Die Rosa-Hellblau-Falle

The Pink Project. The Blue Project. Von der koreanischen Fotografin JeonMee Yoon.
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Dafür haben die PsychologInnen von der Universität in London unter anderem Studienergebnisse aus 85 Jahren analysiert. Anstatt sich mit Geschlechterbildern aus den 1930er Jahren zu befassen, hätten sie vielleicht einfach mal Almut Schnerring fragen sollen. Hier ihre ganz persönliche Analyse.

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"Ist das ’n Mädchen oder ’n Junge?“ „Das ist Mika.“ „Aber die hat ja Jungenschuhe an!“

An ihrem ersten Kindergartentag wurde unsere Tochter von zwei erfahrenen Vorschulmädchen begrüßt. Mit nur wenigen Sätzen führten sie uns ein in die Welt der Geschlechtertrennung. Mikas Schuhe waren weiß mit blauen Streifen.

Ähnliche Kommentare von Kindern, aber mehr noch von Erwachsenen fielen in den darauf folgenden Monaten, vor allem dann, wenn Mika Blautöne bevorzugte, wenn sie wieder mit kurz geschnittenen Haaren kam, wenn sie bei jedem Matschwetter die Berge rauf- und runterpflügte. Und mehr noch, als unser Sohn sich eines Morgens entschied, im Kleid der großen Schwester in den Kindergarten zu gehen. Das war vor zehn Jahren.

Ist das ein Mädchen oder ein Junge?

Doch was damals bloß einzelne, irritierende Erfahrungen waren, ist inzwischen zu einem Dauerthema geworden: Jungsschuhe und Mädchenfarben, Monsterfighter und Schminkpuppen, Piratenpartys und Prinzessinnengeburtstage, Jungenspielzeug, Mädcheninteressen. Wir mussten lernen, dass ein Mädchen, das keine Barbie besitzt und blaue Turnschuhe trägt, genauso wie ein kleiner Junge, der gerne zum Tanzunterricht geht, schon mal zur Außenseiterin, zum Sonderling wird, es sei denn, beide ignorieren selbstbewusst die Kommentare, Blicke und Zwischentöne. Denn die bleiben nicht aus, wenn ein Kind sich nicht an die Regeln der rosa-hellblauen Welt hält.

Zuerst war es das Hello-Lilly-Kitty-Pony-Glitzer-Angebot, das die Spielwarenabteilungen in zwei Welten trennte, dann kamen die Überraschungseier mit dem rosa Köpfchen und der Elfentrank „extra für Mädchen“ dazu. Auch wenn es um Grillwürstchen geht, wird heutzutage unterschieden: die Variante mit Zwiebeln trägt das Etikett „Männerbratwürste“, in „Frauenbratwürste“ sind dagegen Brokkoli- und Karottenstückchen, daher sind sie prompt teurer. Dafür gibt es extra „Frauensenf“ dazu, der ist wahrscheinlich süßer, weil Frauen ja nicht so auf scharf stehen, behauptet die Marktforschung. Und wehe, eine greift zu den Chips mit Chili! Die sind für den „Männerabend“ gedacht und so was machen Frauen ja nicht, sie wollen lieber milde Chips für den „Mädelsabend“, süß, oder? Soviel zum Frauen- und Männerbild derer, die sich Werbestrategien für neue Produkte ausdenken.

Und damit Mädchen und Jungen auch früh genug in ihrer jeweiligen Schublade landen, gibt es inzwischen schwarze Schnuller mit der Aufschrift „Bad Boy“ und rosafarbene für die „Drama Queen“. Ein praktisches Accessoire, mit dessen Hilfe Eltern direkt am Schnuller die Ursache fürs Weinen ablesen können: Sie ist eben zickig und macht ein Drama um nichts, er dagegen ist zornig und will seinen Willen durchsetzen.

In den 1970er Jahren waren die bunten Plastiksteine von Lego noch für alle da, heute trennt die Legowelt in ‚City‘ (viele namenlose Männchen mit abenteuerlichen Technikberufen) und ‚Friends‘ (fünf Freundinnen mit Minirock und einem ausgeprägten Interesse fürr Tiere und Accessoires).

