Die Bilder im Kopf, danach

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Jacqueline Lenekamp ist nur eine(r) von hunderten von SoldatInnen, die der Einsatz an der Front traumatisiert hat. Sie redet darüber.
 

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Alert sitzt sie da, inmitten des vorweihnachtlichen Trubels im Kaufhaus-Restaurant: die Haut noch frisch von der Kälte draußen, die Haare straff zum Pferdeschwanz zurückgebunden, die Figur ist drahtig und fit. Den elfjährigen Sohn hat sie mit einem Kuss zum Stöbern in die Spielzeugabteilung geschickt. Jacqueline Lenekamp macht nicht den Eindruck, als sei sie mit Elend, Zerstörung und Tod vertraut. Oder beinahe selbst daran zerbrochen.
September 1999: Stabsunteroffizier Lenekamp, damals 30, hockt im Schneidersitz am Ufer des Ohrid-Sees in Mazedonien. Mit hängenden Schultern antwortet sie auf die behutsamen Fragen der Dokumentarfilmerin Heike Mundzeck nach ihren Erlebnissen im Kosovo. Lenekamp hatte zum ersten Kontingent der Nato-Bodentruppen gehört, die Mitte Juni 1999 nach dem Ende der Luftbombardements den Rückzug der serbischen Truppen aus der mehrheitlich albanisch bevölkerten Provinz erzwangen und dort ein internationales Protektorat errichteten. Nun geht ihre Einheit wieder nach Hause. „Eiskalt erwischt hat mich der Reporter, den wir tot gefunden haben. Und die Kinder im Massengrab ... Das war schon bitter da drüben.“
Drei Jahre liegen zwischen den beiden Szenen. Heute sagt Lenekamp: „Als die Frau Mundzeck mir die Fragen gestellt hat, da hab ich gedacht: Es war schon Scheiße. Aber ansonsten haben wir alle gesagt: Hey, wir haben’s hinter uns. Drüber geredet hat da keiner. Und im Einsatz sowieso nicht.“ Auch die Mahnungen von Zugführer und Militärpfarrer, Erlebtes nicht zu verdrängen, verfliegen über der Erleichterung, „raus“ zu sein. Lenekamp fuhr mit ihrem Freund nach Marokko. Am Strand sah sie einen Mann reglos liegen, tot, dachte sie, und ihr Herz raste „wie verrückt“.
Im „Reintegrationsseminar“, einige Wochen später, sollen zwei Dutzend junge Männer sowie die Sanitätssoldatin Lenekamp aus Leipzig, einzige Frau in ihrer Einheit, mithilfe eines Moderators ihre Erfahrungen besprechen. Eine menschenfreundliche Idee eigentlich – und gewiss unvorstellbar für die Begründer der Militärpsychiatrie vor hundert Jahren, die „Zitterer“ und „Neurotiker“ mit Elektroschocks traktierten und zurück an die Front schickten oder gleich vors Erschießungskommando.
Heute lautet die Botschaft, die in der zweitägigen Pflichtveranstaltung vermittelt werden soll: „Deine Gefühle sind normal, du kannst lernen, sie zu bewältigen und weiterzumachen.“ Doch in der Gruppe beäugt man sich, die Worte tröpfeln zäh. Die Angst vor der Blamage ist oft stärker als das Bedürfnis zu reden. Zumal, wenn es als befohlen empfunden wird. Lenekamp sagt, sie habe „die Zeit abgesessen“, ihr Vertrag als Zeitsoldat lief ohnedies aus. „Ich wollte kein Mitleid.“
Ein ganzes Jahr vergeht, bevor Jacqueline Lenekamp begreift, dass sie am Ende ist. Bei manchen kommt dieser Punkt schneller, aber dem stand Lenekamps robustes Naturell entgegen. Die sportliche 18-Jährige hatte sich 1987 für zehn Jahre zur NVA verpflichtet; nach der Wende ausgemustert, bewarb sie sich („Ich war mit Leib und Seele Soldat“) bei der Bundeswehr. Notgedrungen bei den Sanitätern, Frauen wurden ja erst 2001 allgemein zum Waffendienst zugelassen. Den Bundeswehrdrill empfindet sie als „lasch“, das Selbstbewusstsein der Mannschaften gegenüber Vorgesetzten macht sie baff. Acht Jahre dient sie bei ihrem Panzerbataillon als technischer Unteroffizier im Sanitäterzug, verantwortlich für die Wartung von Lkw und Panzern. Sie ist zufrieden.
