Die Frau mit den drei schwarzen Gürteln

Lydia La Rivière-Zijdel: Drei schwarze Gurte. Und einen braunen in Aikido.
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EMMA: Sie haben den schwarzen Gurt in Karate …
La Rivière-Zijdel: Drei. Ich habe drei schwarze Gurte. Und einen braunen in Aikido.

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Und das sind diese ganz normalen Gurte?
Natürlich! Das einzige, was ich nicht kann, ist mit meinen Beinen treten. Dafür bin ich aber eine Waffenexpertin: Schwerter, Tschakos, Messer und so weiter. Außerdem kann ich auch den Rollstuhl einsetzen.

Ach?
Ja! Haben Sie schon mal einen Rollstuhl vors Schienbein gekriegt?

Nein, bisher noch nicht.
Das tut sehr weh! (lacht) Ich habe nach meinem Unfall Selbstverteidigungstechniken für behinderte Menschen entwickelt, Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet und bisher über 6.000 Mädchen und Frauen und auch ein paar Jungen unterrichtet.

Haben Ihre Schülerinnen schon Angreifer in die Flucht geschlagen?
Ja, auch das. Aber die Presse will immer nur die großen Heldinnengeschichten hören. Dabei findet Gewalt gegen behinderte Frauen auf so vielen Ebenen statt. Wenn man zum Beispiel fünfmal am Tag gesagt bekommt, was man warum nicht kann. Und deswegen bringe ich meinen Schülerinnen zwar auch bei, wie sie sich körperlich zu Wehr setzen können, aber fast noch wichtiger ist eigentlich die mentale Stärke. Und wenn sie wissen, wie sie jemanden auf den Boden werfen können, dann entwickeln sie dabei eine innere Kraft, die sie auch in ihrem Alltag gut gebrauchen können. Sie berichten mir dann, dass sie sich endlich den Rollstuhl ausgesucht haben, den sie schon immer haben wollten, oder dass sie sich von den Eltern abgenabelt haben und jetzt alleine wohnen. Da gibt es viele große und kleine Beispiele.

Sie waren 32, als Sie den Autounfall hatten, seitdem sind Sie querschnittsgelähmt. Sie sind sozusagen von einem Tag auf den anderen zur „Behinderten“ geworden.
Ja, ich hatte mein Leben schon aufgebaut: studiert, Beziehungen gehabt. Studien haben herausgefunden – und meine persönliche Erfahrung bestätigt das – dass es ganz entscheidend für den Umgang mit der eigenen Behinderung ist, ob man schon eine normale Sexualität entwickelt hat oder nicht. Also, ob die Behinderung vor, sagen wir mal, dem 16. Lebensjahr eingetreten ist oder danach. Für ein Mädchen, das zum Beispiel von Geburt an behindert ist, ist es meist schwieriger, ein Gefühl für ihren Körper zu entwickeln.

Leben Sie selbst in einer Beziehung?
Oh ja, ich bin glücklich mit meiner Frau verheiratet!

Ach so, daher der Doppelname?
Ja, ich habe überlegt, wie ich meiner Partnerin zeigen kann, dass ich sie wirklich liebe. Und da habe ich etwas gemacht, was ich als Feministin bei einem Mann nie tun würde: Ich habe ihren Namen angenommen. Aber das hatte schon auch einen politischen Grund. So ist es bei offiziellen Anlässen immer ganz klar: Das ist nicht meine Schwester oder eine Freundin – das ist meine Frau. Dieses klare Signal ist für uns beide wichtig. Meine Partnerin – sie ist Kardiologin – wird öfter gefragt: „Wie schaffen Sie das bloß, mit einer Behinderten zusammen zu sein?“ Und mich gucken die Leute manchmal ein bisschen mitleidig an und sagen: „Na, da hat sie als Behinderte wenigstens überhaupt jemanden gefunden.“ Wenn auch „nur“ eine Frau …  

Eine behinderte lesbische Frau – da kämpfen Sie gleich an mehreren Fronten auf einmal.
I
n der Tat. Ich sage immer: Fehlt nur, dass ich nicht auch noch schwarz und jüdisch bin (lacht). Aber im Ernst: Die Behindertenwelt ist natürlich auch eine Heterowelt. Viele behinderte Menschen wollen so normal wie möglich sein. Und normal ist hetero. Dieses „Normalitätssyndrom“, wie ich es nenne, ist leider unter Behinderten sehr verbreitet. Deshalb bringe ich das Thema Homosexualität auch immer ein.

