Mithu Sanyal: Jetzt selber Opfer?

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Anne Wizorek ist außer sich: "Für die Auslöserinnen der Hassattacken auf Mithu Sanyal habe ich nur tiefste Verachtung übrig", twitterte sie. Und: "Gab es nicht neulich Leute, die über Hetzfeminismus sprechen wollten? Dann lest mal, was Mithu Sanyal gerade abkriegt." Und schließlich: „Wenn eure ‚Diskussionsmethoden’ kaum von antifeministischen Attacken zu unterscheiden sind, dann geht kacken und kommt nicht mehr wieder.“ Tja, das ist das Niveau...

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Da stellt sich jetzt die Frage: Wer sind sie, diese "Auslöserinnen der Hassattacken" und antifeministischen Aufhetzerinnen? Und was haben sie getan?

Nicht mehr Opfer, sondern Erlebende?
Ein zynischer Vorschlag!

Diejenigen, die #aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek so verachtet und beschimpft, sind all jene Feministinnen, die Missy-Autorin Mithu Sanyal für einen sehr kruden Vorschlag kritisiert hatten: Die Autorin des Buches "Vergewaltigung" hatte in einem taz-Artikel angeregt, dass sich Vergewaltigungsopfer doch künftig "Erlebende" nennen könnten, statt Opfer. Denn das sei ein Begriff, der "höchstmögliche Wertungsfreiheit" gewährleiste. "Außerdem trifft das Wort 'Erlebende' noch keine Aussagen über Motivationen und Rollenverteilungen." Das Wort "Erlebende" solle deshalb in den Duden aufgenommen werden.

Gegen diesen zynischen Vorschlag, bei dem sie auch die Opfer des Holocaust erwähnte, regt sich seit Tagen Protest. Verschärfend hinzu kam: Sanyal hatte „infrage gestellt“, dass die Opfer von Vergewaltigungen überwiegend weiblich und die Täter überwiegend männlich sind. Erstaunlich. Denn erwiesenermaßen sind laut Polizeistatistik 95 Prozent der Vergewaltigungsopfer weiblich und nahezu 100 Prozent der Täter männlich.

Das feministische Bloggerinnen-Kollektiv "Die Störenfriedas" ging voran und erklärte in einem Offenen Brief: "Opfer sexueller Gewalt zu ,Erlebenden' zu machen, lässt die Gewalt aus dem Sprachgebrauch verschwinden." Denn: "Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist eine Tat, vorrangig begangen von Männern an Frauen und Kindern."

Bis heute haben hunderte Menschen den Brief unterschrieben, darunter viele Vergewaltigungsopfer, die Sanyals Vorschlag als "verletzend" empfinden. Und zahlreiche Initiativen, die diese Opfer unterstützen: von Terre des Femmes bis zur "Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt". Auch Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch fragte verwundert: "Sollen wir Frauen nun wirklich kuschen - und selber das Wort ,Opfer' abschaffen, nur weil es nicht in ein Macho-Wertesystem passt, das Stärke oder den Anschein davon verehrt und Wehrlose verhöhnt?"

Die Maskulisten stürzten sich auf Mithu Sanyal, bedrohten sie

Nachdem EMMA über den Offenen Brief der Störenfriedas berichtet hatte, griffen weitere Medien die Debatte auf und zeigten sich, gelinde gesagt, irritiert. Die FAZ fand Sanyals Argumentation "atemberaubend". FAZ-Autorin Ursula Scheer schrieb: "Und es wird atemberaubender mit jedem weiteren Argumentationsschritt dieses Artikels, der geradewegs in den Abgrund führt - und damit beispielhaft für die Irrläufe eines reaktionären, vor allem im Internet heimischen Feminismus steht, der sich mit viel Hashtag- und Sprachvorschriftsgetöse als vermeintliche Speerspitze im Kampf um Gleichstellung aller Gender und Identitäten, Ethnien und Klassen geriert, tatsächlich aber Opferverachtung betreibt."