Doch nun, Monate nach der Rückkehr aus dem ersten Einsatz, läuft ihr Leben aus dem Ruder. Die Wohnung erscheint ihr als „Luxus“, die Umschulung zunehmend sinnlos. Nachrichten und Kriegsfilme erträgt sie nicht, der Schlaf will nicht mehr kommen, Weinkrämpfe lähmen sie. Ihr Mann, obwohl früher selbst Soldat, ist ratlos. Schließlich sucht sie Hilfe. Der erste Bundeswehrarzt „hat nix verstanden“; ein zweiter erkennt immerhin, dass er nicht helfen kann, und schickt sie zum Bundeswehrkrankenhaus Hamburg. In die Psychiatrie.
Drei Monate lang, es ist schon 2001, wird Lenekamp stationär behandelt. Sie bekommt einen Namen für das, was mit ihr nicht stimmt: PTBS, posttraumatische Belastungsstörung, nennen es die Ärzte, wenn ein Erlebnis den Menschen so tief verstört, dass er sich von den quälenden Erinnerungen nicht mehr zu lösen vermag und die Kontrolle über sein Leben verliert. Vor allem lernt die junge Frau, ihren Gefühlen Namen zu geben.
Die Angst vor Minen. Das Grauen der täglichen Totenfunde und der sprachlosen Kinder. Die Ohnmacht, helfen zu sollen und es doch so selten zu können. Die Wut und die Frustration über eine „klasse Einsatzausbildung“, die sie doch so wenig auf den Ernstfall vorbereitet hatte. Die Schuldgefühle gegenüber dem toten Fotografen, den sie beim hastigen Einmarsch ins Kosovo hatte notdürftig bergen müssen; und gegenüber den vielen, deren Tod sie nicht hatte verhindern können.
Es ist ein schwerer Weg, aber am Ende fühlt sie sich befreit – obwohl auch ihre Ehe vorbei ist („Mein Mann hat mir vorgeworfen, dass ich in der Klapse war“). Am zweiten Jahrestag des Einmarsches fährt sie zum Grab des Fotografen, stellt ein Mandelbäumchen drauf und salutiert. Nach der Rückfahrt ruft sie den Bundeswehrpsychologen in Hamburg an und sagt: „Ich hab’s geschafft.“ Mancher General oder Militärpsychiater der alten Schule würde jetzt sagen: Na ja, bitte, eine Frau. Vermutlich hysterisch. Männern passiert das nicht. Soldaten sowieso nicht.
Doch zwischen Schleswig-Holstein und Oberbayern kämpfen sehr wohl Soldaten mit Traumata, die sie im Einsatz erlitten haben. Fallschirmjäger, Ärzte, Pioniere, Piloten, Minensucher – so ziemlich alle Truppengattungen und Teilstreitkräfte sind betroffen. Bloß: Genannt werden, nein, bitte nicht. Sie sind noch in Uniform, wollen befördert werden, haben Angst, dienstunfähig geschrieben zu werden, sorgen sich um ihren Ruf. Aber reden, das geht. Mancher kämpft dabei mit Tränen.
Der eine hat einen schweren Unfall überlebt, der andere einen Freund sterben sehen, den Nächsten hat die Dauerkonfrontation mit Gewalt, Zwang und Zweifeln am Auftrag langsam zermürbt. Gemeinsam ist ihnen dennoch vieles. Die Wunde an der Seele wollen sie lange nicht wahrhaben, bleiben – Kameraden nicht im Stich lassen! – im Einsatz oder im Dienst. Ihre Umgebung hält sie zunächst für stabil. Hierarchie, Bürokratie, Rituale und Konventionen des Militärs liefern auch dem, der den Halt verloren hat, noch ein Korsett. Aber der innere Kriegsschauplatz fordert seinen Preis: Tinnitus, Bluthochdruck, Panikanfälle, Albträume, Vereinsamung, bis hin zur Todessehnsucht. Krise und Behandlung sind Belastung und Befreiung zugleich: fühlen müssen, endlich fühlen dürfen.
In rund einem Dutzend Fällen „einsatzbedingter Traumatisierung“ seit 1993 seien Soldaten als wehrdienstunfähig in Rente geschickt worden, heißt es im Verteidigungsministerium. Tote im Einsatz: 39; davon Suizide: „weniger als ein Viertel“; davon im Zusammenhang mit Traumata: unbekannt. Behandlungskosten insgesamt: dito. Soldaten im Einsatz seit 1993: knapp 100.000. Bekannte Traumafälle seit 1993: 300.
