Die Stimme der Sirene

Der Schreibtisch von Irmtraud Morgner. - © Bettina Flitner
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Im neunten Stockwerk eines Betonklotzes, der die Straßenfront von einer Kreuzung zur nächsten einnahm und den Tierpark begrenzte, war sie zu Hause. Dort brannte das mit einem blauen Seidentuch abgeschirmte Licht. Ich wohnte gegenüber im Beton der Parallelstraße. Zwischen uns in der Tiefe lag ein ausbetoniertes Geviert. Auslauf für Kinderkrippe. Kindergarten und Schule. In ihrem Haus war zur Straße hin ein Durchschlupf. Mein Schreibtisch stand so, daß sich mein Blick entweder an der Passage oder, wenn die Kinder "Beschäftigung im Freien" auf dem Erziehungsplan hatten, unten im Hof festhalten konnte.

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Ich hatte erfahren, wer es war, der das Licht drüben hütete. Die Zunftgenossin Irmtraud Morgner. Jene, die das dicke Buch "Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura" geschrieben hatte, das längst als Bibel der Frauenbewegung galt. Eine Autorität. Kämpferin. Philosophin, schöne Seele. Faule und mutlose Frauen und eitle Männer nannten sie Emanze.

Diesem Weib, das so viel auf seinen Schultern trug, sagte ich: Guten Tag. Daraufhin kam sie und brachte mir ihr neuestes Buch "Amanda - ein Hexenroman" - eine Fortsetzung, fortgesetzte Niederlagen individualistischer Strategien zwischen Laura und verschiedenen Männern. Als nächstes schenkte sie mir einen Besen, einen echten Hexenbesen. Sie hatte ihn aus Italien mitgebracht. Ich sage dir, die Grenzer haben vielleicht Miene gemacht! Inzwischen hatten wir unsere Tierparkspaziergänge begonnen. Wir hatten unser bevorzugtes Terrain. Die Wege rings um das Schloß Friedrichsfelde, vom Förstergarten bis zu den Flamingowiesen. Wir hatten auch bevorzugte Zeiten. Die Winterlingsblüte, die der Narzissen, der Kaiserkronen, vor allem aber die Blüte des Rhododendrons. Erst die frühen weißen Sorten. Rot, lila, zyclamfarben.

Sie war eine große Mitteilerin. Trug Fragen und Antwortversuche in der Tasche, bunte Knäuel. Sie warf die Knäuel voraus. Viele dunkle Farben. Sie liebte Schwarz. Dazwischen ein grüner, ein violetter, ein blauer Faden. Ich folgte, manchmal ein bisschen verwirrt. Sie redete über meine Bücher, fand hinter dem "Dunkelfrauentum" mehr als das. was ich auf Lager hatte - eine Anspielung auf die Dunkelmännerbriefe. Dahinter stecke mehr als ein Spiel. Dunkelfrauenbriefe, wäre das nichts? Klar, das war's. Wir lachten sehr viel. Sie kam aus Chemnitz und ich aus Dresden. Wir wussten, was ein Bleechplaon (Bleichplan) ist, welche ungeheure Herausforderung für Kinder. Sächsisches Kulturgut. Jemand im heißen Leben unter heißer Sonne mit einem Stück Butter aufm Kopp, das beschrieb besondere Umstände. Oder was man sich alles aus den Rippen schneiden müsste, als Frau - z. B. einen Mann. Wenn se ken hoam, schneiden se sich ämd en ausn Rippen! Im Tierpark, an einer verlassenen Baustelle, fand ich die Behausung der Sirene Beatrix. Dort hat sie, die gefiederte Schöne, ihre ausführlichen Gespräche mit Arke geführt, z. B. über HUU, die Hexische Unterwelt Unterweltorganisation. Kommst mir auf die Schliche? Sie lachte.

Auch die Voliere am Förstergarten erkannte ich wieder. Dort hatte der Vogel des Himalaja einst gelebt, und dann war die von Wärtern aufgegriffene Sirene hineingesperrt worden.