Auch die Welt konnte sich Spott nicht verkneifen: "Das nennt sich dann Dekonstruktion von Sprache, führt mitunter aber zur Dekonstruktion von Gehirnmasse." Mit den Opfern legt Welt-Autorin Lisa Schmidt-Herzog jene Empathie an den Tag, die Mithu Sanyal gut zu Gesicht gestanden hätte: "Der Begriff ,Opfer' stigmatisiert nicht den Menschen. Er stigmatisiert die Tat, denn die ist furchtbar", schrieb sie. "Wenn ich Betroffene nicht mehr ernst nehme, weil ich die falsche Bezeichnung wähle - eine Befürchtung, die Sanyal äußert - dann habe ich sowieso ein schwerwiegendes Problem."

Ein Problem bekam nun auch Mithu Sanyal. Denn gegen die schossen jetzt nicht nur kritische Feministinnen, sondern auch Maskulisten: jene Netzwerke aus frauenhassenden Männerrechtlern, die allen gut bekannt sind, die im Netz feministisch unterwegs sind. Sie wünschten nun ihrerseits Sanyal ein "Erlebnis" - oder bedrohten sie gar gleich mit Vergewaltigung.  

Was passierte dann? Wer war in den Augen von Sanyal und Freundinnen nun Schuld an der Hetze? Die Rechten und Frauenfeinde, die sie in E-mails und auf Facebook bedroht hatten? Aber nein. Schuld waren die Kritikerinnen von Sanyals "Erlebenden"-Vorschlag, sprich: die Störenfriedas. Und EMMA. In einem Artikel in der Huffington Post erklärte Mithu Sanyal den Offenen Brief der Störenfriedas zunächst zur "Fakenews". Zuvor hatte sie bereits auf ihrer Website behauptet, der Brief sei voller "Falschbeschuldigungen" (ein Begriff, den wir bisher vor allem aus dem Mund von Jörg Kachelmann kennen) und den Störenfriedas rechtliche Schritte angedroht.

In ihrem Blog in der Huffington Post ruderte Sanyal dann zurück. Alles nicht so gemeint. "Zuerst einmal möchte ich mich bei allen Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben mussten, und sich von meinem Artikel vor den Kopf gestoßen gefühlt haben, entschuldigen", schrieb sie. "Es geht mir nicht darum, neutral einem Verbrechen gegenüber zu stehen, sondern den Betroffenen selbst die Definitionsmacht zu überlassen." Es geht hier also nicht mehr um objektives Geschehen, sondern um die subjektive Definition desselben.

Mithu Sanyal ruderte zurück: Alles nicht so gemeint.

Sodann war es Sanyal, die eine Fakenews produzierte. Sie behauptete: "Andere verlangen, dass ich in das Land meiner Mutter zurückgehe/geschickt werde und dort vergewaltigt würde, weil das ja dort an der Tagesordnung sei. Damit meinen sie Indien, weil die EMMA in einem Artikel basierend auf dem Brief der Störenfriedas schrieb, meine Mutter käme aus Indien. Dabei sollte die EMMA es besser wissen, habe ich doch lange für sie geschrieben und in meinem Lebenslauf für sie steht, dass mein Vater aus Indien kommt."

EMMA wusste es in der Tat besser. Aber in den fraglichen Texten hatte kein Wort über die Herkunft von Mithu Sanyal gestanden, weder bei den Störenfriedas noch bei EMMA. Denn abgesehen davon, dass eine indische Mutter oder ein indischer Vater ja keine Schande ist, ging und geht hier nicht um Persönliches, sondern um Grundsätzliches.

Doch da alternative Fakten gerade angesagt sind und objektive Fakten nicht mehr zählen sollen, sondern nur noch das subjektive Empfinden, wurde für die "Hetzfeministinnen" nun auch EMMA zur Zielscheibe. "Wie armselig, dass ihr @Msanyal den rassistischen Mob auf den Hals hetzt, indem ihr die Herkunft ihrer Verwandten betont", twitterte Missy-Geschäftsführerin Stefanie Lohaus - augenscheinlich, ohne den Artikel auf EMMAonline überhaupt gelesen zu haben.