Sie sind Europapolitikerin. Was hat das „Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung“ Ihrer Meinung nach für die behinderten Frauen gebracht?
Ich bin als Präsidentin der Europäischen Frauenlobby sehr oft zu Veranstaltungen eingeladen worden, und ich muss sagen, dass die EU-Sozialkommissarin Anna Diamantopoulou in ihren Reden wirklich jedes Mal das Thema „Behinderte Frauen“ angesprochen hat. Überhaupt ist in der ersten Jahreshälfte unter der griechischen EU-Präsidentschaft sehr viel über behinderte Frauen geredet worden. Was man von der zweiten Hälfte nicht behaupten kann – die stand unter italienischer Präsidentschaft. Der Galaabend zum Abschluss des Jahres war übrigens das Schrecklichste, was ich während des ganzen Jahres erlebt habe. Der fand in einem Krankenhaus statt, wo Behinderte ja bekanntlich hingehören und Herr Berlusconi ist nicht erschienen, damit er sich „diese Menschen nicht anschauen muss“. Grundsätzlich muss man Folgendes sagen: Behinderte Menschen werden immer als erstes als Behinderte gesehen, also als geschlechtslos. Aber die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in unserer Gesellschaft findet ja genauso innerhalb der Behindertenwelt statt. Das Europäische Behindertenforum zum Beispiel, in dem ich mitarbeite, ist total männerdominiert: Da sind 80 Prozent Männer. Dabei sind 53 Prozent der behinderten Menschen in Europa Frauen, wir sind also in der Mehrheit. Trotzdem sind sie in den meisten Behindertenorganisationen in der Minderheit. Und das bedeutet, dass Frauenthemen überhaupt nicht auf die Agenda kommen. Wenn wir also nicht auch die Behindertenpolitik unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten betrachten und sie zur Sprache bringen – zum Beispiel die Themen Kinderbetreuung, Arbeit, Partnerschaft und natürlich Gewalt – dann gehen diese Themen unter. Das hat sich auch im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung bemerkbar gemacht: Die meisten Projekte, die durchgeführt wurden, waren Männerprojekte.

In Deutschland waren nur sieben von 170 geförderten Projekten Frauenprojekte …
Sehen Sie! Und die Frauenkonferenzen haben alle am Ende des Jahres stattgefunden, wenn noch Geld übrig war. Aber die Konferenzen, die es gab, waren ein Riesenerfolg! Die haben die Frauenthemen wirklich nach vorne gebracht. Und einer der wichtigsten Erfolge ist, dass jetzt die nationalen Netzwerke behinderter Frauen mit den Netzwerken nicht behinderter Frauen zusammenarbeiten. Das werden wir in den nächsten Jahren weiter ausbauen und Sie werden sehen: Diese Zusammenarbeit wird sehr effektiv sein!
 
Gibt es europäische Länder, die in Bezug auf behinderte Frauen besonders vorbildlich sind?
Es ist ja immer schön, mal etwas Gutes über Deutschland zu sagen: Das Thema Gewalt gegen behinderte Frauen ist in Deutschland mittlerweile sehr präsent in den Frauenorganisationen. Es gibt bei ihnen mittlerweile viele tolle Selbstverteidigungs-Projekte, wo behinderte und nicht behinderte Frauen zusammen lernen, sich zu wehren. Da ist in den letzten zehn Jahren unglaublich viel passiert: Viele Kampfsport und WenDo-Lehrerinnen haben Fortbildungen gemacht, damit sie auch behinderte Frauen in Selbstverteidigung unterrichten können. Und das finde ich wunderbar zu sehen – dass Expertinnen und nicht behinderte Frauen gesagt haben: „Wir können doch unsere behinderten Schwestern nicht ausschließen.“

