Debra Milke - Die Todeskandidatin

Debra Milke mit 35 - und nach 22 Jahren Todeszelle.
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Der Oberste Gerichtshof des amerikanischen Bundesstaates hatte wenige Wochen zuvor die Todesstrafe bestätigt, zu der die Richterin Cheryl Hendrix die damals 36-Jährige im Januar 1991 verurteilt hatte. Ausschlaggebend für die Verurteilung war, dass der Polizist Armando Saldate während des aufsehenerregenden Prozesses in Phoenix ausgesagt hatte, Milke habe gestanden, zwei Bekannte zur Ermordung ihres Sohnes Christopher ­angestiftet zu haben. 

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Der Leichnam des Vierjährigen war im Dezember 1989 mit drei Kopfschüssen an einem trockenen Flussbett in der Wüste entdeckt worden. Wenige Stunden zuvor hatte Christopher seine Lieblingsjeans und ein Dinoaurier-Sweatshirt angezogen, um in einem Einkaufszentrum den Weihnachtsmann zu treffen. Die Mutter hat die Anstiftung zur Ermordung ihres Sohnes immer bestritten. „Ich wusste mit jeder Faser meines Körpers, dass Detective Saldate ein korrupter Lügner war. Die Herausforderung war, das auch beweisen zu können“, erinnert sich Milke.

Nach mehr als 22 Jahren in der Todeszelle lebt die vermeintliche Mörderin nun seit einigen Wochen in Freiheit, an einem geheimen Ort bei Phoenix. Überraschend ließ das Oberste Bezirksgericht in Maricopa die inzwischen weißhaarig gewordene 49-Jährige Anfang September vorläufig frei. Grund: Ein Bundesgericht beschied, dass die Staatsanwaltschaft frühere Falschaussagen und Manipulationen ihres Hauptzeugen Saldate verschleiert hatte. „Das Phoenix Police Department und seine Vorgesetzten sollten sich schämen, einem gesetzlosen Polizisten wieder und wieder freie Hand gelassen zu haben“, fasste Alex Kozinski, der vorsitzende Richter des 9. Bundesberufungsgerichts, harsch zusammen.

Die Jury muss eine "gute" Mutter sehen 

Doch Milke hatte damals nicht nur den ehrgeizigen und verlogenen Saldate gegen sich, der sich von einem Todesurteil in dem von unzähligen Fernsehkameras begleiteten „Santa Claus Case“ Bekanntheit und Beförderung versprach. Auch die zwölf Geschworenen hatten sich bereitwillig von der vermeintlichen Schuld der jungen Frau mit dem lockeren Lebenswandel überzeugen lassen – obwohl Saldate weder die übliche Tonbandaufnahme des behaupteten Geständnisses noch ein Verhörprotokoll vorweisen konnte.

„In einem Verfahren wie Milkes ist entscheidend, ob die Jury die Angeklagte als gute Mutter sieht. Wenn die Geschworenen sie als abartig einschätzen, wird es für die Frau schwer, sich zu verteidigen“, erklärt die amerikanische Jura-Professorin Elizabeth Rapaport im Gespräch mit EMMA. „Die Geschworenen können die Rolle als vermeintlich schlechte Mutter meist nicht von der Tat trennen.“ 

Laut Rapaport, die seit drei Jahrzehnten über weibliche Todeskandidaten forscht, traut eine Geschworenen-Jury vermeintlich ichbezogenen Frauen, die ihre Kinder als Last empfinden, auch quasi jedes Verbrechen zu. „Das Bild von der aufopferungsvollen Mutter wird in manchen Verfahren schon durch einen kurzen Rock oder angebliche Männerbekanntschaften erschüttert. Besonders Frauen der weißen Mittelschicht werden an Werten wie eheliche Treue, Keuschheit und Schicklichkeit gemessen“, weiß die Professorin der University of New Mexico. 

Auch Milkes Mutterrolle schürte das Misstrauen der Geschworenen. Im Zeugenstand zeichnete Sandy Pickinpaugh, ihre jüngere Schwester, nach einem Vorgespräch mit Saldate ein wenig schmeichelhaftes Bild. Milke sei eine egozentrische, eingebildete Manipulantin, die den kleinen Christopher nach der Trennung von ihrem Ehemann Mike immer wieder bei Pickinpaugh „parkte“. Nach der turbulenten Ehe, die wegen Drogen- und Alkoholexzessen samt Gefängnisaufenthalten des Fliesenlegers endete, amüsierte sich Milke derweil angeblich mit wechselnden Liebschaften. Von einer Reise nach Colorado soll die Versicherungsvertreterin schwanger zurückgekehrt sein. Laut Milkes Schwester folgte eine Abtreibung. 