Nun brach ein Twitter/Facebook-Krieg los. Auch andere Organisationen, die den Offenen Brief der Störenfriedas unterschrieben hatten, wurden zu Schuldigen am Shitstorm gegen Sanyal umdefiniert. "Vielleicht wollt Ihr Euch doch von diesem HassBrief distanzieren? Oder findet ihr das gut? Entscheidet euch!" wetterte ausgerechnet die Pro-Prostitutions-Aktivistin Sonja Dolinsek gegen Terre des Femmes. Und sie tobte weiter: "Der Hass, den die EMMA und diese Friedas sowie u.a. @tdfev gerade gegen @Msanyal losgetreten haben, ist einfach nur krass."

Folge der Attacken: Von Inhalten war nun nicht mehr die Rede, die Debatte um Sanyals Vorschlag und die Kritik der Opferorganisationen war beendet. Wie praktisch.

Rassismusvorwurf gegen EMMA - statt einer inhaltlichen Debatte

Nun reichte es den Störenfriedas. Sie erklärten: "In den letzten Tagen hat es in den sozialen Medien einige sehr hässliche Entwicklungen gegeben. Zum einen erschien ein teilweise sehr eng vernetzter frauenfeindlicher und rassistischer Mob, der Mithu Sanyal mit Vergewaltigungsdrohungen und üblen Beschimpfungen anging. Zum anderen gab und gibt es den Versuch, ausgerechnet den Störenfriedas, EMMA und zumindest teilweise den Initiativen, die den Offenen Brief unterschrieben haben, die Schuld an diesem Mob zuzuweisen, und zwar bis hin zur Unterstellung gemeinsamen Vorgehens. Wir verurteilen die Angriffe auf Frau Sanyal in aller Deutlichkeit und Entschiedenheit und haben dies vom ersten Tag an sichtbar getan. Wir weisen ebenso jeden Versuch zurück, uns die Schuld an diesen Angriffen zuzuweisen und uns damit mundtot zu machen." Sie seien, erklären die Störenfriedas, "über die von einigen Netzfeministinnen eingesetzte Strategie der Instrumentalisierung dieser widerlichen Hetze entsetzt".

In der Tat. Da stellt sich die Frage: Ist es eigentlich ein Zufall, dass eine Autorin, die Opfer sprachlich verschwinden lassen möchte, nicht die Täter attackiert, sondern andere Opfer und deren Unterstützerinnen?

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Opfer sollen nicht mehr Opfer heißen

Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal. Foto: Imago
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Seit Mithu Sanyal im Sommer 2016 ihr Buch „Vergewaltigung“ herausbrachte, ist die Kulturwissenschaftlerin immer wieder mit erstaunlichen Thesen zum Thema in Erscheinung getreten. So hatte die Missy-Autorin zum Beispiel beklagt, dass es „im Vergewaltigungsskript nur zwei Geschlechter gibt: Täter und Opfer. Wer Vergewaltigung sagt, denkt an aggressive Männer und ängstliche Frauen, an Penisse als Waffen und Vaginas als ungeschützte Einfallstore." Und sie fuhr fort: "Oder weniger martialisch: an Männer, die meinen, ‚ein Recht’ auf Frauenkörper zu haben.“

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Nicht der Opferdiskurs degradiert Opfer, sondern Täter

In einem Spiegel-Interview wurde Sanyal gefragt: „Sie kritisieren die Fixierung auf Frauen als Opfer. Aber in den meisten Fällen ist das so. Und die Täter sind Männer.“ Sie antwortete schlicht und unwidersprochen: „Das stelle ich infrage.“