Richtete sich die Krimireihe ‚Die drei Fragezeichen‘ früher an alle Kinder, gibt es jetzt die speziell für Mädchen eingeführte Buchreihe: ‚Die drei Ausrufezeichen‘. Drei stupsnasige und langbeinige Freundinnen im Manga-Look, die Aerobic-Stunden nehmen, sich über Pferde und Schminke unterhalten und sich für ältere Jungs interessieren, lösen rätselhafte Fälle: ‚Betrug beim Casting‘, ‚Achtung Promihochzeit‘, ‚Gefahr im Fitness-Studio‘ oder ‚Duell der Topmodels‘. Die Titel sollen signalisieren, wofür moderne Mädchen von heute sich angeblich interessieren, sagt der Kosmos-Verlag.

Die kommerziellen Hintergedanken der verantwortlichen Unternehmen und Werbemenschen sind offensichtlich: Wenn es gelingt, die Konsumenten und Konsumentinnen als zwei strikt unterschiedliche Gruppen zu etablieren, dann lässt sich der Umsatz vielleicht nicht verdoppeln, aber doch beträchtlich erhöhen. Bei Ferrero und Capri-Sonne, bei Lego und Kosmos hat das wunderbar geklappt, so dass jetzt immer mehr Firmen nachziehen.

MarktforscherInnen und WerberInnen nennen ihre Strategie ‚Gendermarketing‘ und sorgen dafür, dass kleine Brüder nicht mehr die Kleidung ihrer großen Schwestern übernehmen können; dass Mädchen scheinbar anderes Spielzeug brauchen als Jungen; andere Freizeitbeschäftigungen, sogar eine andere Ernährung. Dass wir Erwachsenen diesen Weg häufig unterstützen, unbewusst oder aus Gemütlichkeit und Erschöpfung, weil wir den Konflikt leid sind mit unseren Kindern, mit anderen Elternpaaren, den Großeltern, liegt vor allem auch an unseren finanziellen Möglichkeiten. Wir können es uns zumeist leisten, der Tochter ganz andere Schuhe, Bücher, CDs und Computerspiele zu kaufen als dem Sohn, niemand muss mehr teilen oder sein Spielzeug weiterreichen. Unternehmen setzen deshalb mit aller Macht auf die Geschlechterdifferenz, denn angesichts sinkender Geburtenraten scheint das die letzte Möglichkeit, in diesem Bereich noch Umsätze zu steigern.

Die Kommentare unter Artikeln oder Blogeinträgen, die sich kritisch mit den neuesten Auswüchsen des Gendermarketing auseinandersetzen, argumentieren mit dem „freien Willen“: „Wir leben doch in einer freien Welt“, heißt es da, oder: „Wer den Trend nicht mitmachen möchte, kann es ja sein lassen, es wird ja niemand gezwungen.“ Zur Freude der Verantwortlichen in den Unternehmen und Werbeagenturen. Kein Unternehmen, das wir dazu befragt haben, hält sich angeblich selbst für einflussreich genug, um Stereotype festzuschreiben oder Klischees gar zu erschaffen. Im Gegenteil, die Befürworter und StrategInnen des Gendermarketing betonen, sie wollten nichts weiter, als Mädchen und Jungen „bei ihren Grundbedürfnissen abholen“.

Jungen seien nun mal statusorientiert und Mädchen beziehungsorientiert, lautet die Erklärung des Konsumforschers Axel Dammler, auf dessen Untersuchungen sich beispielsweise Ferrero und Capri-Sonne berufen. Dammler: „Jungs und Männer sind deswegen quasi naturgegeben egoistischer, egozentrischer und weniger altruistisch als das weibliche Geschlecht.“ Das Bild vom harten Mann wird munter reproduziert, und das ist unheimlich praktisch, denn mit den angeblich „natürlichen Grundbedürfnissen“ lässt sich jede Art von Verhalten rechtfertigen.

