Ein Leben macht Sinn

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Als sie 1972 als erste Frau in der renommierten Universität Harvard als Junior Fellow für Recht und Ethik akzeptiert wurde, gratulierte ihr ein Kollege aus der altphilologischen Abteilung mit dem Vorschlag, statt des umständlichen Titels "Weiblicher Fellow" doch lieber die Bezeichnung "Hetäre" zu wählen, schließlich sei das doch ein gebräuchlicher Begriff für eine gebildete Prostituierte in der Antike.

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Damit hatte der geschätzte Kollege sich selbst zum Demonstrationsobjekt gemacht für die These der Philosophin und Literaturwissenschaftlerin und Schauspielerin Martha C. Nussbaum: "Urteile darüber, was uns wichtig ist, fällen wir wesentlich durch Emotionen." Diese Theorie, mit der Martha Nussbaum ihre Zunft bis heute herausfordert, dürfte dem hetärenkundigen Kollegen noch lange in den Ohren geklungen haben.

Martha Nussbaum ist eine Philosophin, die vieles zusammenbringt, was sonst in streng getrennten Ressorts verhandelt wird: Rationalität & Emotionen, antikes Denken & die Herausforderungen der Gegenwart, abstrakte Philosophie & lebenspraktische Ethik, Philosophie & Literatur, Universität & politisches Engagement. Konsequent bezieht die Amerikanerin auch die Anliegen von Frauen, Armen und Ausgeschlossenen, Behinderten und Tieren in ihre Überlegungen mit ein über die ewige philosophische Frage: "Wie sollen wir leben?". Für sie ist die Philosophie für die Menschen (und die Tiere) da und erschöpft sich nicht im Selbstzweck.

Schon früh entwickelte die Tochter aus gutem und konservativem Hause eine Distanz zu der elitären Abgeschlossenheit des weißen, protestantischen Suburbs von Philadelphia, in dem die 1947 geborene Martha aufwuchs. Ihr Blick über den buchstäblichen Gartenzaun hin zu den anderen, den armen Menschen im Ort, sollte sich in Indien als langjährige Lebensgefährtin des Inders Amartya Sen zu einem lebenslangen Austausch über die Gartenzäune erstarrten Denkens hinweg erweitern.

Dafür gaben die Eltern ihrer Tochter zwei wichtige Lektionen mit auf den Weg: Ihr Vater hatte sich seinen Weg aus Armut hin zum erfolgreichen Juristen mit immer währendem Einsatz erkämpft. Und auch Martha ist überzeugt, dass für mehr Gerechtigkeit "intellektuelle Arbeit, taktische Arbeit und die Arbeit vor Ort" nötig ist. Der Mutter verdankt sie die nicht minder wertvolle Einsicht, wie unglücklich das Leben einer Frau ohne Beruf sein kann.

Neben ihrer Arbeit an den Universitäten Harvard und Brown sowie seit 1995 an der University of Chicago hat die Philosophin über acht Jahre für die Vereinten Nationen gearbeitet. Gemeinsam mit Amartya Sen entwickelte die "Reformjüdin" den so genannten Fähigkeiten-Ansatz (Capabilities Approach): Unter zehn Stichpunkten – wie Leben, körperliche Integrität, Gefühle, Zugehörigkeit oder Spiel – werden die zentralen Bedingungen aufgeführt, die zum Führen eines guten Lebens befähigen. Anhand dieses Kataloges kann bewertet werden, inwieweit eine Gesellschaft allen Menschen die Entwicklung dieser Fähigkeiten ermöglicht: menschliches Miteinander, die Kontrolle über den eigenen Körper, die Verantwortung für die Umwelt und für Schwächere, sowie die Entwicklung emotionaler und kreativer Potenziale. Dieser innovative politisch-philosophische Ansatz wurde zur Grundlage des "Human Development Index", den die Vereinten Nationen heute ihren Entwicklungsberichten zugrunde legen.

Mit solchen Projekten stellt Nussbaum immer wieder den Nutzen der Philosophie und der Moral für das Leben unter Beweis. Sie denkt in globalen Zusammenhängen und hat sich intensiv mit dem Spannungsverhältnis zwischen hie universalem Anspruch und da Geltungsansprüchen verschiedener Kulturen befasst. Und sie geht davon aus, dass eine gelungene politische Kultur in der diskursiven Auseinandersetzung um unterschiedliche Werte besteht. Es geht ihr darum, einerseits Freiräume für die Entfaltung verschiedener Lebens- und Glaubensformen zu erhalten, andererseits die Entwicklung der zehn grundlegenden Fähigkeiten für niemanden zu behindern. In der Praxis hieße das, dass der Staat bei Gewalt gegen Kinder oder Frauen eingreifen muss, rituellen Drogenkonsum jedoch zulassen kann.

Es sei allerdings naiv, so Nussbaum, "jeder Stimme Recht zu geben, die irgendetwas im Namen von Tradition und Religion beansprucht. Oftmals sind es allein die Forderungen der gerade mit Macht ausgestatteten Männer, die damit ihre Vorstellungen und Privilegien verteidigen".

Den mit 100.000 Euro dotierten Social Science Award, der in diesem Jahr zum zweiten Mal vom "Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung" (WZB) verliehen wurde, nahm die in Chicago lebende Philosophin im Roten Rathaus in Berlin entgegen. Sie hielt dazu einen Vortrag zu Religion und sozialer Gerechtigkeit, in dem sie einmal mehr auf die Unteilbarkeit der Menschenrechte verwies – vor allem im Angesicht religiöser Ideologien, die eine Alleingültigkeit im Namen eines Gottes reklamieren. In Nussbaums nächstem Buch soll es übrigens um eine wirkliche Gleichberechtigung für homosexuelle Frauen und Männer gehen, "ohne Scham".

Zum Weiterlesen:
Martha Nussbaum:
"Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge" (Reclam)
"Gerechtigkeit oder Das gute Leben" (Suhrkamp)

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