"Soll mein Federkleid, dessen Pracht das der Schnee-Eule übertraf, unter Dickicht und Maschendraht verkommen?" Gnadenlose Zeiten. "Eine Frau, die dichtet oder dergleichen, muß mit gnadenloser Einsamkeit rechnen."

Die Spaziergänge endeten, indem wir, vom Park zurückgekehrt, noch ein paarmal zwischen unseren Haustüren hin und her gingen. Das Knäuel war längst nicht eingeholt, das Garn längst nicht zu Ende.

Unsere Gespräche waren sehr vertraulich, wie nur Frauen miteinander reden können, heiter, sächsisch, und mit einer Härte, die sich keine Hoffnung erfand. Die Morgner war nicht bereit, sich etwas vorzumachen. Was den Zustand des Landes, seiner Natur und Moral, die Verstrickungen der Macht und der Ideologien betraf. Auch über den Zustand ihres Körpers machte sie sich nichts vor. Sie sprach vom Tode wie von einem Teil des Lebens.

Klug, kritisch bis zur Verzweiflung, mit mehreren Weltsichten innigst vertraut, Ernst Bloch verehrend, eine schutzlose Seele. Als sie sich von ihrer tödlichen Krankheit hatte ins Bild setzen lassen, sagte sie mir: Ich hatte ein wunderlich reiches Leben. Ich höre sie reden: Närrische Zeiten, im Ernst. Aber eben kurz. Leider nur ganz kurz, wie jeder lichte Augenblick. Sie wird weiterleben in ihren Büchern. Das ist kein Trost, das ist eine Wahrheit, die aus der Zukunft heute schon mitspricht. Später, ahne ich, werden ihre Bücher noch mehr Geheimnisse preisgeben über die Menschen eines Landes, das es nicht mehr gibt. Über ihre merkwürdigen Bosheiten, Verletzungen, merkwürdige Güte, Tapferkeit, Solidarität.

Wenn ich heute in der "Amanda" lese, höre ich ihre Stimme, dunkel, guttural gebrochen. Sie sitzt vor einem Publikum. Der Saal ist brechend voll. Sie hat mit Bedacht ein sehr komisches Kapitel ausgewählt, denn Lachen zeigt an, ob Einklang herrscht zwischen Autor und Leser. Sie kann ihr Vortragstalent vorführen, mit ihrer Stimme bekommt alles noch knalligere Farben. Das Kapitel "Die Heiratsschwindlerin" z. B. Außerdem aber ist das Gelächter wie ein Vorhang, dahinter sich prächtig verstecken lässt. Augen machen. Elbisch anmutig schmunzeln.

"Das Lachen ist nur der Schmerzenslaut der Sehnsucht nach der Heimat, die im Inneren sich regt." - Habt ihr eine Ahnung, liebes Publikum.

Nach dieser Pause weiterlesen. Das Kapitel "Von der großen Erfindung einer Frau unserer Zeit". Das Worteschlucken. Schluck die Worte statt Tabletten. Diese Kunst setzt eine Menge Kräfte frei. "Die Erfindung der Leibrede erlaubt mir und allen Frauen, ihre Kommunikationsbedürfnisse selbst zu befriedigen. Keine Anhäufung von falschem Reichtum mehr, keine Kopfwolken. Aber auch keine Abstinenzerscheinungen, weil die Sitten den Frauen Ideen nur dann nachsehn, wenn die Umwelt damit nicht belastet wird. Sobald ich einen philosophischen Gedanken habe, spreche ich ihn aus und schlucke..."

Gerhard Wolf hat die Krankheit, an der Irmtraud Morgner gestorben ist, eine Berufskrankheit genannt. Viele Schriftsteller sind am gleichen Leiden eingegangen, insonderheit Schriftstellerinnen.

Als wir zusammen in die USA flogen, da schrieb sie längst an etwas Neuem. Zu der "Beatriz" und der "Amanda" sollte es einen dritten Band geben.