Dabei haben zum Beispiel Kristi Klein und Sara Hodges von der University of Oregon gezeigt: Wenn es eine Belohnung gibt für empathisches Verhalten, wenn Geld für Einfühlungsvermögen in Aussicht gestellt wird, dann schneiden Männer in Empathietests genauso gut ab wie Frauen. Und Frauen schneiden dann besonders gut ab, wenn vor einem Test betont wurde, wie empathisch Frauen ja im Allgemeinen seien. Trotzdem wird das Klischee vom Mann, der keinen Draht zu seinen Gefühlen hat, weiter verbreitet und gleichzeitig werden kleine Jungs seltener getröstet als Mädchen, wenn sie weinen. Ein Indianer kennt nun mal keinen Schmerz. Dieser Spruch hat auch heute noch nicht ausgedient, er wird nur noch getoppt von: „Jetzt hör doch auf zu heulen, du bist doch kein Mädchen“.

Eltern sind für das Stichwort „Grundbedürfnis“ besonders empfänglich, klingt es doch so überlebenswichtig wie Schlafen und Essen. Kein Vater, keine Mutter will den Kindern ihre „Grundbedürfnisse“ verwehren. Zumal wir uns heute letztlich doch alle einig sind, dass unsere Söhne und Töchter die gleichen Möglichkeiten und Rechte bekommen sollten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Wenn dann aber die Tochter in Rosa versinkt, der Sohn dem Nachbarskind mal wieder die Sandschaufel in den Kragen schüttet, dann liegt der Schluss nahe, dass die Biologie doch stärker sein muss, dass wir gegen die Natur eben nicht ankommen. Oder?

Nicht wenige Väter und Mütter sind überzeugt davon, ihre Kinder „neutral“ zu erziehen. Aber das stimmt in den seltensten Fällen. Mädchen und Jungen wachsen anders auf, werden anders behandelt, stoßen auf unterschiedliche Erwartungen der Erwachsenenwelt. Dass wir anders reagieren, wenn uns ein Baby als Junge oder als Mädchen vorgestellt wird, dass wir anders mit ihm oder ihr umgehen, seine oder ihre Handlungen und Reaktionen unterschiedlich bewerten, haben zahlreiche Studien eindrucksvoll belegt.

Tatsächlich beginnt es schon vor der Geburt: Wenn im Ultraschall zum ersten Mal das Geschlecht des ungeborenen Kindes sichtbar wird, verändert sich unbewusst unsere Erwartungshaltung, unsere Reaktion, unsere Stimmlage, mit der wir zum Ungeborenen sprechen. Frauen und Männer, Jungen und Mädchen werden heute wieder zunehmend auf Klischees reduziert. Wir alle werden tagtäglich mit lustigen, ironischen Sprüchen und gephotoshopten Bildern darauf hingewiesen, wie ein Mann, eine Frau, wie ein „richtiger“ Junge und ein „echtes“ Mädchen zu sein haben: was sie zu tragen, essen und zu lieben haben. Und damit sind nicht nur Werbebilder gemeint.

Im Fernsehprogramm ebenso wie im Kino überwiegen traditionelle Rollenbilder, Frauen sind sowohl in den Geschichten als auch hinter der Kamera in der Minderzahl. Zwei von drei aller Hauptfiguren in Film und Fernsehen sind männlich, nur ein Drittel sind weiblich. Die Medienforscherin Maya Götz stellt außerdem fest: „Die Mädchenund Frauen figuren verharren in althergebrachten Klischees vom zuarbeitenden Weibchen, dem konsumverhafteten Luxusgeschöpf oder der schönen Prinzessin, die auf ihre Errettung wartet.“

Natürlich gibt es auch Filme mit weiblichen Hauptrollen, doch die stecken meist in rosa gelabelten DVD-Hüllen und wurden extra für Mädchen produziert. Die Mädchen darin mögen zwar stark und unabhängig sein, doch auch sie sind vor allem makellos schön, langhaarig und besonders schlank. Im Gegenzug sorgt die Verbreitung verzerrter, unrealistischer Männerbilder dafür, dass Jungen ein Rollenverständnis vermittelt wird, das überwiegend von Kriterien wie Stärke, Durchhaltevermögen oder Unabhängigkeit bestimmt ist.

Nicht anders in Computerspielen: Je älter die Zielgruppe, umso deutlicher wird die Geschlechterhierarchie; Kampfszenen nehmen zu, und der Status der Frau sinkt. Über 40 Prozent der GamerInnen in Deutschland sind weiblich, doch Spiele mit weiblicher Hauptrolle sind selten, die männliche Heldenrolle ist der Maßstab der Szene.