Und wie bringen Sie die speziellen Forderungen behinderter Frauen in Ihre Europäische Frauenlobby ein?
Dass man eine sichtbar behinderte Präsidentin gewählt hat, sagt ja schon etwas über die Offenheit aus, die zu diesem Thema in der Frauenlobby herrscht. Unsere Organisation, die Frauenkommission des „Europäischen Behinderten Forums“, ist ja erst vor sechs Jahren Mitglied der Europäischen Frauenlobby geworden. Dass sie mich so schnell an die Spitze der Lobby gewählt haben, sagt natürlich auch etwas über meine Qualitäten. Aber eben auch über die Bereitschaft, sich des Themas anzunehmen. Seit wir in der Europäischen Frauenlobby Mitglied sind, werden im Arbeitsprogramm und den offiziellen Verlautbarungen die Forderungen behinderter Frauen immer genannt.

Ist Ihr Arbeitsplatz in Brüssel eigentlich barrierefrei?
Nein, ist er nicht. Belgien ist in puncto Zugänglichkeit wirklich das problematischste Land. Es gibt da weder rolligerechte Gebäude noch rolligerechte öffentliche Verkehrsmittel. Ich habe mir meine Arbeit aber so organisiert, dass ich nur an zwei Tagen in der Woche in Brüssel bin. Und dann treffe ich meine GesprächspartnerInnen oft außerhalb des Büros. Ansonsten arbeite ich von Amsterdam aus und glücklicherweise gibt es ja das Internet.

Und wenn Sie doch mal ins Büro müssen?
Dann komme ich bis zu den Treppen und muss auf meinen Pobacken raufrubbeln. Und das tu ich auch ab und zu.

Aber gerade Sie hätten doch schon längst einen barrierefreien Ausbau fordern können!
Ich bin nur für zwei Jahre gewählt. Sollen wir für die zwei Jahre einen teuren Umbau machen? Mir ist das nicht so wichtig. Das Wichtigste ist für mich, dass ich mit meinem Personal zusammenarbeiten kann. Und das klappt gut.

In Ihrer Funktion werden Sie ja oft zu offiziellen Anlässen eingeladen. Stehen Sie da mit Ihrem Rollstuhl auch vor Treppen oder zu engen Türen?
Ja, aber ich mache daraus kein großes Ding. Ich gehe hin, und dann lösen wir das Problem. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im ersten Halbjahr des Europäischen Jahrs, das unter griechischer Präsidentschaft stand, wurde ich nach Griechenland zu einem Treffen des Sozialministeriums und des Arbeitsministeriums eingeladen. Meine Sekretärin sagt den Leuten immer, dass ich im Rollstuhl sitze. Aber meistens nützt das nichts. Und dann bin ich angekommen, und das Gebäude war nur teilweise rolligerecht. Am ersten Tag haben mich vier Bodyguards die Treppe hochgetragen, am zweiten Tag lag da schon ein Brett und am dritten hatten sie es noch besser organisiert. Meine Erfahrung ist: Je weniger Aufhebens ich darum mache, umso beschämter sind die Leute. Und beim nächsten Treffen ist das Gebäude dann rolligerecht. Aber am wichtigsten ist mir, dass die Menschen mental zugänglich sind – wie sie sich überhaupt behinderten Frauen und Männern gegenüber verhalten.

Würden Sie sich freuen, wenn bei den Präsidentschaftswahlen im Mai Wolfgang Schäuble gewählt würde? Oder wäre Ihnen eine Frau lieber?
Um ehrlich zu sein, wäre mir eine Präsidentin lieber (lacht). Erstens bedeutet Behindertsein ja nicht automatisch, dass man ein Coming-out als Behinderter hat. Das heißt: Die meisten Behinderten in hohen Positionen vergessen andere Behinderte – genau wie Frauen, die oben angekommen sind, dann des öfteren die anderen Frauen vergessen. Und wie ich das bei Ihrem Herrn Schäuble so sehe, glaube ich nicht, dass er sich für bessere Behindertengesetze stark macht. Und zweitens ist es einfach an der Zeit, dass eine Frau Bundespräsidentin wird. Und am besten sollte sie Feministin sein – so wie die finnische Präsidentin Tarja Halonen!

