Der Offene Brief – die Chronik

Foto: Valya Egorshin/NurPhoto/dpa
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14. APRIL
Ich veröffentliche auf EMMAonline einen Kommentar (den wir dann auch in die Mai/Juni-Ausgabe heben) mit dem Tenor: Verhandeln jetzt! Und: Helden, nein danke! Daraufhin schreiben mir sehr viele Menschen, Frauen wie Männer, sie gratulieren mir zu meinem „Mut“. Auch der Jurist und Ethiker Prof. Reinhard Merkel, mit dem ich mich ab und zu austausche, schreibt: „Rundum Zustimmung meinerseits“. Und er fügt hinzu: „Was sind das für Zeiten, in denen man das klare, schlüssige, unmaskierte Aussprechen dessen, was auf der Hand liegt, in den Missklängen der sonstigen öffentlichen Meinung als Anlass zum Dank empfindet.“ Das gibt mir zu denken.

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Gleichzeitig berichten die Medien weitgehend einseitig pro weitere Aufrüstung. Bundeskanzler Scholz wird, von rechts wie links, von „seriös“ wie Boulevard, scharf für seine „Zögerlichkeit“ kritisiert, und auch in der Politik gerät er in Bedrängnis: FDP, Grüne und CDU/CSU (in der Reihenfolge) fordern den „feigen Kanzler“ auf, mehr Waffen zu liefern. Aber subito!

26. APRIL
Ich lese, dass der russische Außenminister Lawrow warnt, bei weiterer Einmischung des Westens drohe sehr „real und ernst“ die Gefahr einer atomaren Eskalation. Meine Sorge steigt. Sorge um die Menschen in der Ukraine, die von einem andauernden Krieg nur täglich mehr Zerstörung, Vergewaltigungen und Tote zu erwarten haben. Und Sorge vor einem 3. Weltkrieg. Ich entschließe mich, zu handeln. Ich bin zwar gerade für einen Kurzurlaub auf Ischia und möchte eigentlich nur in den Thermen hocken und Eis essen – aber mir wird klar, dass es eilt. Und ich habe auch verstanden, dass wir zwar viele sind, aber: Wir haben keine Stimme.

27. APRIL
Ich entwerfe einen Offenen Brief an Scholz und schicke ihn an zwei Dutzend Menschen des öffentlichen Lebens. Es kommen Absagen, aber auch Zusagen. Reinhard Merkel und Ranga Yogeshwar machen Vorschläge zur Erweiterung des Briefes. Juli Zeh und Svenja Flaßpöhler beginnen, auch ihrerseits UnterzeichnerInnen zu werben.

28. APRIL
Die Endfassung des Briefes steht und wird am späten Abend mit allen ErstunterzeichnerInnen abgestimmt. Wir sind 28.

29. APRIL
Der Brief geht mit den Namen aller ErstunterzeichnerInnen früh morgens an dpa, innerhalb einer halben Stunde berichten die Online-Medien flächendeckend.

30. APRIL
Der Brief der 28 ist ein heftig debattiertes Thema in allen, wirklich allen Medien. Allein am ersten Tag wird er auf change.org von über 50.000 Menschen unterzeichnet. In der Süddeutschen Zeitung erscheint gleichzeitig ein Text des Philosophen Jürgen Habermas, der denselben Tenor hat wie unser Brief.

Jetzt wird scharf geschossen auf uns 28, von rechts wie links. Die FAZ veröffentlicht in manchen Ausgaben gleich mehrere Gegenartikel. Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck disqualifiziert den Brief als „Vulgärpazifismus“, der Blogger und Werbetexter Sascha Lobo kreiert den Begriff „Lumpenpazifismus“.

Durchgehend wird unser Brief entstellt, ja ins Gegenteil verkehrt wiedergegeben. Unterstellungen statt Fakten. Vor allem die Öffentlich-Rechtlichen, Funk wie Fernsehen, lassen ihre Verpflichtung zur Überparteilichkeit nun vollends sausen und schlagen sich mit Hurra auf die Seite der Bellizisten. Zunächst.

1. MAI
Der Pfropfen ist aus der Flasche geflogen. Endlich hat die bisher von den Medien zum Schweigen verurteilte Hälfte der Bevölkerung eine Stimme! Wir 28 gehen nun an die Medienfront. Bei der überwältigenden Zustimmung bleibt den Medien nichts anderes mehr übrig, als jetzt auch kritische Stimmen zuzulassen. Die meisten der anderen 27 sind nun doch überrascht. Denn eine solche Häme waren die anerkannten SchriftstellerInnen bzw. WissenschaftlerInnen nicht gewohnt. Doch es ist nicht mehr aufzuhalten.

2. MAI
Von heute an dokumentiert die EMMA-Redaktion den Verlauf der Ereignisse auf EMMAonline: die steigenden Unterschriften auf change.org, die wichtigsten Etappen, eine Auswahl der Artikel/Interviews von und mit den 28 ErstunterzeichnerInnen etc.