„Ist doch schön, dass es Unterschiede gibt, das macht die Welt bunt. Hört auf mit der Gleichmacherei“, lautet ein verbreiteter Vorwurf. Er richtet sich wahllos gegen alle, die sich für eine geschlechtergerechte Erziehung einsetzen. Gleichmacherei ist aber genau das Gegenteil, nämlich: Wenn wir von DEN Jungen und DEN Mädchen als vermeintlich homogener Gruppen sprechen und ihnen naturgegebene Interessen und Neigungen zuschreiben. Individuelle Entscheidungen werden dadurch erschwert, zumal es sich keinesfalls um ein gleichwertiges Nebeneinander handelt. Es gibt keine Trennung in Zwei, ohne dass Wettbewerb und Hierarchie entstehen.

Schon Henry Tajfel belegte mit seinen Studien zur „minimalen Gruppe“ in den 1970er Jahren, dass sogar die Aufteilung einer Gruppe per Losentscheid oder Münzwurf zur Diskriminierung der jeweils anderen führt, die Gruppenmitglieder müssen sich nicht einmal kennen. Zahlreiche internationale Experimente bestätigen: Die eigenen Gruppenmitglieder werden sympathischer, ihre Arbeit besser bewertet, die anderen abgewertet.

Dass auch zwei unterschiedliche Farben schon für eine Hierarchiebildung ausreichen, belegte eine psychologische Studie der University of Texas: Vorschulkinder wurden in eine rote und eine blaue Gruppe aufgeteilt. Drei Wochen lang trugen die einen ein rotes, die anderen ein blaues Shirt. Blaue und Rote wurden gleichmäßig auf zwei Räume verteilt, sodass in beiden Räumen Kinder in roten und in blauen Shirts waren. Im einen Raum wurden die Farben nicht weiter erwähnt, in dem anderen dagegen sprachen die ErzieherInnen die beiden Gruppen immer wieder an: „Guten Morgen Blaue, guten Morgen Rote“. Die Kinder sollten sich morgens in zwei Reihen nach Rot und Blau aufstellen und so weiter, ihre Zugehörigkeit wurde immer wieder betont. Im Anschluss zeigte sich, dass alle Kinder lieber mit Kindern derselben Farbgruppe spielen wollten und auch Spielsachen lieber mochten, die die Kinder der eigenen Gruppe bevorzugten. Diese Vorlieben waren jedoch bei den Kindern besonders stark ausgeprägt, die immer wieder auf ihre Gruppenzugehörigkeit hingewiesen wurden. Kein Wunder also, dass Mädchen sich für Rosa entscheiden, wenn die Umwelt ihnen von Geburt an vermittelt: Rosa passt zu Mädchen, Blau ist die Farbe der anderen.

Mädchen und Jungen spüren von Anfang an, dass in der rosa-hellblauen Unterscheidung der Erwachsenenwelt immer auch eine Wertung steckt. Ein kleiner Junge, der sich fürs Ballett interessiert oder sich einen Schminkkopf zu Weihnachten wünscht, erfährt andere Reaktionen als ein Mädchen, das im Fußballverein Erfolg hat oder sich einen Chemiekasten wünscht. Warum also sollte sich ein Junge hinab begeben in die weibliche Sphäre von Empathie, Fürsorge und Haushaltsarbeit, warum sollte er von sich aus auf die Wertschätzung verzichten, auf all die Privilegien, die wir ihm so bereitwillig zugestehen? All die Kämpfe, die wir in der Erwachsenenwelt austragen, die Diskussionen um Alltagssexismus, um Diskriminierung und Prostitution, Pay Gap und Frauenquote, Gender Care Gap, all diese Auseinandersetzungen verlieren ihre Bedeutung, wenn es uns nicht gelingt, die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte an unsere Kinder weiter zu geben.

