhandlungen der protestantischen Sittlichkeitsvereine gar nicht vor; kein einziger sozialer Gesichtspunkt wurde ins Auge gefasst. (…) Wir betrachten als die Hauptursache der Prostitution zwei Faktoren: die starke Nachfrage von Seiten des Mannes und die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau, und dementsprechend fordern wir die Reformen, die geeignet sind, diese Uebel möglichst zu beschränken.“

Pappritz wies auf die Freier als das größte Problem hin und brach damit eines der größten Tabus der Zeit. Sie schrieb: „Der Standpunkt der Herrenmoral hat durch seine Jahrtausende währende Gültigkeit eine so suggestive Macht und Wirksamkeit auf das Gedankenleben des Mannes ausgeübt, dass alle Gründe der Logik, ja der Evidenz der Thatsachen an diesem Bollwerk zerschellen.“

Nach mühsamen Anfängen waren Anna Pappritz und die AbolitionistInnen ihrer Zeit letztendlich sehr erfolgreich. Sie konnten nach einem Vierteljahrhundert harter Arbeit im Jahr 1927 endlich ein neues Prostitutionsgesetz feiern: Die Reglementierung wurde abgeschafft, die Prostituierten standen nicht mehr unter polizeilicher Kontrolle.

Nun schien es an der Zeit, sich dem großen Ziel zuzuwenden: Die Abschaffung der Prostitution! Daraus wurde aber erst einmal nichts, denn der Nationalsozialismus setzte die abolitionistischen Tendenzen mit seiner Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 wieder außer Kraft. Warum aber war Anna Pappritz so erfolgreich? Und was können wir von ihr lernen? 1. Nicht nachlassen! Sie kämpfte über 30 Jahre lang unermüdlich für den Abolitionismus. 2. Netzwerke knüpfen! Sie war eine Meisterin in Überzeugungsarbeit. Und 3.: Den richtigen Zeitpunkt erwischen! Sie nutzte sofort die neuen Mitsprachemöglichkeiten durch das Frauenwahlrecht ab 1918 und überzeugte die ersten weiblichen Abgeordneten von den Zielen des Abolitionismus. So erreichte Anna Pappritz, die 1939 starb, das erste abolitionistische Gesetz Deutschlands.

Machen wir es ihr nach – ich glaube, der Zeitpunkt ist günstig.

KERSTIN WOLFF

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