Weniger als ein halbes Prozent – kann das sein? Andere europäische Streitkräfte, die Holländer etwa, nennen zwei bis fünf Prozent; sie haben allerdings auch Schlimmeres erlebt, in den ehemaligen Kolonien, in Bosnien, zuletzt in Srebrenica. Bisher hat die Bundeswehr, nun ja, Glück gehabt, meint auch Jacqueline Lenekamp: „Das Kosovo war das erste Mal, dass wir ganz vorne mit dabei waren, vorher kamen wir immer hinter den anderen her.“ Aber wie lange noch? Die Deutschen ahnen jedenfalls, dass es bei ihnen schon jetzt eine beträchtliche Dunkelziffer gibt: „Ich frage mich immer, wo all die anderen sind“, bekennt ein Arzt.
Dabei sind Stressbewältigung und Traumaprävention in der Bundeswehr heute anerkannt – zumindest im Prinzip. Seit 2000 gilt ein „Rahmenkonzept“, nach dem die entsprechenden Verhaltenstechniken vor, in und nach dem Einsatz eingeübt werden sollen, vom Truppenführer bis zu den Mannschaften. Vorgesetzte, speziell ausgebildete Kameraden (peers), Psychologen, Seelsorger und Sozialarbeiter sollen Hand in Hand arbeiten. Es gibt an mehreren Standorten Hilfsteams, die binnen kürzester Zeit vor Ort sein können – wie in Eschede oder bei dem Raketenunfall in Kabul. Dass Psychologen und Militärpfarrer mit den Truppen in den Einsatz gehen, ist inzwischen selbstverständlich.
Das Hamburger Bundeswehrkrankenhaus hat sich unter Leitung des Psychiaters Karl-Heinz Biesold auf die PTBS-Behandlung spezialisiert. Traumatisierte berichten von einfühlsamen Ärzten und rücksichtsvollen Kommandeuren – aber eben auch von aufreibenden Kämpfen: mit Kreiswehrersatzamts-Psychologen, die darauf gedrillt sind, „Simulanten“ zu entlarven, und mit Sachzwangverwaltern, die Schadensersatz- und Rentenanträge strikt nach Vorschrift bearbeiten. Einige Soldaten finden erst in ziviler Behandlung – wo die Psychologen keine Uniform tragen und nicht im Spannungsverhältnis zwischen Patient und militärischem Dienstherrn stehen – den Mut, sich zu öffnen.
Überhaupt: Die Vermehrung der Einsätze, die Verkürzung der Auszeiten und der Personalmangel führen dazu, dass guter Wille in der Wirklichkeit oft auf der Strecke bleibt. Manche Psychologen fragen sich auch: Wer hilft den freiwillig länger Dienenden, den Reservisten, den Zeitsoldaten – denen, die die Arbeit von Berufssoldaten machen, aber nur vorübergehend im Biotop Bundeswehr verweilen? Nur hinter vorgehaltener Hand wird bestätigt: Auf die psychologische Bewältigung einer militärischen Großkatastrophe oder eines echten Kampfeinsatzes mit großen Mengen von Toten und Verwundeten ist die Bundeswehr nicht vorbereitet.
Immerhin: Die deutschen Streitkräfte haben es bei allen Widerständen relativ leicht gehabt, sich dem Thema Trauma zu öffnen: Es ging bisher um Soldaten, die in Friedenseinsätzen waren, also fast nur um Opfer und Zeugen von Unfällen oder Kriegsverbrechen. Aber was ist mit dem Trauma des Kombattanten, der auf Befehl töten muss und der seinen Befehl als nicht mehr legitim empfindet („Blut für Öl?“, sagt ein deutscher Offizier) oder sich von Gesellschaft und Politik im Stich gelassen fühlt; der Kriegsverbrechen geschehen ließ (die UN-Soldaten in Srebrenica) oder selbst beging (US-Soldaten in Vietnam)? Die Konfrontation mit dem Trauma des Täters ist der Bundeswehr und der deutschen Nachkriegsgesellschaft bisher erspart geblieben.
Selbst beim Kommando Spezialkräfte, der Eliteinterventionstruppe der Bundeswehr, wo man sich dazu wohl die intensivsten Gedanken macht, heißt es: „Ich muss wissen, dass ich bei den Guten bin.“ Das wird in Zukunft nicht leichter werden.
Constanze Stelzenmüller, EMMA März/April 2003

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