Nichts wie rein in die Welt des Wissens!

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Für die Kirche war das Werk des französischen Enzyklopädisten und Aufklärers Denis Diderot (1713–1784) eine Ausgeburt der Hölle. Und selbst gemäßigte Zeitgenossen schüttelten verblüfft den Kopf, wenn sie Zeilen wie diese lasen: „Der Staat gehört nicht dem Fürsten, sondern der Fürst gehört dem Staat. Die Krone, die Regierung und die öffentliche Autorität sind Güter, deren Eigentümer die gesamte Nation ist.“ Staatsbürger statt Untertanen, Gesellschaftsvertrag statt Gottesgnadentum. Und das nicht in einer revolutionären Deklaration – sondern schlicht im Lexikon.

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Die Sprengkraft dieser Gedanken erkannten die etablierten Mächte schnell. Die „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ kam 1751 auf den Index.

Doch Diderots Enzyklopädie war das klügste und modernste Nachschlagewerk seiner Zeit, – und am Ende setzte sie sich durch. Mit ihr gelangten neue Überzeugungen in die gesamte europäische Bildungswelt: die Menschenrechte, Ideen von Freiheit und Gleichheit, Armutsbekämpfung und Abschaffung der Sklaverei. Ausgerechnet ein Nachschlagewerk entriss der Kirche und der Krone die Definitionshoheit über Staat und Mensch und wurde eines der wirkmächtigsten Bücher der Menschheit, Wegbereiter aller modernen Demokratien.

Heute heißt die dominierende Enzyklopädie des 21. Jahrhunderts Wikipedia. Der Internet-Service ist das umfangreichste Nachschlagewerk, das jemals existierte, und die erste Referenzadresse für fast jede Recherche von JournalistInnen und WissenschaftlerInnen. Wikipedia.org rangiert auf Platz sieben aller weltweit aufgerufenen Internetseiten. Doch welcher Geist weht hier?

„Das Wissen aller Menschen zusammengenommen, mag ein Einzelner auch nur über einen winzigen Ausschnitt verfügen, ist tausendfach größer als das Wissen Einzelner, selbst wenn es die kenntnisreichsten Geister ihrer Epoche sind. Jeder Mensch auf der Erde sollte freien Zugang zu diesem kollektiven Wissen der Menschheit erhalten.“ Das ist die Vision von Wikipedia, jener freien, kollektiv erstellten Online-Enzyklopädie, die 2001 zunächst als Spaßprojekt an den Start ging, Motto: „Mal sehen was dabei herauskommt.“ Die Wikipedia ist ein Non-Profit und werbefreies Projekt freiwilliger und ehrenamtlicher AutorInnen zum Aufbau einer Enzyklopädie. Träger ist die internationale gemeinnützige Wikimedia-Foundation mit Sitz in San Francisco. Ihr Ziel ist die Sammlung, Entwicklung und Verbreitung von Freien Inhalten in allen Sprachen der Welt. Die Deutsche Sektion, die „Wikimedia Deutschland – Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens e.V.“, finanziert sich wie die amerikanische Muttergesellschaft ausschließlich durch Spenden. Jeder und jede InternetbenutzerIn kann Wikipedia-Artikel ehrenamtlich erweitern und verbessern – bezahlte Inhalte gibt es nicht. So arbeiten an der deutschsprachigen Version derzeit über 7.000 AutorInnen an bisher 932.766 Artikeln.

Bisher ist es nur einer Handvoll wackerer AutorInnen zu verdanken, dass die Frauenhasser bei Wikipedia nicht die Oberhand bekommen haben. Sie könnten Unterstützung gebrauchen. „Schwarze Feder“ – vom Autor „Kalfatermann“ als „Held der Wikipedia in Gold für hervorragende Artikelarbeit“ ausgezeichnet – arbeitet derzeit schwerpunktmäßig an Aufbau und Wartung des WikiProjekts „Diskriminierungsfreie Wikipedia“. Denn als Gemeinschaftsprojekt sei Wikipedia „genauso anfällig gegen Diskriminierungen und Privilegierungen von gesellschaftlichen Gruppen wie jedes andere Projekt oder Organsation“. Daher gelte es, gegen jede Form von Diskriminierung anzugehen, die sich in Inhalten, einer ausgewogenen Sprache und auch der Sozialstruktur der AutorInnen äußere.

Nach offiziellen Angaben von Wikimedia gibt es eine deutliche Unausgewogenheit in der Geschlechterverteilung der WikipedianerInnen. 87 Prozent der Wiki-AutorInnen sind Männer. Ein Umstand, der eine „systematische Verzerrung der Wissensdarstellung“ nach sich zieht, die vor allem darauf beruhe, dass in der Wikipedia bestimmte gesellschaftliche Gruppen überrepräsentiert seien. Hier gelte es gegenzusteuern und neue AutorInnen aus den unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen zu gewinnen: Frauen, ältere Menschen, MigrantInnen, Behinderte.