Frauen werden an Treue und Schicklichkeit gemessen 

„Mit der Behauptung, Milke habe den Mord an ihrem Sohn gestanden, vergiftete Saldate systematisch die Gemüter von Freunden, Bekannten und auch der Schwester“, klagt der amerikanische Journalist Paul Huebl, der den Prozess verfolgt hatte. Der mittlerweile zum Friedensrichter aufgestiegene Polizist Saldate droht jetzt, bei der für Januar 2015 geplanten Wiederaufnahme des Prozesses gegen Milke die Aussage zu verweigern. Also setzte das Oberste Bezirksgericht in Maricopa weitere Anhörungen für die kommenden Wochen an. 

Während Milke im Herbst 1989 auf einen Heiratsantrag ihres Liebhabers Ernie Sweat wartete, soll sie auch Jim Styres, einem früheren Freund ihrer Schwester, Hoffnungen gemacht haben. Styres, ein von Schlaflosigkeit geplagter Vietnam-Veteran mit posttraumatischen Belastungsstörungen, hatte „Debbie“ und ihren Sohn nach der Trennung von Mike Milke bei sich aufgenommen. Wie Nachbarn berichteten, soll der 15 Jahre ältere ehemalige Soldat von einer Zukunft mit Milke ohne das Kind geträumt haben. „Ich wünschte, er wäre tot“, wurde Styres während des Mordprozesses zitiert. 

In einem Schrank seines Freundes Roger Scott fand die Polizei später die Waffe, mit der der Vierjährige erschossen wurde. Der arbeitslose Alkoholiker sagte bei einem Verhör aus, Styres habe den Jungen auf dem Weg zu dem Treffen mit dem Weihnachtsmann vor seinen Augen getötet. ­Angeblich hatte Milke ihn zu der Tat angestiftet, um 5.000 Dollar von der Lebensversicherung zu kassieren. Spätestens dieser Vorwurf der Habgier wies der Angeklagten den Weg in die Todeszelle. Styres selber beteuert bis heute, er sei keineswegs von „Debbie“ angestiftet worden.

Nach Informationen des Death Row Information Center warten in Amerika derzeit mehr als 3.100 Häftlinge auf ihre Hinrichtung, unter ihnen auch die vorgeblichen Auftragskiller Styres und Scott. Obwohl jede zehnte Verhaftung nach einem Mord eine Frau trifft, ist nur etwa jeder 100. Todeskandidat weiblich. „Es ist eindeutig, dass die Todesstrafe meist gegen Männer und nicht gegen Frauen verhängt wird. Seit 1930 wurden nur 32 Frauen, aber 3.827 Männer hingerichtet“, schrieb der erste afroamerikanische Richter am Supreme Court, Thurgood Marshall, im Jahr 1972. 

Debbie zeigte im Gerichtssaal kein Gefühl 

Forscher wie Rapaport und Victor Streib konnten inzwischen Gründe dafür belegen. Zum Beispiel, dass Täterinnen ihre Morde nur selten mit strafverschärfenden Verbrechen wie Raub oder Vergewaltigung verbinden. „Unterschwellig denken wir aber wohl auch, dass gegen Frauen nicht zu hart ins Gericht gegangen werden sollte“, vermutet der Jurist Streib.   

Milkes auffällige „Kälte“ im Gerichtssaal verschärfte in den Augen der Jury dagegen das Bild der herzlosen Mörderin. Die Spekulationen über Christophers letzte Minuten ließen sie scheinbar ebenso unberührt wie die offene Feindseligkeit ihrer Schwester Sandy. Und Debras Ex-Ehemann Mike droht sogar mit einer Zivil­klage, 22 Jahre später. Erst nach dem ­Todesurteil erfuhren die Geschworenen von den Antidepressiva, mit denen die ­Gefängnisärzte die Angeklagte prozessfähig gespritzt hatten. 

„Debbie zeigte kein Gefühl“, bestätigt auch Milkes Mutter Renate Janka. Die 70-jährige Deutsche hatte Milkes Vater, einen amerikanischen Soldaten, in den 60er Jahren in Berlin kennengelernt und war ihm nach der Geburt ihrer ältesten Tochter in die Vereinigten Staaten gefolgt. Als sie zehn Jahre später die Scheidung einreichte und mit ihrem neuen Partner nach Europa zurückkehrte, blieb Milke in Arizona. Nach Jahren der Entfremdung ist Janka heute die engste Vertraute ihrer Tochter. 

Die Recherchen der Mutter, die als Rentnerin in Berlin lebt, brachten die Beweise gegen den umtriebigen Polizisten Saldate zu Tage, auf die das Appellationsgericht im März die Aufhebung des Urteils stützte. Sollte der Detective nun wie angekündigt in einem neuen Prozess die Aussage verweigern oder die Richter Milkes angebliches Geständnis nicht zulassen, mutiert die einstige „Death Row Debbie“ wohl auch in den amerikanischen Medien unwiderruflich zum Opfer eines der tragischsten Justizskandale des Grand Canyon State.      

Aktualisiert am 7. April 2015   

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