Jedes dritte Mädchen ist verstümmelt

Ein Aufklärungsprojekt der Kirche für Kopten über Genitalverstümmelung. - Foto: Bettina Flitner
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Vor fast 100 Jahren war Ägypten das erste Land, in dem es eine Kampagne gegen weibliche Genitalverstümmelung gab. Es sollte 90 Jahre dauern, bis sie verboten wurde. Theoretisch. Aber es wird weiter verstümmelt, und zwar inzwischen vor allem von Ärzten.
In Ägypten wird in der Regel „nur“ der sichtbare Teil der Klitoris abgeschnitten, oft dazu noch die äußeren Schamlippen. Anders als in der Subsahara, wo auch die Vagina zugenäht wird. Die gesundheitlichen Folgen sind trotzdem dramatisch. Immer wieder sterben in Ägypten Mädchen an Infektionen und Blutungen. Erwachsene Frauen bekommen Zysten und haben Schmerzen beim Sex. Oft vernarbt die Vaginalöffnung, sodass Dammschnitt oder Kaiserschnitt bei der Geburt nötig sind. Traumata und Angst vor Sex sind lebenslang.

Vor allem vor diesen gesundheitlichen Risiken zu warnen – das schien sinnvoll bei Kampagnen gegen Genitalverstümmelung. Doch das hat dazu geführt, dass der Trend zur „Medikalisierung“ der Genitalverstümmelung steigt, obwohl Genitalverstümmelung in Ägypten gesetzlich verboten ist und Ärzte ihre Lizenz verlieren können. Theoretisch.

Manche Ärzte behaupten, sie würden so „Schlimmeres verhindern“. Denn traditionell übernahm eine „Daya“ (eine Hebamme) die Beschneidung. Ihr Werkzeug ist die Rasierklinge, nur wenige benutzen auch Desinfektionsmittel. Seit dem Verbot nehmen Ärzte saftige Honorare. Sie nennen es jetzt „kosmetische Chirurgie“ und behaupten, Schamlippen und Klitoris seien „überproportional groß“.

Laut UNICEF sank der Anteil der verstümmelten Frauen in Ägypten von 97 Prozent im Jahr 1985 auf 70 Prozent im Jahr 2016. Unter den jungen Mädchen sind im 21. Jahrhundert 37 Prozent verstümmelt, zwei Drittel von ihnen durch einen Arzt oder eine Krankenschwester. Doch im Zuge der Islamisierung des Landes scheint der Trend wieder zu steigen. Neun von zehn jungen Müttern gaben laut einer UN-Studie an, ihre Töchter später „beschneiden“ lassen zu wollen, „von einem Arzt“ natürlich.

Seit rund hundert Jahren prangern Ärzte und Frauenrechtlerinnen die Praxis an, wie die berühmte Ärztin Nawal el Saadawi. 1956 verbot die sozialistische Regierung Nasser die Verstümmelung in staatlichen Krankenhäusern. Inzwischen hat zwar auch die Al Azhar, die höchste Institution des sunnitischen Islam in Ägypten, weibliche Genitalverstümmelung mehrfach für unvereinbar mit dem Islam erklärt. Doch die in Ägypten vorherrschende schafiitische Rechtsschule des sunnitischen Islams schreibt die Genitalverstümmelung von Mädchen weiterhin als „religiöse Pflicht“ vor. Üblich war die Praxis auch bei den Kopten, einer urchristlichen Sekte, die rund 10 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Sie begründeten dies aber nie religiös. Aufklärungskampagnen hatten bei ihnen deutlich mehr Erfolg. Bei den Kopten befürworteten nur noch 20 Prozent die Klitorisverstümmelung, bei den Muslimen sind es 60 Prozent.

Die Wissenschaftlerin Omaima El-Gibaly hat in einer Studie die Einstellung von muslimischen Dorfpredigern zur Genitalverstümmelung erfragt. Nur fünf von 28 lehnten die Genitalverstümmelung von Mädchen ab. Feministinnen fordern, man müsse endlich auch über Sexualität und sexuelle Rechte der Frauen reden. Al-Gibaly ist skeptisch: „Den meisten ägyptischen Männern ist es egal, ob ihre Frauen Spaß beim Sex haben.“

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