Drastischere Worte findet die Wikipedia-Autorin Mo4jolo im Wikipedia-Kurier, dem Nachrichtenblatt der Wiki-Gemeinschaft: „Wikipedia ist die kollektivierte selektive Wahrnehmung einer peer group der unter 30-jährigen gebildeten onlinophilen Männer (U30goM). Ihr Weltbild, ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit konstruiert eine selektive Weltsicht. Sie dominieren das Projekt.“

Dieses Weltbild jener U30goM findet Eingang in alle Artikel und ihre Auswahl – obwohl sie nur eine Minderheit in der Gesellschaft sind. Mo4jolo: „Diese Minderheit besitzt ein unerschütterliches Sendungsbewusstsein. Also Vorsicht! Wo bleibt der Warnhinweis?“

Wir suchen also nach Informationen über die Politikerin und Schriftstellerin Louise Dittmar, einer radikalen Kämpferin für Demokratie und Frauenrechte während der 1848er Revolution – kein Eintrag. Wir tippen Betty Friedan in das Suchfeld. Wikipedia liefert eine knappe Notiz, die der US-amerikanischen Gründerin von NOW und Autorin des Schlüsselbuchs der 1960er Jahre „Der Weiblichkeitswahn“ kaum gerecht wird. Und der Eintrag zu Ada Lovelace, der Schöpferin des ersten Computerprogramms, widmet sich vorzugsweise ihren Ehen, Affären und Korrespondenzen. Nur fünf Zeilen erwähnen ihre wissenschaftlichen Leistungen.

Daneben allerdings haben Olympe de Gouges, Simone de Beauvoir oder Lise Meitner eine angemessene Würdigung gefunden. Frauenbiografien sind also nicht nur Terra Incognita bei Wikipedia, aber es gibt viele weiße Flecken auf dieser Karte – und somit jede Menge zu tun.

Noch viel alarmierender steht es um die analytischen Beiträge zur Lage der Geschlechter. Der Text über die Misogynie, den Frauenhass, ist schlicht kryptisch, unverständlich und unvollständig. Es entsteht der Eindruck, Frauenhass sei nur eine Marginalie der Geschichte, kaum wahrnehmbar oder belegbar. Dabei werden jährlich weltweit zwei bis drei Millionen Frauen nur aufgrund des Geschlechts getötet. Sie sterben nach Angaben der Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces (DCAF) durch: Ehrenmorde, häusliche Gewalt, bewaffnete Konflikte oder Vernachlässigung von Mädchen. Hat dieser Femizid gar nichts mit Misogynie zu tun? Bei Wikipedia offensichtlich nicht.

Männerhass dagegen ist, dem Eintrag „Misandrie“ zufolge, eine feste Größe. Zu Anfang findet die Annahme Erwähnung, Männerhass sei ein kollektives Problem unserer Gesellschaft und der Feminismus seine Ursache. Und der Beitrag hat einen stark appellativen Charakter: „Die Männer scheinen so eingeschüchtert zu sein, dass sie sich nicht wehren. Aber sie sollten es tun“ (Zitat nach Doris Lessing). Wissenschaftlich ist das nicht.

Das Wikipedia-Prinzip beruht auf der Annahme, dass die AutorInnen sich gegenseitig korrigieren und kontrollieren. Auf diese Weise soll die Enzyklopädie qualitativ und quantitativ stetig wachsen. Bewusst wird auf eine übergeordnete Redaktion verzichtet, die Themen festlegt oder Artikel redigiert, wie man es aus herkömmlichen Medien kennt. Die Gemeinschaft organisiert sich dabei völlig unabhängig von der Wikimedia-Foundation. Diese wird nur in strafrechtlichen Belangen, wie zum Beispiel bei Persönlichkeits- oder Urheberrechtsverletzungen tätig, hat aber ansonsten keinerlei Einfluss auf die Inhalte von Wikipedia.

Ist die Neutralität eines Artikels umstritten, wird auf einer korrespondierenden Diskussionsseite um eine Objektivierung und einen Konsens gerungen. AdministratorInnen moderieren die Debatte und versuchen zu vermitteln. Diese Wikipedia-AdministratorInnen sind keine Angestellten der Foundation, sondern verdiente AutorInnen, die durch Beschluss der AutorInnengemeinschaft gewählt werden und von anderen Communitymitgliedern entsprechende Editionsrechte freigeschaltet bekommen.