Was stellt Sanyal infrage? Die Realität? Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt: Es gab im Jahr 2015 7.095 angezeigte Vergewaltigungen, davon waren 6.732 weibliche Opfer, das macht 95 Prozent. Für Sanyal scheinen das old fashioned facts, ein gestriger „Opferdiskurs“. Die Kulturwissenschaftlerin möchte von solcherlei Peinlichkeiten nichts mehr hören: Das Geschlecht von Tätern und Opfern ist für sie keine Kategorie. Sie will, zumindest rein sprachlich, die Opfer ganz abschaffen. Die sollen in Zukunft besser „Erlebende“ heißen. Und wo es keine Opfer gibt, existieren auch keine Täter. Wie praktisch.

Der Begriff „Opfer“, so erläutert Sanyal in ihrem Text in der taz, sei nämlich „keineswegs ein wertfreier Begriff, sondern bringt eine ganze Busladung von Vorstellungen mit. Wie die, dass Opfer passiv, wehrlos und ausgeliefert sind – und zwar komplett.“ Das sei ungünstig, denn „wenn mir jemand erzählt, dass er oder sie einmal einen Autounfall gehabt hat, wird sich meine Wahrnehmung dieser Person wahrscheinlich kaum verändern. Genau das passiert jedoch, wenn wir ‚Autounfall’ durch ‚Vergewaltigung’ ersetzen.“ Ach so.

Statt der Frage nachzugehen, was der Unterschied zwischen einem Autounfall und einer Vergewaltigung aus der Perspektive des Opfers sein könnte, erklärt die Missy-Autorin lieber einfach: „Doch keine Sorge, es gibt eine Lösung!“ Nämlich: Opfer nennen sich nicht länger Opfer, sondern „Erlebende“. Denn „das Wort ‚Erlebende’ trifft noch keine Aussagen über Motivation und Rollenverteilungen. Klassische Binaritäten wie aktiv/passiv werden aufgebrochen.“ Schließlich sei es „wichtig, einen Begriff zur Verfügung zu haben, der höchstmögliche Wertungsfreiheit gewährleistet. Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, ‚Erlebende’ in den Duden aufzunehmen.“    

Höchstmögliche Wertungsfreiheit. Hört sich gut an. Wer will denn da auch schon wieder gleich werten, nur weil ein Kind oder eine Frau - und im Ausnahmefall auch ein Mann von, in der Regel, einem Mann - vergewaltigt worden ist?!

Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis, sondern ein Verbrechen

Über Sanyals groteske „Lösung“ sind nicht nur Opfer so empört, dass sie einen Offenen Brief lanciert haben. Auf dem Portal des Bloggerinnen-Kollektivs „Die Störenfriedas“ erklären sie: „Opfer sexueller Gewalt zu ‚Erlebenden’ zu machen, lässt die Gewalt aus dem Sprachgebrauch verschwinden.“ Denn: „Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist eine Tat, vorrangig begangen von Männern an Frauen und Kindern. Von Erlebenden zu sprechen, bedeutet, die Tat selbst euphemistisch zum Erlebnis umzudeuten, ähnlich einem Konzertbesuch oder einem Urlaub.“

Zu den ErstunterzeichnerInnen des Offenen Briefes gehören Mitglieder zahlreicher Organisationen und Initiativen, von Terre des Femmes bis #ichhabenichtangezeigt, von der „Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt“ bis Sisters, von Femen bis „One Billion Rising“. Sie erklären: „Es ist nicht der Opferdiskurs, der Opfer degradiert. Es sind die Täter, nicht die Selbstbeschreibung der Opfer. Keine noch so euphemistische Umdeutung kann die Tat für ein Opfer ungeschehen machen, sehr wohl aber für den Rest der Gesellschaft – wie außerordentlich praktisch!“ Und schließlich: „Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist ein Verbrechen.“

Wäre es nicht so ernst, wäre es einfach nur noch komisch.

Wer den Offenen Brief unterzeichnen möchte, schreibt an: stoerenfriedas@googlemail.com

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