Sie haben während Ihres Studiums „Disability Studies“ und „Social and Community Studies“ betrieben, zu Deutsch: Behindertenforschung. Auch die deutsche Behindertenbewegung fordert heute Professuren in „Disability Studies“ an den Unis.
Ja, die gibt es in Deutschland noch nicht – in Holland übrigens auch nicht. Ich habe in England studiert. Da fällt Behindertenforschung unter den Bereich Sozialwissenschaft, und man kann sogar schon in Behindertenforschung promovieren. Ansonsten gibt es „Disability Studies“ bisher nur in Spanien und Schweden. Es ist eben ein ganz neues Fach, und es wird ein paar Jahre dauern, bis es sich an den Unis etabliert.

Soll es denn ein Spezialfach sein? Oder wäre es nicht besser, wenn Behindertenforschung in jeden Fachbereich einfließen müsste?
Das ist genauso wie bei der Frauenforschung oder den Queer Studies. Erst muss man es als eigenen Bereich aufbauen, und wenn es die Professur zehn Jahre lang erfolgreich gibt, dann kann man das Thema langsam auch in andere Fächer einschleusen.

In Deutschland tobt zur Zeit eine heftige Debatte über Präimplantations-Diagnostik und Pränatal-Diagnostik. Viele Männer – und Frauen – in der Behindertenbewegung sind strikt dagegen, dass schwangere Frauen den Fötus auf Behinderungen untersuchen lassen und dann möglicherweise abtreiben. Sie argumentieren dabei gern mit der Behindertenpolitik der Nazis, die auch „unwertes Leben“ aussortiert hätten.
Ja, das Argument ist mir in Deutschland auch schon oft begegnet. Aber ich denke, da werden Äpfel mit Birnen verwechselt. Der Nationalsozialismus ist ein Männerding gewesen. Da haben Männer über Leben und Tod entschieden. Bei Abtreibung spreche ich von einer Entscheidung, die die Frau für sich selber trifft. Das Grundrecht von Frauen, über Ihren eigenen Körper entscheiden zu dürfen, ist für mich das Wichtigste. Jeder Mensch hat das Recht zu leben. Das bedeutet auch, dass Frauen das Recht haben, darüber zu bestimmen, welches Leben sie führen wollen – mit oder ohne Kinder. Und wenn eine Frau sich für eine Abtreibung entscheidet – aus welchen Gründen auch immer – dann ist das ihre persönliche Entscheidung. Die Statistik beweist, dass die meisten Paare mit einem behinderten Kind getrennt sind. Die Frau ist also oft allein veranwortlich dafür, ihr Kind zu versorgen. Da kommt viel auf sie zu, und sie muss abwägen, ob sie diese Belastung tragen kann und will. Natürlich ist unsere Gesellschaft nicht darauf eingerichtet, ihr die notwendige Unterstützung zu geben und wir kämpfen dafür, dass sich das ändert. Aber wir leben nunmal noch in dieser Gesellschaft. Außerdem gibt es Krankheiten, die so viel Schmerz und Leiden mit sich bringen, dass wir uns fragen müssen: Welche Qualität hat ein solches Leben für das Kind? Auch das entscheidet die Frau – nicht die Ärzte, nicht die Politiker und auch nicht die Behindertenbewegung.

Was klappert da eigentlich immer so im Hintergrund?
Oh, während wir telefoniert haben, habe ich mir schonmal mein Abendessen gekocht. Frauen sind es ja gewohnt, immer zwei bis drei Dinge gleichzeitig zu machen. Glücklicherweise bin ich ein sehr positiver Mensch. Ich habe einmal pro Monat für zehn Minuten schlechte Laune. Und dann reicht es mir auch schon wieder.

www.womenlobby.org

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