Esmahan Aykol: Picknick in Istanbul

Artikel teilen

Eigentlich hatten sie das Picknick für Sonntag, den 17. Juli geplant. Am 15. Juli kam über Nacht der Putschversuch, der das ganze Land erschütterte. Horror. Klar wurde das Picknick verschoben. Am darauffolgenden Sonntag, dem 24. Juli, organisierte die sozialdemokratische CHP, unterstützt von einigen linken Gruppen und Gewerkschaften, auf dem Taksim-Platz in Istanbul eine Demo mit der Parole: „Nein zum Putsch und zur Diktatur!“ Die Frauen der Plattform waren wieder nicht beim Picknick, sondern unter den einigen hunderttausend Menschen am Platz.

Anzeige

Für Erdoğan sind kinderlose Frauen nur "Halbfrauen"

Am Sonntag, den 31. Juli, fand das von den Frauen der Plattform „Wir werden die Frauenmorde stoppen“ organisierte Picknick statt. Also trafen wir – rund hundert Frauen – uns am frühen Nachmittag im „Park des Weltfriedens“ in Beşiktaş. Alle hatten etwas mitgebracht: Oliven, Käse, Tomaten, Sesamkringel und Brot.

Ich hatte die Frauen zuletzt bei einer Kundgebung Anfang Juni gesehen. Da hatten wir demonstriert, weil Präsident Erdoğan kinderlose Frauen als „Halbfrauen“ bezeichnet hatte. In seiner Rede vor dem „Verein für Frauen und Demokratie“ hatte er gesagt: „Die Frauen, die für ihren Beruf auf Kinder verzichteten, verleugnen ihre Weiblichkeit. Es sind Halbfrauen.“ Dann wiederholte er seine Aufforderung an alle Frauen, mindestens drei, besser noch fünf Kinder zur Welt zu bringen.

Am selben Abend hatten die Frauen von der Plattform über Soziale Medien eine Kundgebung am Galatasaray bekannt gegeben. Am nächsten Nachmittag waren wir über hundert Frauen, meist Junge, Kinderlose, aber auch dreifache Mütter mit oder ohne Kopftuch, wir alle hatten es satt, dass Erdoğan uns sagt, was wir zu tun hätten.

Bei diesem Picknick Ende Juli war unübersehbar: Die Frauenorganisation erreicht heute mehr Frauen. Gülsüm Kav von der Plattform sagt: „Wir haben mehr Mitglieder als vor einem Jahr, auch viel mehr Unterstützung von Frauen. Und das nicht nur in Istanbul, sondern auch in kleinen Städten in Anatolien. Dabei ist es egal, welche politische Ansicht eine Frau hat, sie unterstützt unseren Kampf gegen die Frauenmorde. Das geht jede Frau an.“

Im ersten Halbjahr 2016 sind in der Türkei 153 Frauen von ihren Ehemännern, Freunden oder Vätern und Brüdern umgebracht worden. Gülsüm: „Der Staat erhebt seit 2010 keine Statistiken mehr über Frauenmorde,  weil die Zahlen große Empörung ausgelöst haben. Die genannten Zahlen sind unsere eigenen: Wir lesen Zeitung und versuchen die Angehörigen, die Familien der ermordeten Frauen zu erreichen. Oder sie finden uns, wenn sie Unterstützung brauchen. Wir geben nicht nur moralische Unterstützung für die Familie, wir haben auch Rechtsanwältinnen, die ehrenamtlich diese Familien vertreten.“

Bei ihrem Kongress am 8. März 2016 haben die Frauen entschieden, sich zukünftig nicht nur um Frauenmorde, sondern auch um sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder und um Mobbing gegen Frauen in der Arbeitswelt zu kümmern. Fidan erzählt, wie es dazu kam: „Meine Handynummer steht auf unserer Internetseite. Ich bekam jede Woche drei bis vier Anrufe von Opfern sexueller Gewalt oder von Frauen, die empört über Berichte über sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder in den Medien reagierten. Ein Skandal nach dem anderen kam ans Tageslicht.

Jungen wurden in Koran-Schulen von Lehrern vergewaltigt wie beim Ensar E.V. Oder Mädchen wurden von Männerhorden in kleinen Städten Anatoliens wie z.B. Siirt oder Frauen in Bussen belästigt. Auch Mobbingopfer, die Beistand brauchten, haben uns angerufen. Seit Februar haben wir Vertretungen in 20 anatolischen Städten. Es sind dort die einheimischen Frauen, die mutig kämpfen.“

Der Kampf gegen sexuelle Gewalt hat inzwischen auch Anatolien erreicht

Rechtsanwältinnen der Plattform vertreten ehrenamtlich Familien der Opfer. Auch beim Picknick waren einige Rechtsanwältinnen dabei. Wie Nimet Karabulut. Fadik erzählt, wie sie sich kennengelernt haben: „Ich war beim Gericht wegen eines Frauenmordes in Kartal. Als ich sah, dass Nimet interessiert zu uns guckte, bin ich zu ihr gegangen und habe sie gefragt, ob sie ehrenamtlich für uns arbeiten will. Sie sagte sofort: Ja, selbstverständlich. Als ob sie darauf gewartet hatte.“