Vor ein paar Wochen habe ich mit meiner Tochter auf dem Kleiderflohmarkt ein Paar Turnschuhe entdeckt, sie waren nagelneu und ein Schnäppchen. Ich war erleichtert, beim Schuhkauf mal günstiger weggekommen zu sein, und Mika freute sich schon, die Schuhe gleich am nächsten Tag in der Schule tragen zu können. Doch innerhalb eines einzigen Vormittags verloren die Schuhe an Chic, und daran war ein kleines, aber entscheidendes Detail schuld: Sie sind blau. Das wusste Mika zwar vorher schon, schließlich ist das ihre erklärte Lieblingsfarbe, und trotzdem lernte sie noch vor Beginn der ersten Stunde von ihren Freundinnen: „Das sind doch Jungsschuhe!“

Mit knapp drei Jahren ließ sich meine Tochter noch von mir überzeugen, dass ihre blauen Turnschuhe genau die richtigen für sie sind, und weder ich noch sie hielten uns länger mit der Farbfrage auf. Doch inzwischen ist Mika zwölf und macht sich zwar einerseits über die Kommentare der Freundinnen lustig, andererseits stehen die Schuhe seither im Regal. Angeblich reiben sie an der Ferse.

Almut Schnerring - Aktualisierte Fassung vom 8.12.2017

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Der Lillifee-Komplex

Prinzessin Lillifee - in erster Linie Rosa mit Glitzer.
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Vielleicht ist ja am Ende die ­Kar­toffel schuld an der ganzen Geschmacksverirrung meiner Tochter. Wo die Kartoffel doch schon am Materialismus der Kleinen schuld ist, das behauptet zumindest Rudolf Steiner: Die Kartoffel wirkt durch die Erdgerichtetheit ihrer Keimblätter sehr stark auf das Nervensystem, schwächt damit das meditativ-verinnerlichende Denken und stärkt den reflektierenden Verstand. Darin sieht Steiner den Beweis, dass durch die Kartoffel ein auf das Materialistische reduziertes Vorstellungs­leben gefördert wird. Vielleicht, fragt man sich als ratloser Vater inmitten eines Lillifee-Zimmers, vielleicht sollten wir mal versuchen, unserer Tochter die Kartoffeln zu verbieten? Wenn sonst schon nichts hilft.

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Lillifee ist nämlich eindeutig eine ­Ausgeburt des Materialismus und der oberflächlichen Sinneswahrnehmung. Ach was, Lillifee ist das Raffinierteste und Hinterhältigste, was die Industrie in den vergangenen Jahren ersonnen hat, um kleine Mädchen zu Konsumgören zu ­deformieren. Man kann als Eltern noch so nachhaltig, vollwertig, konsumkritisch leben, reden, schenken, die Tochter will: Lillifee. Lillifee und dazu am besten all die Lillifee-Produkte, die jeder Spielzeugladen heute auf mindestens einem gesamten Stockwerk führt. Oder haben sich fünfjährige Mädchen vor zwanzig Jahren auch rosa Lipgloss zum Geburtstag gewünscht?

Für alle, die keine Töchter zwischen zwei und acht Jahren haben: Lillifee ist ein anorektisches Wesen mit Glitzer­flügeln, Kussmündchen und blonden Wuschelhaaren, das in einem „Blütenschloss im Zaubergarten des Zauberlandes Pinkoviana“ lebt, einem Paradies ohne Konflikte. Lillifee trägt rosa Ballerinas, lächelt immer und ist von klinisch reiner Niedlichkeit. Sie hat keine Ideen, hat noch nie einen witzigen Satz gesagt und besitzt auch nicht ansatzweise so etwas wie einen eigenen Charakter.

Erschaffen wurde das Wesen 2004, also erst vor sechs Jahren, es hat sich seither aber schneller über das Land verbreitet als die Schweinegrippe oder Ebola. Monika Finsterbusch, die Frau, die Lillifee erfunden hat, war zuvor Modedesignerin und hat Plüschtiere entworfen. In Interviews sagt sie, sie habe mit Lillifee etwas „positiv Mädchenhaftes“ entwerfen wollen. Alltag, Schule, Eltern, Konflikte, all das interessiere sie nicht, wichtig sei, „die Kinder in eine Traumwelt zu entführen“.

