Vanessa Springora: Die Einwilligung

Vanessa Springora packt aus. - Foto: Jean-François Paga/Edition Grasset
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Es war in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre und V. noch nicht 14, als sie den 50-jährigen Kultschriftsteller Gabriel Matzneff kennenlernt. Eingeladen hat ihn V.s Mutter, die in der Presseabteilung eines Pariser Verlags arbeitet, und ein Diner organisiert. Er ist der Verfasser des Buches „Les moins de seize ans“: Die unter Sechzehnjährigen. Matzneff beschreibt darin seine sexuellen Übergriffe auf Kinder – in Paris und auf den Philippinen. Eine „Gebrauchsanweisung für Pädophile“, wird V. dreißig Jahre später befinden.

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Regelmäßig holt Matzneff V. nach der Schule ab. Es schmeichelt dem Mädchen aus zerrütteter Familie, vom angesehenen Schriftsteller umworben zu werden. V. ist noch Jungfrau, aber durchaus bereit, ja bestrebt, ihrer „Unschuld“ ein Ende zu bereiten. Da habe sie aber Glück, schwafelt der Schriftsteller V. vor: Er sei Experte in Sachen Erfahrung und Einfühlungsvermögen. Doch beim ersten Geschlechtsverkehr ist V. verkrampft, Matzneff penetriert sie „wie einen Knaben“, flüstert er ihr ins Ohr, also anal. Das Verhältnis dauert monatelang, V. genießt die Aufmerksamkeit, die sie an der Seite des Schriftstellers erregt.

Er war das Raubtier und ich seine Beute

Matzneff erzählt die ungleiche Beziehung in einem Buch. Inzwischen weiß man auch, was aus V. geworden ist: Ihr voller Name steht an der Spitze der französischen Bestsellerlisten. Sie heißt Vanessa Springora und ist seit einem Jahr Verlagsleiterin der renommierten Editions ­Julliard, in der Matzneffs Handbuch und Apologie der Pädophile einst erschienen war. Jetzt hat auch sie ihre Darstellung veröffentlicht: „Er war das Raubtier und ich seine Beute.“

„Le Consentement“ (Die Einwilligung) lautet der Titel. Die Autorin schildert, wie sie manipuliert wurde und in seine Abhängigkeit geriet. Jahrzehntelang hat sie gebraucht, um die Mechanismen ihrer Ausbeutung zu verstehen und deren Folgen einigermaßen zu überwinden. Die schmerzhafte Lektüre von Matzneffs theoretischer „Anleitung“ und literarischer Wiedergabe war dabei durchaus hilfreich. Seit dem Erscheinen von „Le Consentement“ hat der Verlag Gallimard den Verkauf von Matzneffs Werken eingestellt, der Kulturminister eine für verdiente Dichter ausgerichtete Rente gestoppt und die Justiz ein Verfahren eingeleitet. Empörend an diesen Maßnahmen ist nur, dass sie so spät ergriffen werden. 

Gabriel Matzneffs Neigungen waren keineswegs nur ein paar Lesern bekannt. Sie wurden auch nicht einfach schamhaft toleriert: Sie wurden propagiert! Seit dem Mai 68 war es „verboten, zu verbieten“. Alle „Tabus“ mussten fallen. Die sexuelle Revolution sollte auch die Kinder „befreien“. 1977 veröffentlichte Le Monde einen Aufruf, in dem die Aufhebung des Verbots von Pädophilie gefordert wurde. Anlass war ein Prozess wegen Unzucht mit Zwölfjährigen. „Es reicht“ ist in diesem Text zu lesen: „Drei Jahre Gefängnis für Zärtlichkeiten und Küsse ohne Gewalt“ drohten den Angeklagten. Es ging um Fellatio und Masturbation. Die Strafen wurden – dem Zeitgeist entsprechend – auf Bewährung ausgesprochen.

