"Mit jedem Tag steigt das Risiko!"

Sahra Wagenknecht beim "Aufstand für Frieden": Das Risiko einer Ausweitung des Kriegs über die Ukraine hinaus verhindern!
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Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

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ich bin so froh, dass ihr alle gekommen seid. Und ich weiß natürlich auch, dass viele Tausende unsere Kundgebung auch an den verschiedenen Livestreams verfolgen. Heute kann man sehen, dass wir viele sind. Von jetzt an werden wir unsere Stimme so laut erheben, dass sie nicht mehr übergangen werden kann.

Denn wir sind nicht nur viele. Wir fangen jetzt auch an, uns zu organisieren. Denn Deutschland braucht endlich wieder eine starke Friedensbewegung.

Ihr habt ja alle verfolgt, was passierte, nachdem Alice Schwarzer und ich gemeinsam mit 69 Erstunterzeichnern unser „Manifest für Frieden" veröffentlicht haben. Da ist in Teilen der politischen und medialen Öffentlichkeit eine regelrechte Hysterie ausgebrochen.

Was hat man uns, und stellvertretend damit natürlich auch den mittlerweile über 600.000 Unterzeichnern des Manifests, alles vorgeworfen. Wir seien zynisch, gewissenlos, gefährlich, Handlanger Putins, womöglich sogar von ihm bezahlt. Und trotzdem haben immer mehr Menschen unterzeichnet und ihre Zahl wächst täglich weiter. Deshalb auch hier noch einmal von mir ein herzlicher Dank an jeden, der den Ruf nach Verhandlungen und Frieden mit seiner Unterschrift unter das Manifest unterstützt hat.

Der Gipfel der Kampagne bestand darin, uns in die Nähe der extremen Rechten zu rücken

Der Gipfel der Kampagne bestand darin, uns in die Nähe der extremen Rechten zu rücken. Daran sieht man, wie krank die Debatte in Deutschland inzwischen ist. Friedenssehnsucht und der Ruf nach Diplomatie sollen jetzt plötzlich „rechts“ sein. Und „Kriegsbesoffenheit“ ist dann wohl links? Viele haben hier offenbar jeden politischen Kompass verloren.

Und deshalb sage ich hier noch mal in aller Deutlichkeit, was sich eigentlich von selbst versteht: Neonazis und Reichsbürger, die in der Tradition eines Regimes stehen, das den schlimmsten Weltkrieg seit Menschengedenken vom Zaun gebrochen hat, haben selbstverständlich auf unserer Friedenskundgebung nichts zu suchen. Aber genauso gilt: Jeder, der ehrlichen Herzens mit uns für Frieden demonstrieren will, ist willkommen.

Und wenn wir schon über „Rechtsoffenheit“ reden, dann sollten die Kriegstrommler sich lieber mal an ihre eigene Nase fassen. Immerhin haben sie offenbar gar kein Problem damit, sich mit Leuten wie dem ehemaligen Rüpel-Botschafter und jetzigen ukrainischen Vize-Außenminister, Andrij Melnyk, zu verbünden, der, wie viele andere aus der ukrainischen Führung, aus seiner Hochachtung für den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera gar kein Hehl macht. Nur zur Erinnerung, der Antisemit Bandera war für die Ermordung von tausenden Juden mitverantwortlich. Und Leute, bei denen Nazi-Verehrer wie Melnyk als Freiheitsikone gelten, wollen uns erklären, wir seien rechtsoffen. Was ist das für eine verlogene Debatte!

Die Kriegsfreunde und Waffenlobbyisten scheinen wirklich Angst vor uns zu haben

Aber das hysterische Gebrüll in Teilen der Politik und der Medien zeigt auch: Die Kriegsfreunde und Waffenlobbyisten scheinen wirklich Angst vor uns zu haben. Sie haben Angst, dass sie ihren Kurs in Zukunft nicht mehr ohne weiteres durchsetzen können.

Und denen sage ich: Ja, eure Angst ist berechtigt. Genau deshalb sind wir hier! Wir sind hier, damit die Hälfte der Bevölkerung, die sich Friedensverhandlungen statt Panzer wünscht und die Angst hat vor einer Ausweitung des Krieges, damit die Stimme dieser vielen Millionen Menschen nicht länger übergangen werden kann.

Es geht um viel. Es geht zum einen darum, das furchtbare Leid und Sterben in der Ukraine zu beenden. Es geht darum, Russland ein Verhandlungsangebot zu unterbreiten, statt einen endlosen Abnutzungskrieg mit unzähligen Opfern durch immer mehr Waffen am Laufen zu halten.