Diese Traumwelt freilich ist voll gerümpelt mit mehr als dreihundert Lillifee-­Produkten, die die Firma Coppenrath mittlerweile im Angebot hat. All diese Produkte sind in ein und demselben ­milchig-milden Rosaton gehalten: Glitzer­tattoos, Beauty-Sets, Bademäntel, Fahrradsattelschutz, Tapeten, Butterbrotdose, Zahnbürsten, Trinkflaschen, Noppenkondome, Handfeuerwaffen und Giftgasmasken. Pardon, die letzten drei Produkte gibt es natürlich nicht im Sortiment, ­besser gesagt: noch nicht. Shampoo aber schon, das selbstverständlich ph-hautneutral und alkaliseifenfrei ist und nicht einfach Shampoo, sondern Anti-Ziep-Shampoo heißt. Man kauft es am besten zusammen mit dem rosa Schaumbad „Feenstaub“, das „kleine Glitterpartikelchen“ enthält, was mich daran erinnert, dass ich unseren Kindern kürzlich ein polnisches Märchen vorlas, in dem drei Söhne ausziehen, um das Glück zu suchen. Danach fragte ich: „Was ist denn für euch beide das Glück?“ Unser Sohn sagte: „Meine Hasen und die Marionetten.“ Unsere Tochter sagte: „Rosa mit so ein bisschen Glitzer drin.“ Wow, dachte ich, ihr schäbigen Industriemogule, da habt ihr ganze Arbeit geleistet, wenn eine Fünfjährige das Glück mit der Lillifee-Ästhetik gleichsetzt.

Nun hat die Lillifee-Industrie das Rosa wahrlich nicht erfunden. In den Spielzeugläden von Toys’r’us sind die Gänge mit Mädchenspielzeug durchgehend rosa, abgesehen von vereinzelten Farbtupfern in Mintgrün, Lila und Orange. Fragt man Verkäufer, woran es liegt, dass Mädchen derart auf Rosa abfahren, sagen sie achselzuckend, das sei so stark in den Mädchen drin, das müsse genetisch bedingt sein.

Für diese These spricht, dass die für Roterkennung zuständigen Gene auf dem weiblichen X-Chromosom gelagert sind. Man könnte daraus schließen, dass dieses Chromosom bei kleinen Mädchen eben noch nicht ausgewachsen ist, dass Rosa also eine Art Schrumpfform von Rot darstellt. Gegen die These spricht allerdings die Tatsache, dass Rosa noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Jungenfarbe galt: Als die belgische Prinzessin Astrid 1927 ein Mädchen zur Welt brachte, schrieb das amerikanische Magazin Time, die Mutter sei nun sicher enttäuscht, schließlich sei die Wiege in Erwartung eines Stammhalters „in der Jungenfarbe“ dekoriert worden – in Rosa. Die Mädchenfarbe war damals Blau, schließlich war das in der Kunstgeschichte von jeher die Farbe der Jungfrau Maria gewesen. Das amerikanische Ladies’ Home Journal begründete die Zuordnung 1918 damit, Pink sei nun mal die „kräftigere und damit für Jungen geeignete Farbe“. Der Siegeszug des weiblichen Rosa begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

Psychologisch gesehen, steht Rosa für Schutz und Sanftheit. Es ist erwiesen, dass Säuglinge in rosafarbenen Wänden weniger weinen als etwa in hellgelben. Bei Erwachsenen scheint das ähnlich zu sein: Im Schweizer Untersuchungsgefängnis Pfäffikon gibt es eine Zelle, die ganz in Rosa ­gehalten ist. In diese Zelle kommen Insassen mit einem hohen Maß an Gewaltbereitschaft.

Nach spätestens einem Tag sind die Häftlinge farbsediert. Der amerikanische Naturwissenschaftler Alexander Schauss stellte bereits in den 1970er Jahren fest, dass die Farbe Pink eine beruhigende Wirkung auf aggressive Häftlinge habe. Auf kleine Mädchen aber scheint Rosa anders zu wirken: Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass das Spielen mit Lillifee unsere Tochter zu einem friedlichen Wesen macht. Im Gegenteil, es erzeugt Unzufriedenheit, weil sie immer noch mehr von dem Prinzessinnenzeugs haben will.

