Psychologie Diagnose TikTok
„Mein Name ist Chiara, ich bin 18 Jahre alt, ich habe ADHS. Mein Leben ist eine Achterbahnfahrt. Ich komme nie zur Ruhe“. Das berichtet Chiara auf TikTok und bricht in Tränen aus. Rein äußerlich hätte Chiara keinen Grund, traurig zu sein. Sie ist hübsch, ihr Make-Up wasserfest, die Haare glänzen und die Fingernägel sind perfekt gestylt. Aber Chiara ist ein „Sad Girl“.
Traurige Mädchen wie Chiara trenden bereits eine ganze Weile auf Social Media. Anders als die Influencerinnen für Kosmetik und Mode tragen die Sad Girls nicht ihren Körper zu Schau, sondern ihre Seele, ihre vermeintlich kranke Psyche. Sie versammeln sich unter dem Hashtag #SadGirls oder #BeautifulDamagedGirl und filmen sich mit glasigen Augen oder weinend. Das Ganze wird gerne in Schwarzweiß oder mit Sepia-Filter gepostet und mit melancholischen Zitaten bzw. traurigen Songs garniert.
Natürlich sehen die Sad Girls – wie alle Influencerinnen – immer gut aus. Denn verpickelte, moppelige Teenies im Jogginganzug verkaufen sich schlecht. Und immer tragen die Sad Girls eine Diagnose (oder gleich mehrere) mit sich rum: ADHS, Depressionen, Angststörungen, Sozialphobien – gern in Selbstdiagnose gestellt. Der Hashtag #selfdiagnosis zeigt über 22 Millionen Treffer.
ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, ist die Nummer 1. Kaum ein Sad Girl kommt ohne aus. Videos wie „Versteckte Anzeichen, dass du ADHS hast“ oder „So fühlt sich ein ADHS-Hirn“ an, trenden auf TikTok. Versteckte Anzeichen für ADHS sind laut TikTok zum Beispiel: Oft einen Ohrwurm haben, Termine vergessen, Aufgaben nicht fertigstellen können, emotional auf Ablehnung reagieren, keine klaren Entscheidungen fassen können oder wegen der Qual der Wahl einfach nichts tun wollen. Eine aktuelle psychiatrische Studie zeigt: Unter den 100 beliebtesten Videos über ADHS auf TikTok sind mehr als die Hälfte von Menschen, die keine medizinische Ausbildung haben.
Viele der jungen Frauen stellen ihre Selbstdiagnose in die Kurzbiografie ihres Social Media-Profils – in der Hoffnung auf digitale Aufmerksamkeit. Ein Sad Girl zu sein, verbindet, ist identitätsstiftend und spült durch Werbung Geld in die Kasse (ab 20.000 Followern werden Werbekunden aufmerksam).
Warum psychische Krankheiten ein Stück Popkultur geworden sind - mehr in der aktuellen September/Oktober-EMMA!