Das Weiße Haus hat Verträge mit den Rüstungskonzernen über Waffenlieferungen an die Ukraine für viele Jahre abgeschlossen. Über Jahre sollen Waffen geliefert werden, damit der Kriegsmaschinerie bloß nicht die Munition ausgeht. Was ist das für ein Irrsinn!

Am Ende wird die Ukraine ein völlig zerstörtes, entvölkertes Land sein, und die, die das zynisch einkalkulieren, behaupten auch noch, sie täten das aus Solidarität. Was für eine schamlose Lüge. Solidarität heißt, alles dafür zu tun, das Sterben zu beenden. Solidarität heißt, Leben retten und nicht Leben zerstören. Solidarität heißt, sich für den Frieden zu engagieren und nicht für den Krieg. Dafür braucht man keine Panzer. Dafür braucht man Diplomatie, Verhandlungen und Kompromissbereitschaft. Von beiden Seiten.

Natürlich geht dieser Appell auch an den russischen Präsidenten

Ja, natürlich geht dieser Apell auch an den russischen Präsidenten. Natürlich muss auch Putin bereit sein zu Verhandlungen und Kompromissen. Die Ukraine darf kein russisches Protektorat werden. Aber nach allen Berichten, die wir über die Friedensgespräche im Frühjahr haben, für die sich damals der israelische Ministerpräsident und auch die türkische Regierung engagiert hatten, nach all diesen Berichten war ein möglicher Friedensschluss damals jedenfalls nicht an der mangelnden Bereitschaft der russischen Führung gescheitert. Das gehört zur Wahrheit einfach dazu.

Es geht also darum, das Sterben in der Ukraine zu beenden. Es geht aber um noch mehr. Es geht auch darum, das Risiko einer Ausweitung des Kriegs über die Ukraine hinaus zu verhindern. Und dieses Risiko ist groß. Der Einschlag der ukrainischen Rakete in Polen, die zunächst als russische Rakete hingestellt wurde und wegen der auch in Deutschland einige schon den NATO-Bündnisfall ausrufen wollten, hat das gezeigt. Mit jedem Tag, an dem der Krieg weitergeht, und mit jeder Lieferung von noch tödlicheren Waffen steigt das Risiko einer Eskalation zu einem Krieg in ganz Europa, womöglich zu einem 3. Weltkrieg.

Diese Gefahr sieht auch UN-Generalsekretär Guterres, der eindringlich warnt, dass die Welt gerade dabei ist, mit weit geöffneten Augen in einen großen Krieg hineinzusteuern.

Nur die kriegstrunkenen Teile der deutschen Öffentlichkeit sehen diese Bedrohung offenbar nicht. Oder sie meinen ernsthaft, man müsste sie heldenhaft in Kauf nehmen, weil sie ja für das Gute kämpfen und auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Nein, wer die Gefahr eines nuklearen Infernos in Kauf nimmt, steht ganz sicher nicht auf der richtigen Seite der Geschichte. Wer nicht alles in seiner Macht Stehende tut, um die Gefahr einer solchen Eskalation mit allen Mittel zu verringern, kämpft auch nicht für das Gute, sondern verhält sich verantwortungslos!

Wer die Gefahr eines nuklearen Infernos in Kauf nimmt, handelt verantwortungslos

Die Atomkriegsuhr, die das Risiko eines atomar ausgetragenen Konflikts misst, steht auf 90 Sekunden vor zwölf. Die Wissenschaftler, die sie betreuen, haben sie erst vor kurzem noch einmal nach vorn gestellt. Interessiert das die Bundesregierung nicht? Noch nie, selbst im Kalten Krieg nicht, stand die Menschheit so nah an der Schwelle eines Atomkriegs. Dieser Wahnsinn muss gestoppt werden. Auch deshalb sind wir heute hier!

Ich kann mich noch gut an meine Kindheit und Jugend erinnern. Das waren die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die Zeit der Debatte um die Stationierung von Atomraketen in Deutschland, die Zeit der Sternkriegsprogramme. Ich bin aufgewachsen mit der Angst vor einem großen Krieg, mit der Angst vor einem Atompilz über Berlin.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie dankbar ich war, als dann mit Michail Gorbatschow eine neue Zeit begann, als es Gespräche und schließlich auch Verträge über Rüstungskontrolle und Abrüstung gab, als der Kalte Krieg zu Ende ging.

