„Oskars Kleid“: Die wahre Geschichte

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Als sein Sohn Oskar die Treppe herunterkommt, fällt Vater Ben alles aus dem Gesicht. Der Junge trägt ein gelbes Kleid mit Rüschenärmeln. „Das ist Oskars Lieblingskleid“, erklärt Oskars Schwester Erna zur Fassungslosigkeit des bisher ahnungslosen Vaters. Er schleppt den Sohn zum Therapeuten. Und der erklärt Ben, was mit seinem Sohn los ist: „Ich glaube, dass ihr Sohn ein Mädchen ist.“ Dann erzählt der Film die Läuterung des Vaters vom ignoranten Semi-Macho zum verständnisvollen Papa eines „Transkindes“. Am Ende darf Oskar, der sich jetzt Lili nennt, seine blauen „Jungssachen“ in einer Kiste im Garten begraben. Die Schluss-Szene: Ben geht mit Lili an der Hand durch die Straße. Lili trägt ihr gelbes Kleid und Vater Ben – einen roten Rock.

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Die Vorlage für dieses Bild stammt - aus EMMA. Schauspieler Florian David Fitz hatte es im Herbst 2012 entdeckt. Das Foto habe ihn, sagt der 48-Jährige, zu seinem Film inspiriert. „Alles fing damit an, dass ich mit Alice Schwarzer in einer Talkshow saß, und wir haben uns sehr gut bei sehr schlechtem Weißwein unterhalten. Ein paar Tage später erhielt ich vom EMMA-Verlag ein Paket, in dem unter anderem eine aktuelle Ausgabe enthalten war. Dort entdeckte ich ein Bild, das mich sehr berührte: Ein Vater ist von hinten zu sehen, der einen roten Rock trägt, mit einem Jungen, der neben ihm steht und ein Kleid trägt. Beide gehen zusammen durch die Fußgängerzone. Der Vater unterstützte seinen Sohn auf diese Weise, damit die Leute ihn nicht blöd anschauen. Ein wundervolles Bild, was in mir die Frage aufwarf, wie ist es zu dieser Situation gekommen?“

"Ihr traut euch nicht, Röcke zu tragen, weil eure Väter sich auch nicht trauen!"

Wie es zu dieser Situation gekommen war, war im dazugehörigen Artikel nachzulesen. Im Sommer 2012 war die E-Mail von Nils Pickert in unserem Posteingang gelandet. „Hallo, liebe EMMA-Redaktion, mein fünfjähriger Sohn trägt gerne Kleider“, schrieb der Journalist. „Weil er sich damit keine Freunde gemacht hat, blieb mir nach reiflicher Überlegung nur eine Möglichkeit: Die Schultern für meinen kleinen Kerl breitzumachen und mir selbst einen Rock anzuziehen.“

Das tat Nils nicht nur in Berlin-Kreuzberg, sondern auch nach dem Umzug der Familie in eine schwäbische Kleinstadt, wo die Sache schon mehr Aufsehen erregte. „Und was macht der kleine Kerl inzwischen? Er lackiert sich die Fingernägel. Er schmunzelt darüber, wenn andere Jungen (es sind beinahe immer Jungen) ihn lächerlich machen wollen und sagt: ‚Ihr traut euch doch nur nicht, Röcke und Kleider zu tragen, weil eure Väter sich auch nicht trauen.‘ So breite Schultern hat er jetzt selbst bekommen. Und alles Dank Papa im Rock.“

Vater Pickert mit Sohn unterwegs im Rock.
Vater Pickert mit Sohn unterwegs im Rock.

Die begeisterte EMMA-Redaktion veröffentlichte Brief und Foto auf EMMAonline. Die Reaktionen waren überwältigend. „Fantastisch! Was für ein Papa!“ – „In einer perfekten Welt wäre mein Vater so gewesen!“ – „Tolle Frage für eins der ersten Dates: Würdest du für unseren Sohn einen Rock tragen?“ Dann kam die erste Presseanfrage. Von da an war kein Halten mehr: Die Geschichte vom „Papa im Rock“ ging um die Welt. Die Medien berichteten von Australien über Finnland bis Brasilien. Ein Junge im Kleid! Ein Mann im Rock! Aufruhr rund um den Globus. Was zeigte, wie unerhört der Rollenbruch von Vater und Sohn gewesen war.

Schließlich interviewte EMMA Nils Pickert und seine Lebensgefährtin Sarah Braun, ihres Zeichens Gleichstellungsbeauftragte an einer Uni. „Unser Sohn trägt nun mal gern Röcke, hat aber gemerkt, dass er auf dem Spielplatz damit der einzige ist“, erklärte die. „Also fand ich es toll, dass Nils ihm gezeigt hat, dass das kein Grund ist, sich zu schämen.“ EMMA wollte wissen: „Sagt Ihr Sohn, dass er ein Mädchen sein möchte?“ Nein, erklärte Nils Pickert. „Er kann, genau wie seine Schwester, mit diesen Kategorien wenig anfangen.“

Ist der Film von Florian David Fitz wirklich einfühlsam mit Rollenbrechern?

Leider ist Florian David Fitz nicht ganz so mutig wie sein Vorbild. In seinem durchaus charmanten und stellenweise auch sehr witzigen Film, der einfühlsam mit Rollenbrechern sein will, darf sein Oskar eben gar kein Rollenbrecher sein: kein Junge, der sich gern schminkt und Kleider trägt. Dass auch das eine Option sein könnte, wird mit keinem Wort erwähnt. Oskar „ist“ eben ein Mädchen. Und wird auch als solches an seiner neuen Schule angemeldet. Und wenn das Kind im Kleid Lili heißt und niemand weiß, dass in diesem Kleid ein Jungenkörper steckt – dann ist die vorübergehend durcheinandergebrachte Geschlechterwelt wieder in Ordnung. Was als vermeintlicher Fortschritt daherkommt, ist im Grunde ein Rückfall in die alten Geschlechterstereotype.  

Dabei weiß Drehbuchautor Fitz es doch eigentlich besser: „Ich würde den Raum öffnen und wäre sehr behutsam damit, Kinder in eine Richtung zu drücken“, erklärt er im Interview mit der FAZ. „Es sind die Eltern, die Dinge gern ‚aufgeräumt‘ haben: Ah, du bist offensichtlich soundso. Dann passt das Kind wieder ordentlich in eine Schublade.“

Wie schade, dass auch Oskar als Lili am Ende in einer Schublade steckt. Auf der steht „Mädchen“. Und wie schade, dass Florian David Fitz nicht die wahre Geschichte zum Foto erzählt hat. Doch die Zeiten und der Zeitgeist haben sich geändert. Der Junge im Rock ist heute ein „Transkind“.

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