Das Kopftuch ist ein Symbol
Die Debatten, die die so genannte Schleieraffäre im Herbst 1989 in Frankreich auslöste, erinnerten in ihrer Heftigkeit an die Diskussion um die Abtreibung oder die Todesstrafe. Mehr noch: Die Schleieraffäre löste erstmals eine ideologische Teilung der Linken aus, innerhalb von Zeitungen, Universitäten und unter Mitgliedern von Parteien und Gewerkschaften. Sogar die feministische Front hatte Einbrüche zu verzeichnen.
Ein Teil der ausländischen Presse berichtete breit darüber, aber oft, ohne wirklich zu verstehen, warum wegen drei junger Mädchen, die im Tschador, dem Ganzkörperschleier, zur Schule kamen, das gallische Blut so in Wallung geriet. Ich sehe noch den fassungslosen Blick einer jungen dänischen Journalistin, die mich fragte: "Warum machen Sie ein solches Theater um die drei Kopftücher? Hat man in Frankreich nicht das Recht, anzuziehen, was man will?"
Um zu verstehen, warum drei Mädchen in Kopftüchern so ein Sprengsatz sind in diesem gemächlichen Land, muss man daran erinnern, dass diese drei armen Unschuldigen, ohne es zu ahnen, an die explosivsten Probleme der französischen Gesellschaft gerührt haben, als da sind: das Hochschnellen des Fundamentalismus, das Ansteigen des Rassismus, sowie die erneute Infragestellung der Gleichheit der Geschlechter und des republikanischen Prinzips der Weltlichkeit.
Durch ihre sture Entschlossenheit, sich nicht dem allgemeinen Gesetz zu beugen, zerrten diese drei jungen Mädchen – oder genauer: ihre Väter – einen tiefen philosophischen Konflikt ans Licht, der schon seit einiger Zeit unter der Asche schwelte: den zwischen den Differenzialisten und den Universalisten. Anders gesagt: den Konflikt zwischen den Anhängern eines Rechts auf den Unterschied und denen des Rechts auf Gleichheit.
Worum ging es damals? Nach den großen Ferien kamen drei junge Marokkanerinnen und Tunesierinnen plötzlich mit islamischem Ganzkörperschleier in die Klasse. Der Rektor der staatlichen Schule versuchte, den Mädchen und ihren Vätern – Mütter bekam man nie zu Gesicht – klarzumachen, dass die staatliche Schule in Frankreich weltlich ist und ostentative Zeichen einer Religion (oder der Ungleichheit der Geschlechter) innerhalb der Schule nicht gebilligt werden können – auch wenn außerhalb jeder das tun kann, was er möchte.
Doch die Väter weigerten sich hartnäckig, sich der Regel zu beugen und erklärten öffentlich, sie würden nicht zurückweichen: Entweder gingen ihre Töchter mit Hijab zur Schule oder sie blieben zu Hause.
Nun forderte die rechte Opposition die linke Regierung auf, das Problem zu lösen. Der sozialistische Erziehungsminister ergriff in der Nationalversammlung das Wort. Jeder erwartete, er würde an die republikanischen Prinzipien des Laizismus (der Weltlichkeit) erinnern und den von den muselmanischen Vätern bedrängten Schuldirektor unterstützen. Doch der Minister forderte im Gegenteil "Toleranz mit Minderheiten", aus Angst vor einer Verhärtung des Fundamentalismus in Frankreich entschied er sich für die verschleierten Mädchen. "Wenn es wirklich nicht möglich ist, sie davon zu überzeugen, ihren Hijab auszuziehen – ja dann werden wir abwarten, ob sie ihn später ausziehen."
Das war der Moment, wo die Polemik losging. Die Schlagzeilen beherrschten zwei Monate lang die Zeitungen, Radios und das Fernsehen. Fünf Philosophen, darunter ich, appellierten feierlich an die Lehrer, die Prinzipien der Weltlichkeit der Schule und der Gleichheit der Geschlechter zu verteidigen! Daraufhin erschienen zahlreiche Manifeste, die uns des Rassismus beschuldigten. Sie waren oft unterzeichnet von unseren ältesten Freunden ...
Wir haben es seit etwa zehn Jahren mit einem rasanten Anstieg diverser religiöser Fundamentalisten zu tun, die sich gegenseitig unterstützen, sobald es nötig ist. Sie bilden die "heilige Allianz der Religionen", wie es Alain Finkielkraut so treffend gesagt hat. Sie sind katholisch, muselmanisch oder jüdisch. Sie sind es, die mit einer einzigen Stimme "Die letzte Versuchung Christi" von Martin Scorsese oder "Die satanischen Verse" von Salman Rushdie verurteilen. Oder die begrüßen, dass junge Muselmaninnen den Schleier tragen – der nicht zufällig auch das Zeichen ihrer Unterwerfung unter das Gesetz des Mannes ist!
Auch der große Rabbiner von Frankreich unterstützte den muselmanischen Fundamentalismus und forderte bei der Gelegenheit das Recht für seine Schäfchen, in der Schule die Kippa zu tragen und schulfrei Freitag nachmittags und samstags, um den Sabbat heiligen zu können. Ebenso hielt es das katholische Epikopat, das nie aufgehört hat, den Katechismusunterricht im Rahmen der staatlichen Schulen zu fordern. Ob sie es zugeben oder nicht: Die Republik ist in ihren Augen immer noch eine Hure, die sich eigentlich den vier Willen der orthodoxen Religiösen unterzuordnen hat, denn ein Bürger ist allemal weniger wert als ein Gläubiger.