Damals hatte man das Gefühl, ein neues Zeitalter beginnt. Ein Zeitalter der Abrüstung, der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Sicherheit.

Ich hatte in den Jahren danach fast vergessen, wie sich die Angst vor Krieg anfühlt. Jetzt weiß ich es wieder.

Ich hatte fast vergessen, wie sie die Angst vor Krieg anfühlt. Jetzt weiß ich es wieder.

Gut 30 Jahre nach Gorbatschow hat Putin mit dem Start-Abkommen gerade den letzten noch gültigen Abrüstungsvertrag auf Eis gelegt. Das hat er getan, nachdem die USA zuvor den ABM-Vertrag, den INF-Vertrag und das Open Sky Abkommen aufgekündigt hatten. Heute redet niemand mehr von Abrüstung. Heute wird aufgerüstet, was das Zeug hält, und die Atomwaffenarsenale werden modernisiert. 

Heute wollen Politiker unseres Landes, das Gorbatschow seine Wiedervereinigung verdankt, Russland ruinieren. Heute sollen deutsche Kampfpanzer wieder auf russische Soldaten schießen. Und zumindest Melnyk ist sich sicher, dass Deutschland bald sogar Kampfjets liefern wird.

Liebe Freundinnen und Freunde, diesen Wahnsinn müssen wir stoppen! Deshalb sind wir heute hier.

Wir leben ja in einer Orwellschen Welt. Was erzählt man uns da eigentlich für Geschichten. Panzer schaffen Frieden. Waffen retten Menschenleben. Und der ukrainische Oligarchenkapitalismus, der genauso korrupt ist wie der russische, kämpft für Freiheit und Demokratie.

Schon George Orwell wusste: »Wenn alle die ... verbreitete Lüge glaubten ..., dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde zur Wahrheit.«

Wir sind hier, weil wir uns von der deutschen Regierung nicht vertreten fühlen

Aber wir sagen deutlich: Wir glauben eure Lügen nicht mehr. Wir wissen, dass Waffen töten und Panzer keinen Frieden schaffen. Wir wissen, dass unsere Freiheit nicht in der Ukraine verteidigt wird, genauso wenig wie früher am Hindukusch. Und es geht auch nicht um hehre Werte, sondern um die NATO und den Umfang der amerikanischen Einflusszone.

Wir sind hier, weil wir wollen, dass dieses sinnlose Sterben aufhört.

Wir sind hier, weil wir uns von der deutschen Regierung nicht vertreten fühlen.

Wir fühlen uns nicht vertreten von einer grünen Außenministerin, die wie ein Elefant im Porzellanladen über das internationale Parkett trampelt und ihre öffentlichen Äußerungen so wenig im Griff hat, dass sie Russland mal eben aus Versehen den Krieg erklärt.

Wir fühlen uns nicht vertreten von Panzer-Toni und den ganzen grünen Waffennarren, die den Eindruck erwecken, sie würden am liebsten gleich selbst im Leopard mit geladenem Rohr gen Russland rollen.

Wir fühlen uns auch nicht vertreten von einer Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann, der die Geschäftsbilanz von Rheinmetall und Co. erkennbar mehr am Herzen liegt als das Schicksal der Menschen in der Ukraine oder gar der Weltfrieden.

Und wir fühlen uns auch nicht vertreten von einem Kanzler, der zwar zunächst immer zögert und für Vorsicht und Bedachtsamkeit wirbt, aber am Ende doch immer wieder vor den Kriegstrommlern in seiner Koalition einknickt und eine rote Linie nach der nächsten überschreitet.

Der Kanzler zögert zwar, knickt aber doch immer vor den Kriegstrommlern ein

Wir wollen nicht, dass mit deutschen Panzern auf die Urenkel jener russischen Männer und Frauen geschossen wird, die von der deutschen Wehrmacht zu Millionen ermordet wurden. Haben wir das alles wirklich vergessen. Und wir wollen auch nicht, dass sich Deutschland so lange in diesen Krieg hineinziehen lässt, bis der Krieg zu uns kommt.

Wir halten es mit der großen pazifistischen Schriftstellerin Bertha von Suttner:

Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen. Nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden.

Dieser Wahnsinn muss aufhören. Lasst uns das Blutvergießen endlich stoppen. Wir stehen auf für Frieden und gegen den Krieg. Wir sind da und wir werden nicht mehr verschwinden. Lasst uns heute den Startschuss für eine neue starke Friedensbewegung geben.

SAHRA WAGENKNECHT

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