Identitätsdebatte: FLINTA* statt Frau

Frauen? Sind nicht mehr angesagt. Übermaltes Plakat in Halle.
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Ich bin jetzt eine FLINTA*. Gefragt hat mich zwar niemand. Aber das F im Kürzel steht für "Frau" und meint mich mit; ich kann mich also nicht beschweren. Für alle außerhalb der Blase: Es heißt jetzt FLINTA* (siehe Glossar unten). "Frau" ist zum Problem geworden. Wer "Frau" sagt, um die ganz normale, nicht auszurottende Geschlechterungerechtigkeit zu verbalisieren, ist transfeindlich und hält am Binären fest.

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Egal ob Mädchenmord, Sexualverbrechen oder Gender-Pay-Gap: Es sind FLINTA*s, die darunter leiden. Wenn ich sprachästhetische oder ideologische Bedenken habe und mich frage, was passiert, wenn die Kategorie Frau einfach so verschwindet - aber nicht die Kategorie Mann - bin ich unten durch. Dann krieg ich ein neues Kürzel verpasst: FART oder TERF. Diskussion beendet.

Menschen außerhalb der netzfeministischen Blase mögen Diskussionen um cis und trans, J. K. Rowling und Alice Schwarzer und SWERF und TWERF vielleicht als realitätsfremdes Gewäsch befremden – für Feministinnen sind sie zum täglichen Eiertanz im identitätspolitischen Ballett geworden. Nicht nur in den sozialen Medien wird gebissen, gedroht und gecancelt: Darüber, was pfui oder super ist, richtet der netzfeministische Identitätsdiskurs mit knackigen Tweets, bunten Insta-Kacheln und Facebook-Videos ohne Grauzonen und Diskussionskultur. Das kann sich schon mal zu Ausladungen und zu Entlassungen von einschlägigen Intellektuellen steigern – gern auch zu Gewaltandrohungen und Bücherverbrennungen. Wer Diskurs will, darf nicht zimperlich sein.

Darüber, was pfui oder super ist, richtet der Identitätsdiskurs mit knackigen Tweets

Weil der Feminismus der Gegenwart für alle Debatten zuständig ist, in denen auch nur ein einziges Östrogenmolekül nachweisbar ist, hat er auch die ganze Diskursmasse am Hals. Je größer die Fittiche, desto diverser die Lebensrealitäten der Betroffenen. Eine heterosexuelle, teilzeitarbeitende Frau mit kleinen Kindern hat ganz andere Probleme als eine transsexuelle Sexarbeiterin - und doch sollen sie von ein und demselben Feminismus vertreten sein, der alles mitdenkt: Religion, Sexualität, Sprache, Gender, Kolonialismus und Klimawandel – natürlich alles global. "Wie soll sich das ausgehen? Was hat das noch mit uns zu tun?", fragt sich ein großer Teil der Frauen spätestens seit Judith Butler. Diese Frauen als Mitstreiterinnen verloren zu haben, büßen wir schmerzlich; vor allem bei den Wahlen.

Diejenigen, die noch mitreden wollen – oder müssen –, sind mit flotten Lösungen für zähe Probleme konfrontiert, die sie selbst oft nur vom Wischen und Liken kennen. Egal ob es um das Kopftuch geht, um Sexarbeit oder Transsexualität; egal ob persönlich betroffen oder nicht: Jedes Problem hat seinen Hashtag, und alle müssen sich entscheiden: Liken oder haten!

Im Gegensatz zu Frauen bleiben Männer, was sie schon immer waren: die Kategorie Mann

Ist vielleicht doch nicht alles so einfach, wie es aussieht? Diskussionen müssten geführt werden, Meinungen gehört, Konsequenzen bedacht und abgewogen. Aber zuerst soll Stellung bezogen werden. Möglichst schnell, kurz und vor allem: richtig. Dazu gehört auch, kurzen Prozess mit intellektuellen Vorreiterinnen der zweiten Welle des Feminismus zu machen. Der digitale Gerichtshof kennt keine Gnade und hat schon immer alles besser gewusst. Doch während gestritten wird, macht das Patriarchat, was es immer macht: Frauen unterbezahlen, ihnen Haushalt und Kinder aufbürden, Gewalt ausüben und Kriege anzetteln.

Die Diskussion über Geschlechteridentitäten tut mann sich nicht an. Man bleibt, was man schon immer war: die Kategorie Mann. Deswegen gibt es FLINTA*s, aber keine MGINTA*s. Oder ist mir etwas entgangen?

Natürlich soll der Feminismus großzügig und beherzt die Bedürfnisse aller Frauen im Auge haben. Aber hat er dafür auch die Ressourcen? Aufmerksamkeit, Förderungen, geschützte Räume und Quotenplätze sind in einem patriarchalen System nicht unendlich verfügbar. Denn für Frauengedöns ist nie genug Platz oder Geld da, egal ob es Frauen oder FLINTA*s einfordern.

Während Frauen untereinander streiten, macht das Patriarchat, was es immer macht

Der Feminismus ist ein Staffellauf durch die Jahrhunderte. Wollen wir uns auf den letzten Kilometern nicht lieber auf Gemeinsamkeiten konzentrieren, anstatt jede identitätspolitische Sau durchs digitale Dorf zu treiben? Was uns eint, sind ganz lapidar menschenrechtliche Bedürfnisse: Wir hätten gern gleiches Geld für gleiche Arbeit, wir wollen nicht ungefragt begrapscht und penetriert werden, wir wollen Sicherheit und Menschenwürde.

Vieles ist noch unerledigt: Immer noch verdienen wir weniger, sind von Altersarmut betroffen und in Machtzirkeln unterrepräsentiert. So ganz nebenbei steht der reaktionäre Einfluss religiöser Gruppierungen auf unsere reproduktiven Rechte wieder mal auf der Matte. Sollten wir uns nicht gemeinsam auf all das konzentrieren, anstatt immer neue begriffliche Gräben aufzureißen? Das Zauberwort heißt Konsens. Den wünsche ich uns Frauen und allen, die sich dazu zählen wollen.

GERTRAUD KLEMM

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Zuletzt erschien von der österreichischen Autorin: "Hippocampus" (Kremayr & Scheriau, 2019)

Glossar
FLINTA*: Frauen, Lesben, Inter, Non-binary, Trans, Agender* 
TERF: Trans-Exclusionary Radical Feminist (Trans-ausschließende Radikalfeministin)
SWERF: Sex Worker Exclusionary Radical Feminist (Sexarbeiterinnen ausschließende Radikalfeministin)
FARTs: Feminism-Appropriating Reactionary Transphobes (sich den Feminismus aneignende reaktionäre transphobe Person)

 

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