Diese Religiösen verstehen es, zunächst einmal zusammenzuhalten, um ihre Sache voranzutreiben – ohne zu sehen, dass sie letztendlich so auch die Auflösung ihrer eigenen Werte fördern, sowie das Prinzip der Universalität aller Bürger. Sie sehen heute nicht, dass sie sich in einer zweiten Phase untereinander zerreißen werden, um ihren Glauben den jeweils anderen aufzuzwingen.
Man sollte glauben, dass die gesamte Linke und auch das republikanische Frankreich das durchschaut. Aber nein, offizielle Stimmen vertraten die Auffassung, dass dieses weltliche Verständnis von der Gesellschaft überholt sei, und dass das heilige Recht auf den Unterschied (ich komme darauf zurück) jedem Menschen erlauben sollte, jederzeit und an jedem Ort seine religiösen Präferenzen auszuleben – ohne Rücksicht auf die für alle geltenden Gesetze.
Ich versuchte, den jungen Leuten, die von "Toleranz" sprachen ("Man soll anziehen können, was man will."), zu erklären, dass der Schleier alles andere als nur ein Kleidungsstück sei: Er ist das Symbol der Unterdrückung eines Geschlechts! Eine zerfetzte Jeans anziehen, sich die Haare gelb oder blau färben, das sind Befreiungsakte gegen die geltenden Konventionen. Aber seine Haare unter einem Kopftuch verstecken, das ist ein Akt der Unterwerfung. Er überschattet das ganze Leben einer Frau, Ihr Vater oder ihr Bruder werden ihr ihren Mann aussuchen, der mehrere Frauen heiraten darf.
Es muss einem klar sein, dass die Frauen nicht zufällig die Hauptzielscheibe der Fundamentalisten sind. Denn sie sind diejenigen, die sich als erste in die französische Demokratie integriert haben. Das ist kein Zufall: sie profitieren am meisten davon: Schule, Verhütung, Abtreibung ... Ist es ein Zufall, dass sich die Fruchtbarkeitsrate der Gastarbeiterinnen, vor allem der arabischen, auch in Frankreich (und Deutschland, Anm.d.Red.) mehr und mehr dem französischen Durchschnitt nähert? Die Emigrantinnen bekommen jetzt weniger Kinder und gehen mehr zur Schule, sie wollen teilhaben an dieser Art von Freiheit und der Gleichberechtigung der Geschlechter. Sie sind darum die ersten, die die Fundamentalisten unterwerfen wollen – und genau das ist der Knackpunkt bei der konzertierten Schleieraffäre.
Unter dem Druck der Fundamentalisten steigt die Zahl der verschleierten Frauen in den letzten Jahren rapide an. Auch in Frankreich. Und die LehrerInnen lassen es hilflos geschehen – aus Angst, sonst für rassistisch gehalten zu werden. Aber wenn die französische Schule das zulässt, entwaffnet sie alle diejenigen, die sich nicht unterwerfen wollen. Denn noch kann ein junges Mädchen, das den Schleier nicht tragen will, ohne Problem Nein zu ihrem Vater sagen, weil sie sich dabei auf das weltliche Gesetz beruft. Ohne öffentliche Regeln aber steht sie ihm allein gegenüber und verliert.
Wenn die Schleieraffäre so heftige Reaktionen ausgelöst hat, so liegt das auch daran, dass das Kopftuch das Symbol des muselmanischen Fundamentalismus an sich ist. Dabei haben die einen ein politisches Interesse daran, den Islam mit dem Fundamentalismus gleichzusetzen, um so den immer stärker werdenden Rassismus der Rechtsextremen anzuheizen. Die anderen, darunter auch engagierte Antirassisten, leugnen einfach die Existenz des muselmanischen Fundamentalismus in unseren Ländern und beschuldigen alle, die von dem Problem reden, den Rassisten in die Hände zu spielen.
Doch ich bin der Meinung, dass man den Rassismus nicht bekämpfen kann, ohne dem Fundamentalismus Einhalt zu gebieten. Es ist schwer, aber der einzig mögliche Weg. Folgen wir ihm nicht, verlieren wir ganz den Boden unter den Füßen. Denn dann sind wir einerseits Komplizen der fundamentalistischen Offensive und aller ihrer furchtbaren Folgen, vor allem für Frauen. Und wir unterstützen andererseits die rassistischen Rechtsextremen, die, um die Angst zu schüren, den ganzen Islam gleichsetzen mit dem Fundamentalismus. Die gefährlichste Antwort auf diese faschistische Demagogie ist das heftige Leugnen der Existenz des Fundamentalismus.
In Wahrheit steckt hinter diesem Streit eine tiefe grundsätzliche Meinungsverschiedenheit. In ihr stehen auf der einen Seite die 68er, die Differenzialisten, die Söhne von Michel Foucault und Levi Strauss. Sie fordern das Recht auf den Unterschied, auf die Differenz. Auf der anderen Seite stehen die Universalisten, die Erben der Aufklärung und der französischen Revolution. Für sie kommt eine Aufweichung der weltlichen und republikanischen Prinzipien, die für alle, unabhängig von Religion und Geschlecht, gelten, nicht infrage. Die einen hüten sich vor dem Gesetz, das sie für normativ, konformistisch, ja sogar imperialistisch halten. Die anderen setzen auf dieses Gesetz, weil sie gegen die Ghettos, gegen das Isolieren und gegen das Spalten von Menschen in Geschlechter und Rassen sind.
Unter dem Druck der Botschaften ihrer Heimatländer legten die Mädchen schließlich den Schleier in der Schule ab. Jedoch die wesentlichen Fragen, die dahinter stehen, sind zurückgefallen ins Schweigen.
Die Philosophin und Schriftstellerin veröffentliche den Text in EMMA 1991. Ungekürzte Fassung in: "Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz" (Hrg. Alice Schwarzer, KiWi-TB, 9.95 €)