Im Laufe der Jahre hat sich ein eng verwobenes Netz von Benutzergruppen mit verschiedenen Funktionen und Rechten entwickelt – ein sich selbst kontrollierendes und organisierendes System. Innerhalb dieser Selbstorganisation können AdministratorInnen dann BenutzerInnen oder Artikel sperren oder als übergeordnete Instanz bei Löschdiskussionen und Vandalismusmeldungen agieren. In der Regel greifen sie aber erst ein, wenn alle Konsensversuche und alle Bemühungen, einen neutralen Standpunkt einzuhalten, gescheitert sind.

Beim Thema Misandrie lesen wir entsprechend: „Die Neutralität dieses Artikels oder Abschnitts ist umstritten. Dieser Artikel oder Abschnitt ist nicht hinreichend mit Belegen ausgestattet.“ Genauso steht es mit dem Beitrag Misogynie. Auch hier steht der Aufruf: „Du kannst Wikipedia helfen, indem du fehlende Informationen recherchierst und einfügst.“

Die Gründer von Wikipedia, Rick Gates und Jimmy Wales, waren sich zunächst keineswegs sicher, ob diese Form der kollektiven Wissensoptimierung wirklich zu einem hochwertigen Nachschlagewerk führen würde. Doch mehrere Vergleichstudien mit etablierten Enzyklopädien bescheinigen Wikipedia eine hervorragende Arbeit in den Rubriken „Richtigkeit“ und „Aktualität“. Im Prinzip.

Dennoch muss sich Wikipedia immer wieder mit der Kritik auseinander setzen, dass jeder und jede InternetnutzerIn ihre Inhalte verfälschen kann. Auch versuchen Interessengruppen aus Politik, Religion und Wirtschaft gezielt, Einfluss auf die Inhalte zu nehmen. PolitikerInnen schönen ihre Biografien vor Wahlkämpfen. Extremistische Kräfte, wie Mitglieder der Neuen Rechten oder der so genannten Maskulisten – die beide nicht selten identisch sind – starten kampagnenartige Propaganda-Angriffe. Sie mobilisieren ihre Anhänger, um rechtsnationales oder frauenfeindliches Gedankengut in Wikipedia zu verbreiten.

Solche Offensiven verletzen die grundlegenden Richtlinien von Wikipedia: „Schreibe sachlich: Beschreibe den Sachverhalt und nicht deine persönliche Meinung. Schreibe mit Quellangaben: Belege deine Aussagen mit Publikation(en), damit es nachprüfbar ist. Schreibe neutral: Vermeide es, einen politischen, religiösen oder anders nichtneutralen Standpunkt einzunehmen. Wikipedia ist kein Diskussionsforum, kein Wörterbuch, keine Werbeplattform und kein Ort zur Selbstdarstellung.“

Immer wieder flammen Bearbeitungskriege auf, so genannten Edit-Wars. Die Texte in Bezug auf Feminismus und Gender stehen unter Dauerbeschuss von Frauenhassern. Wiki-AutorInnen wie „Schwarze Feder“, „Barb“ oder „Katharina“ wurden ausgiebig gemobbt, als sie sich dafür einsetzten, zu einem neutralen Standpunkt und belegbaren Fakten zurückzukehren. Am Ende blieb der zuständigen Administration nichts anderes übrig, als zum Beispiel die Texte über Maskulismus oder dem Männerrechtler Arne Hoffmann Anfang 2009 zeitweilig zu löschen. Begründung: mutwillige Entstellung und Vandalismus.

Was Wikipedia seitens der Männerrechtler prompt den Spitznamen „Femipedia“ einfing. Man ereiferte sich über „ideologische Säuberungsaktionen“ und bemühte die „chinesischen Verhältnisse“ und die Umtriebe der „Femifaschisten“. Inzwischen haben Männerrechtler ein eigenes Nachschlagewerk gegründet: WikiMANNia.

Der bei Wikipedia geforderte neutrale Standpunkt wird solange ein Standpunkt aus männlicher Perspektive bleiben, bis ein ausgewogener Anteil an männlichen und weiblichen AutorInnen daran mitarbeitet. Tausende von Lexikoneinträgen harren einer Bearbeitung und Verbesserung. Für jedes Temperament ist etwas dabei: Wissenschaftlich Interessierte schreiben Artikel zu Forscherinnen, Kulturschaffende widmen sich den Künstlerinnen, LinguistInnen einer genderneutralen Sprache. Und Kampflustige werfen sich ins Gefecht mit den Maskulisten.

Wikipedia ist heute so wirkmächtig wie einst Diderots Enzyklopädie. Nur ist die Frage noch offen, ob die alten Mächte oder ein neuer Geist die Deutungshoheit über das kollektive Wissen ergreifen. Niemand muss heute wie Diderot befürchten, im Gefängnis zu landen. Also: worauf warten wir, wir bewussten Frauen?!

PS: In der Anleitung für angehende Wikipedia-AutorInnen stellen wir in wenigen Schritten vor, wie frau Artikel bei Wikipedia bearbeitet und neu anlegt!

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