Die große Depression
Da ist zum Beispiel die junge Mutter mit vier Kindern, bei der Betreuung und Homeschooling eine Erschöpfungsdepression zur Folge haben. Oder die Frau, die ihren Waschund Putzzwang lange im Griff hatte und seit der Corona-Krise sogar ihre Lebensmittel desinfiziert. Oder die ohnehin schon an Depressionen leidende Kellnerin, die nun ihren Job verloren hat.
PsychologInnen und PsychiaterInnen können sich gerade vor Anfragen kaum retten. Bei ihnen melden sich Menschen wieder, die vor Jahren ihre Therapie abgeschlossen hatten, und solche, die vor Corona nie eine brauchten. Und bei auffallend vielen von ihnen handelt es sich um Frauen.
Während im Frühjahr offenbar die meisten erst mal im Überlebensmodus waren und im Sommer auf Entspannung hofften, zeigen sich nun, mit der zweiten Welle, Folgeerkrankungen der Pandemie wie Ängste, Depressionen, Zwangsstörungen, Suchterkrankungen. Nahm die Zahl der Terminanfragen bei PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 bloß um 24 Prozent im Vergleich zum VorCorona-Niveau zu, sind es nun 45 Prozent mehr. Das zeigt eine Umfrage unter PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen.
Fachleute sind von dem Ansturm auf Therapieplätze nicht überrascht. Sie wundert eher, dass er nicht schon früher kam – und verweisen auf Beobachtungen in Ländern, in denen die Folgen der Corona-Krise heftiger zu spüren waren als in Deutschland. Bei einer Umfrage zu Beginn des Covid-19-Ausbruchs in China gaben 16 Prozent der Befragten an, unter depressiven Symptomen zu leiden und 29 Prozent unter Angstsymptomen. Und laut einer kürzlich in „The Lancet“ vorgestellten Studie mit mehr als 53.000 Teilnehmern in Großbritannien stieg der Anteil von Menschen mit psychischen Störungen um acht Prozentpunkte.
TherapeutInnen berichten, dass Corona zurzeit bei jeder Patientin in jeder einzelnen Sitzung eine Rolle spiele. Denn durch die Corona-Krise brechen stabilisierende Faktoren bei psychisch Kranken weg. So erzählt eine Berliner Psychotherapeutin von einer Frau, die schon immer ängstlich war, nun, mit knapp 70 Jahren, aber vor Angst wie gelähmt sei, kaum noch vor die Tür gehe und nicht mal mehr zwischen Tür und Angel mit ihren Nachbarn plaudere. Eine Musikerin, die in einem Ensemble spielt, fragt sich, wer sie ohne Musik überhaupt sei, fühle sich „wie ein Fisch auf dem Trockenen“. Und eine weitere Patientin sei in die Therapie zurückgekehrt, um die Trennung von ihrem Mann zu verarbeiten: Im Lockdown konnte sie seine Gegenwart nicht mehr ertragen, alle Alltagsschwierigkeiten erschienen wie unter einem Vergrößerungsglas.
Natürlich leiden auch Männer unter Depressionen und Angstzuständen. Doch da Frauen in der Pandemie die Hauptlast in den Familien tragen, die größte Gruppe der Alleinerziehenden bilden, durch den Lockdown vermehrt von Männergewalt betroffen sind und Frauenbranchen wie der Einzelhandel stärker von Kurzarbeit und daraus resultierenden finanziellen Einbußen betroffen sind, sind Frauen in besonderem Maße betroffen.
Drei Viertel der Anfragen für Therapieplätze kamen seit März bundesweit von Frauen. Eine Sonderbefragung der NAKO (Gesundheitsstudie Nationale Kohorte) vom Mai mit rund 110.000 Menschen zum allgemeinen Wohlbefinden im Zuge der Corona-Beeinträchtigungen kreist diese Gruppe weiter ein: Frauen zwischen 30 und 49.Sabine Köhler, Vorsitzende des Berufsverbands der Deutschen Nervenärzte BVDN, wundert das nicht. Denn in diesem Alter seien Frauen durch die Doppelbelastung aus Familie und Karriere auch schon ohne Corona besonders strapaziert.
Auch eine großangelegte Studie der Charité, „COH-FIT“, mit 115.000 TeilnehmerInnen aus 150 Ländern bestätigt dies. „Unsere Subanalysen zeigen, dass es insbesondere Frauen sind, die Multitasking machen, die also zuhause sind, die Kinder betreuen und gleichzeitig Homeschooling und Homeoffice und noch den Haushalt schmeißen“, so der Leiter der Studie, Christoph Corell.
Besonders schwer haben es Alleinstehende und auf engem Raum lebende Familien und Mi-grantinnen. Das beobachtet Pilar Isaac-Candeias, Psychotherapeutin und Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer Berlin. Zu ihr kommen viele Menschen aus Spanien, Portugal und Lateinamerika. Die Depression einer jungen Brasilianerin etwa habe sich extrem verschlimmert, nachdem sie wegen Corona ihre Aushilfsjobs als Putz- und Küchenhilfe verlor. Weihnachten hat sie ganz allein in Deutschland verbracht: Für einen Flug nach Hause fehlte ihr das Geld, und ihre deutschen Freunde konnten und wollten sie wegen der Ansteckungsgefahr nicht mit zu ihren Familien nehmen.
Während Frauen häufiger depressiv sind, sich aber auch häufiger Hilfe suchen, nimmt die Krankheit bei Männern öfter ein schlimmes Ende. Einen Patienten von Sabine Köhler, der unter depressiven Phasen und Zwanghaftigkeit litt und bei der Arbeit immer sehr penibel war, warf Corona so aus der Bahn, dass er wegen einer heftigen depressiven Episode stationär behandelt werden musste. Im Homeoffice zu arbeiten überforderte ihn, der schon Anfang 60 war, auch technisch. Vor kurzem nahm er sich das Leben.
Anlass zu Optimismus sieht die Psychiaterin leider nicht. „Wir werden psychiatrisch und psychotherapeutisch noch sehr lange mit der Pandemie zu tun haben, denn ihre wirtschaftlichen Folgen werden ja erst in den kommenden Monaten und Jahren spürbar sein.“ Und die daraus resultierenden Ängste und Erkrankungen würden auch dann noch fortbestehen, wenn die Pandemie selbst längst vorbei sei.
LEONIE FEUERBACH
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