"Heroisches Testament'' stand auf der Manuskriptmappe, die sie für die Lesungen an den amerikanischen Universitäten mitgenommen hatte. Sie wollte auf ihre Art die Geschichte von Hero und Leander erzählen. Die Morgner war verliebt. Sie dachte, während wir unterwegs waren, egal an zu Hause. Es war eine wunderbare Reise. Die Studenten, zumal die Studentinnen, verehrten sie sehr. Sie las ein Kapitel, die Sirene landet in einer wundersamen Stadt, mit Bankhäusern und Fertigungshallen. An einem grünen Fleck findet sie ihn, Leander, den Mann aus dem Volke.

Arke, das Fabeltier, in der "Amanda" befürchtete, die menschliche Sprache genüge wahrscheinlich nicht, um die Menschen aufzurütteln, weil sie sich an diese Sprache zu sehr gewöhnt und die größten Worte durch zu häufigen Gebrauch abgenutzt hätten. Arke hoffte aber, eine solche ungewöhnliche Sprache würde dringend gebraucht und sicher bald auch gefunden. Die Sirene schrieb in ihrer Höhle fort, das Testament des Weibes Hero, das Heroische Testament.

Vor ihren Fenstern wucherten die Myrten, die Passionsblume bildete Rankenwerk. Oleander, Rosenbüsche, blau-weiße Petunien zierten den Neubaubalkon. Wir nannten den Betonkasten Orangerie und überlegten, ob man das Ganze verglasen sollte. Sie gab zu, sie rede mit den Pflanzen und spiele ihnen manchmal auf einem zierlichen Tasteninstrument etwas vor. Venezianische Masken, stolze Marionetten. Die schönste, die eigenste Neubauhöhle, voll geheimnisvoll hexischer Anmut. In schlechten Zeiten, im Hochsommer oder bei Regenwetter blieben wir zu Hause und tranken Tee. Kommste rüber?

Oft genügte auch das Telefon. Wir konnten uns mit dem Hörer am Ohr sitzen sehn. Oder ich konnte, falls der Anruf von mir kam, mindestens beobachten, wie sie ans Telefon ging. Meist aber waren wir unseren jeweiligen Lebensläufen so verpflichtet, dass wir uns nur von Fenster zu Fenster über die Schlucht hinweg sahen und wahrnahmen. Das war gut.

Jene Amerikareise hatte sie für mich erstritten, denn eigentlich war sie wohl allein eingeladen worden. Ich habe erlebt, wie sie mit hexischer Vehemenz für Schriftstellerinnen stritt, wie sie gekämpft hat, dass nicht nur ihre Stimme, sondern auch andere gehört werden sollten. Solidarität, wie sie nur Menschen mit uneitlem Selbstbewusstsein haben, unter denen besonders Weiber, ein Weib aus Chemnitz. Vater Lokomotivführer. Mutter Hausfrau. Diplom-Germanistin. Mittwochs ging sie mit einem Wägelchen in die Kaufhalle, weil an dem Tag am wenigsten Geschubse war. Alle drei Wochen Hausordnung. Alle drei Monate kam der Kammerjäger Schaben bekämpfen. Da hatte man zu Hause zu sein. Oder ich nahm meinen Kram mit rüber und arbeitete drüben. Beide hatten wir einen Sohn, wo die Sorgen mit den Schulautoritäten nicht abreißen wollten. - Die Jahre gingen.

"Die Sirene fragt: Kann ich zum Blocksberg übersiedeln? Arke antwortet: Auf Zauberbergen kann über das Mögliche von übermorgen nachgedacht werden. Sirenen aber haben jetzt die Aufgabe, über das Nötige von heute nachzudenken und diesem unaufschiebbar Nötigen Stimme zu geben." Listig und mutig, wie Irmtraud war, hat sie sogar die Sirene genarrt und den Betonklotz im neunten Stock zum Zauberberg umgemodelt. Dort ist sie nun für immer ausgezogen.

Helga Schütz

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