Was aber erwartet die Türkinnen nach dem Putschversuch? Der Ausnahmezustand, der seither in der Türkei herrscht, ist im Zentrum Istanbuls kaum zu spüren. Aber Gülsüm macht sich Sorgen: „Wenn in einer Gesellschaft Gewalt ausbricht, sind Frauen immer diejenigen, die am stärksten davon betroffen sind. Das kennen wir von Ländern, wo Krieg herrscht. Aber auch in kurdischen Städten in der Ost-Türkei ist es so. Die Regierung sagt, es soll erleichtert werden, einen Waffenschein zu bekommen. In den letzten Jahren wurden immer wieder Frauen mit genau diesen Waffen umgebracht.“

Wir sind den ganzen Nachmittag im Park geblieben. Wir haben gegessen, Tee getrunken und geredet. Nach so schweren Tagen war es heilsam, zusammen zu sein. Fidan hat uns versprochen, das Picknick bald zu wiederholen.

Esmahan Aykol

 

Artikel teilen

Cigdem Toprak: Hallo, Schwestern!

Melek Özman: "Ich habe am meisten Angst davor, Angst zu haben.
Artikel teilen

Als Türkinnen in der Nacht des Putsches in der ersten Reihe protestierten, ertönten Sprüche wie: „Unsere Schwestern sollen zuhause bleiben und beten!“ Der Protest gegen den Putschversuch war begleitet von islamistischen Parolen der IS-­Sympathisanten, sexistischen Sprüchen und sexuellen Belästigungen. Und der Manager eines Fußballclubs twitterte, man solle die Ehefrauen der Putschisten vergewaltigen – erst nach heftiger Kritik in den Sozialen Medien entschuldigte er sich und erklärte seinen Rücktritt.

Anzeige

Seit Jahrzehnten kämpft die türkische Frauenbewegung für die Verbesserung der Frauenrechte, für die strikte Einhaltung der verfassungsrechtlich garantierten Geschlechtergleichheit und gegen die alltägliche Gewalt gegen Frauen – ob häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt oder Ehrenmorde. Doch die jüngsten politischen Krisen lassen das Thema Frauenrechte zweitrangig scheinen – aber die Frauen fühlen sich noch stärker bedroht als zuvor.

„Am meisten habe ich Angst davor, Angst zu haben – und davor, dass wir uns in Ghettos zurückziehen“, sagt Melek Özman, Filmemacherin und Mitbegründerin von Filmmor – einer Frauenorganisation, die jährlich das gleichnamige feministische Filmfestival organisiert. „Doch es ist schwierig zu erahnen, was auf uns zukommt“, sagt sie. „Vor dem Hintergrund der Gewalt im letzten Jahr und vor allem der Ereignisse nach dem Putschversuch sind Frauen kein Thema mehr. Wie sollen wir noch über Frauenrechte sprechen in einer Zeit, in der die Europäische Menschenrechtskonvention aufgehoben wurde?“

Nur wenige Tage nach der Aufhebung der Menschenrechtskonvention wurde das Gesetz zur chemischen Kastration von so genannten „Triebtätern“ verabschiedet. „Dieses Gesetz verletzt das Recht auf Fortpflanzung und das Recht auf Verweigerung von Medikamenten“, klagt Canan Güllü, Präsidentin der „Federation of Women Association of Turkey“. Und sie fährt fort: „Unsere Forderung lautet: ­Geschlechtergleichheit nach der Istanbul-Konvention muss an Schulen unterrichtet werden! Das wäre ein erster Schritt auch zur Prävention gegen sexuelle Gewalt.“

Die Türkei unterzeichnete 2011 als erster Staat das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ – und das unter der AKP-Führung. Auch wurden die Rechte der Frauen in den letzten 14 Jahren formal erheblich gestärkt: Die türkischen Frauenorganisationen hatten erfolgreich Druck auf die Regierung ausgeübt.

Gleichzeitig aber verfolgt die AKP mit ihrem konservativen Verständnis von der Rolle der Frauen eine Politik, die die Frau „Zuhause“ und als „Mutter“ verortet. So wurde 2011 das staatliche Frauen- und Familienministerium – trotz des Widerstandes von türkischen Frauenorganisa­tionen – in ein „Ministerium für Soziales und Familie“ umbenannt. Der Staat hat ‚die Frau‘ durch ‚die Familie‘ ersetzt.

Melek Özman: „Die Frauenbewegung kämpft nun seit den 1980er Jahren. Und wenn sie in 30 Jahren einen Schritt nach vorne geschafft hat, wurde sie in den letzten zehn Jahren zwei Schritte zurück­gedrängt.“ Eine Studie über die Frauenmorde belegt, dass der Grund für die erhöhte Gewalt gegen die Frauen allen voran darin liegt, dass die Frauen selbstbewusster werden – und sich den Männern widersetzen. Güllü: „Frauen möchten ihre eigenen Entscheidungen über ihr Leben fällen. Sie nehmen dafür den Tod in Kauf.“

Cigdem Toprak

Weiterlesen
 
Zur Startseite