3. MAI
Vier Tage nach Veröffentlichung des Offenen Briefes. Die Ergebnisse des Meinungsforschungsinstituts forsa werden veröffentlicht. Sie wurden in den Tagen zwischen dem 29. April, dem Tag des Erscheinens des Briefes, und dem 2. Mai erhoben. Resultat: Der Offene Brief hat innerhalb weniger Tage einen unerhörten Meinungsumschwung ausgelöst. Waren zuvor noch 55 Prozent für weitere Waffenlieferungen, sind es schon drei Tage danach nur noch 46 Prozent. Waren vor dem Offenen Brief nur 33 Prozent überzeugt von „Verhandlungen statt Waffen“, sind es drei Tage später schon 44 Prozent. Inzwischen steht es patt: 45 zu 45.

In der Politik aber sieht das – noch? – anders aus, Stand 2. Mai: 67 Prozent aller Grünen-Sympathisanten befürworten mehr Waffen, gefolgt von 62 Prozent der CDU/CSU-Wähler. Aus der einstigen Friedenspartei ist also die stärkste Kriegsbefürworterin geworden. In der Bevölkerung hingegen befürchten inzwischen 57 Prozent, dass „der Krieg sich infolge von Waffenlieferungen auf andere Länder in Europa ausweiten“ könnte. Und 70 Prozent sind der Ansicht, dass der Krieg „nur durch Verhandlungen und diplomatische Lösung“ beendet werden könnte. Die Kluft zwischen der Berichterstattung der Mehrheit der Medien und der Meinung der Mehrheit der Bevölkerung wird also immer größer. Und die Politik? Bei der scheint gerade eine gewisse Nachdenklichkeit einzuziehen.

5. MAI
In der Zeit erscheint ein zweiter Offener Brief an den „Sehr geehrten Herrn Bundeskanzler“. Ein Gegenbrief sozusagen. Seine 57 UnterzeichnerInnen fordern die weitere Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine in der Hoffnung, „die Kriegsfähigkeit Russlands maximal zu schwächen“.

11. MAI
Auf EMMAonline wurde der Brief der 28 inzwischen über 1 Million Mal angeklickt – und auf change.org haben 270.000 Menschen den Brief unterschrieben. Es steigt im Sekundentakt.

12. MAI
Olaf Scholz hat 75 Minuten lang mit Präsident Putin telefoniert, nach einer mehrwöchigen Pause. Der Kanzler forderte „die Verbesserung der humanitären Lage“ sowie baldmögliche Verhandlungen, um, so sein Pressesprecher, „diesen furchtbaren Krieg mit schrecklichen Zahlen von Opfern, viel Zerstörung und auch der ganzen Sinnlosigkeit, die ein Krieg mit sich bringt, einem Ausweg zuzuführen.“ – später wird der polnische Präsident Duda den deutschen Kanzler und den französischen Präsidenten öffentlich dafür rügen, dass sie noch mit dem russischen Präsidenten telefonieren.

10. JUNI
Der deutsch-iranische Autor und Träger des „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“, Navid Kermani, gibt der Welt ein Interview. Er beteuert darin zwar, seine Position sei „nicht so eindeutig“, aber beklagt die Niveaulosigkeit, Plattheit und „Bodenlosigkeit des Schwarzer-Briefes“. Und weiter: „Mich bestürzt seine unglaubliche Selbstbezüglichkeit und Arroganz. Der Mangel an Herzenswärme, an Empathie für die Opfer.“ Und Kermani versucht tatsächlich, uns 28 zu spalten. Wörtlich: „Ich frage mich bis heute, wie Größen wie Alexander Kluge oder Gerhard Polt, den ich verehre, diesen Brief unterzeichnen konnten.“

12. JUNI
Ich erhalte eine Mail von Brigade-General Erich Vad, dem langjährigen militärischen Berater von Kanzlerin Merkel. Er schreibt: „Sehr geehrte Frau Schwarzer, es liegt mir daran, Ihnen mitzuteilen, dass ich Ihre aufrichtige, gute und der Lage absolut gerecht werdende Positionierung im Hinblick auf den Ukrainekrieg sehr gut finde. Die Debatte ist wahrhaft nicht immer fair, stark emotionalisiert und immer weniger sachorientiert. Aber ich mache einfach auf meiner Linie weiter, nach dem Motto meines Großvaters: „Tue Recht und scheue niemand“. Ihr Erich Vad, Brigade-General a. D., Grünwald“.

14. JUNI
Inzwischen haben mehr als 300.000 Menschen den Offenen Brief bei change.org unterschrieben. Und laut einer aktuellen forsa-Umfrage sind 68 Prozent der Überzeugung, dass der Krieg „letztlich nur durch Verhandlungen beendet werden kann“. 83 Prozent finden es außerdem richtig, dass „westliche Regierungschefs weiterhin mit Putin sprechen“.

Hier endet die Chronik, weil die Juli/August-Ausgabe am 20. Juni Redaktionsschluss hatte. Aber wir berichten weiter und der Offene Brief kann selbstverständlich weiter unterschrieben werden – bis jetzt haben ihn über 318.000 Menschen unterzeichnet!
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