Gundel Mattenklott erwähnt in „Zauberkreide“, ihrem historischen Überblick über die Kinder- und Jugendbuchliteratur zwischen 1945 und 1989, kein einziges Buch, das eine Prinzessin im Titel hätte. Heute bietet der Loewe-Verlag „Prinzessin Rosalea“, Ravensburger hat „Meine kleine Prinzessin“ im Angebot und Tessloff den Ratgeber „Wie werde ich Prinzessin in nur sieben Tagen“.

Und ganz vorneweg ist Lillifee, in der gleich zwei Kleinmädchenträume miteinander geklont wurden – der von der Prinzessin, der man alle Wünsche erfüllt, und der von der Zauberfee. All diese Prinzessinnen haben zweierlei gemeinsam: Zum einen sind sie keine sozialen Wesen, sondern gleichen eher autistischen Einzelkindern, die um sich selbst und ihre Wünsche kreisen. Im Lillifee-Film besitzt die Prinzessin einen befliegbaren Kleiderschrank von der Größe einer Turnhalle. Damit einhergehend sind sie alle als Prinzessinnen verkleidete Kampfdrohnen der Spielzeugindustrie. Sie alle dienen nur dazu, möglichst viel Merchandising-Zeugs an den Mann, das heißt, an die kleinen Mädchen zu bringen. Etwa die Hälfte seines Umsatzes von 70 Millionen Euro macht der Coppenrath-Verlag mit den so genannten Non-Book-Artikeln.

Es gibt auch so genannte Lillifee-­Bücher, die angeblich darin erzählten ­Geschichten sind aber keine. Nach der Handlung dieser Bücher zu fragen, führt zu nichts, man kann ja auch nicht fragen, was die Handlung eines Bildschirmschoners ist. Die Bücher sind einfach nur hübsch anzuschauen. Eine Handlung setzt innere Veränderung voraus. Lillifee aber bleibt die, die sie von ­Anfang an war – eine sterile, keimfreie Projektionsfläche, um die herum Waren drapiert werden.

Immer wenn ich derart vor mich hin schimpfe, sagt meine Frau, sie habe früher auch tagelang ihre Barbies frisiert und die seien ja wohl sexistischer gewesen als dieses kleine Feenwesen. Genau das aber ist der Punkt, den ich so perfide finde: Barbie ist eine junge Frau, klar, mit einem Körper, der jedem Orthopäden Albträume bereiten muss. Als Frau wäre sie 2,26 Meter groß und nicht überlebensfähig. Doch Barbie nimmt – stellvertretend für die Mädchen – das Erwachsensein vorweg; die Mädchen versuchen aber nicht, ihren Lifestyle zu kopieren.

Lillifee hingegen ist ein Kind und holt die Konsumwelt der Erwachsenen mitten ins Kinderzimmer. Im Coppenrath-Katalog sieht man ein sechsjähriges Mädchen im Lillifee-Bademantel in den Lillifee-Spiegel schauen und ihre aufgeworfenen Lippen betrachten.

Die Frage ist, wie man als Eltern mit einer derartigen Geschmacksverirrung des eigenen Kindes umgehen soll. Verbieten? Oder soll man gar, wie die britischen Zwillingsschwestern und Mütter Emma und Abi Moore mit ihrer Kampagne „Pink stinks“, einen Feldzug gegen das omnipräsente Kinderzimmerrosa anzetteln? Und damit Gefahr laufen, dass ­dieser unterdrückte Wunsch irgendwann wie ein verdrängtes Trauma machtvoll ­zurückkehrt?

Nichts Schlimmeres als diese Eltern, die sagen, ihr Kind habe ja mittlerweile auch eingesehen, wie scheußlich Rosa ist, gell, Melanie? Und Melanie steht bedröppelt daneben und nickt mit dem Kopf. Man würde dann als Eltern denselben Fehler machen wie die Feministinnen der 1970er Jahre: Die US-Professorin Jo Paoletti ­behauptet in ihrem Buch „Pink and Blue – Telling the Boys from the Girls“, Rosa sei erst durch die Emanzipationsbewegung eindeutig weiblich besetzt worden. Gerade durch das vehemente Schimpfen auf alle Pinktöne hätte auch der Letzte die geschlechtliche Zuordnung verinnerlicht. Vielleicht lässt man die rosa Periode also einfach über sich hinwegziehen und hofft darauf, dass sie sich im Laufe der Zeit schon auswachsen wird.

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