Seit '68 war es verboten zu verbieten

Autor des Aufrufs: Gabriel Matzneff. Gezeichnet: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Ebenfalls unterschrieben hatten: Louis Aragon, Roland Barthes, Gilles Deleuze. Auch Jacques Derrida, Françoise Dolto, Louis Althusser, André Glucksmann. Philippe Sollers und Catherine Millet. Die späteren Minister Bernard Kouchner (Mitbegründer von „Ärzte ohne Grenzen“) und Jack Lang, die emblematische Figur der linken Kulturpolitik. Kurzum: die ganze linksintellektuelle Crème Frankreichs.

Die Pädophilie wurde zur Avantgarde im Kampf gegen „das System“ und seine „bürgerlichen“ ­Normen verklärt. Alle Versuche, auf Matzneffs Machenschaften hinzuweisen, blieben erfolglos. In den 90er-Jahren hatte sich die kanadische Schriftstellerin Denise Bombardier in der legendären TV-Schriftsteller-Talkshow „Apostrophes“ vor einem Millionenpublikum mit ihm angelegt – und wurde vom Pariser Literaturbetrieb exkommuniziert. Vergeblich warnte auch ein Psychiater die Académie Française – mehrfach hat sie Matzneff Preise verliehen und zur Jahrtausendwende sein „Gesamtwerk“ gewürdigt. Ein weiteres Tagebuch erschien im November 2019.

Mehr noch als die Schauspielerin Adèle Haenel, die als Minderjährige vom Regisseur ihres ersten Films sexuell belästigt wurde und die Solidarität der Intellektuellen mit Roman Polanski anprangerte (siehe EMMA 1/20), hat jetzt Vanessa Springora den Kulturbetrieb in Verlegenheit gebracht. Dank ihres hochgelobten Buches wird nicht nur Matzneff der Prozess gemacht: eine ganze Epoche sitzt auf der Anklagebank. Und man kann nicht behaupten, dass die Intellektuellen stärker als die katholische Kirche zu Selbst­kritik und Aufarbeitung bereit wären.

Eine ganze Epoche sitzt auf der Anklagebank

Verändert hat sich nur der Zeitgeist. Nichts illustriert den Epochenwechsel besser als die Reaktion der Schriftstellerin Christine Angot. Nach dem „Apostrophes“-Streit hatte sie sich auf Matzneffs Seite geschlagen und Denise Bombardier vorgeworfen, einen Schriftsteller zerstören zu wollen. Inzwischen hat die streitbare Vertreterin der „Autofiktion“ auch ihren Missbrauch durch den eigenen Vater ausführlich beschrieben. Und jetzt wirft sie in Le Monde Matzneff vor, seine Fantasien der Wirklichkeit aufzuzwängen – ganz wie es im Delirium des Mai 68 gefordert worden war.

Im Gegensatz zu der jüngeren Adèle Haenel, der die Erschütterung in jedem Interview anzumerken ist, hält Vanessa Springora die Kontrolle über ihre Emotionen zurück. Sie sagt: „MeToo“ ermutigte sie, ihren Fall öffentlich zu machen. Auch die perfide Anspielung auf den Fotografen David Hamilton, der sich nach dem Buch eines Opfers das Leben nahm, konnte sie nicht mehr in Verlegenheit bringen: „Hat Matzneff oder sonst jemand gefragt, wie oft ich an Suizid gedacht habe?“

Es ist kein Buch der Rache, das die 47-Jährige geschrieben hat. Aber einer Revanche, für die sie sich der gleichen Waffen bedient wie der Täter: der Literatur. Der „Dichter“ ist nackt, seine Strategien und Absichten sind durchschaut. Vanessa Springora reduziert ihn auf das Kürzel „G.“ und auf seine erbärmlichen Gelüste. Sie hat ihn, wie sie selbst sagt, „in ein Buch eingeschlossen“. 

Das war der Preis ihrer Befreiung aus den Klauen des Kinderschänders, für den Schriftsteller Matzneff ist es die Höchststrafe. Und für die Linksintellektuellen Frankreichs ist es ein Schreckschuss zur beschämend späten, vielleicht nicht Einsicht, aber hoffentlich doch Nachdenklichkeit.

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Vanessa Springora: Die Einwilligung. Ü: Hanna van Laak. (Blessing, 20 €)

 

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