1992/93: Mia Farrow - der Verrat

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An französischen Bahnschranken hängt oft die Warnung: "Attention! Ein Zug kann einen anderen verdecken." Der eine Zug heißt Soon-Yi. Die kleine Koreanerin war in der zweiten Hälfte der 70er Jahre im Alter von etwa fünf Jahren auf den Straßen von Seoul gefunden und ein Jahr später von Mia Farrow dort im Waisenhaus abgeholt und adoptiert worden. Das verstörte und retardierte Kind schien sich in Farrows Vielkinderfamilie zu stabilisieren, auch wenn ihre Lehrerin beim Schulabschluss, da ist Soon-Yi 16, feststellen muss: "Sie ist ein typisch lernbehindertes Kind, im Sozialverhalten stark gehemmt und völlig naiv. Sie nimmt alles wörtlich. Und was sie sieht, deutet sie auch im sozialen Bereich nur nach dem Augenschein."

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Das muss die Zeit gewesen sein, in der Woody Allen das Verhältnis mit Soon-Yi angefangen hat (wenn nicht früher). Er kannte sie seit ihrem siebten Lebensjahr und war ihr sozialer Vater. Ein Jahr später fand Soon-Yis Adoptivmutter in der Wohnung ihres Lebensgefährten pornographische Polaroids ihrer Tochter (mit gespreizten Beinen etc.).

Der zweite Zug wurde, zumindest in Europa, bisher kaum wahrgenommen. Er heißt Dylan Farrow. Mia Farrow adoptierte das Mädchen als Baby, und ihr Lebensgefährte Woody Allen, der nach eigenen Aussagen "null Interesse" an Kindern hat, bemühte sich seit Dylans zweitem Lebensjahr heftig um die Adoption des kleinen Mädchens. Was sich verzögerte, immer wieder, weil, wie Adoptivmutter und Psychologen fanden, Aliens Umgang mit Dylan "unangemessen in-tensiv" war.

Will heißen: seit ihrem zweiten Lebensjahr bedrängte er das Kind mit Berührung, während er alle anderen Kinder links liegen ließ. Er versuchte immer wieder, in der Viel-Kinder-Wohnung allein mit Dylan in einem Zimmer zu sein; er wurde nachts dabei überrascht, wie er Dylan seinen Daumen in den Mund steckte; er schlang sich im Bett, nur mit einer Unterhose bekleidet, um das Kind, etc. etc.

Kam Allen, der mit Farrow in den zwölf Jahren ihrer Beziehung immer eine getrennte Wohnung behielt, zu seinem abendlichen Besuch, versteckte Dylan sich immer öfter: sie hockte im Schrank oder "fing an, wie ein Baby zu brabbeln oder wie ein Hund zu bellen".

Am 4. August 1992 platzt die Bombe, durch die Aufmerksamkeit eines Kindermädchens, das eine irritierende Szene beobachtet hat. In den folgenden Tagen und Wochen erzählt die Siebenjährige ihrer Mutter, dem Kinderarzt und den Psychologen immer wieder das gleiche: Woody Allen habe sie am ganzen Körper geküsst, auch zwischen den Schenkeln, und seinen Finger in sie "reingedrückt": "Es hat wehgetan. Er hat gesagt, wenn ich in dem Film vorkommen will, bleibt mir nichts anderes übrig. Er hat einfach immer wieder reingestoßen."

Die Aussage des Mädchens wurde auf Video festgehalten. Zu diesem Zeitpunkt wusste Mia Farrow bereits seit über sieben Monaten, dass Woody Allen mit der 17jährigen Soon-Yi ein Verhältnis angefangen hatte. Das Drama innerhalb der Familie war groß, die anderen Kinder waren völlig verstört und ihre Mutter nicht minder. Nur Woody Allen schien nicht recht zu verstehen, was schlimm daran sein sollte. Er erschien jeden Abend in Mia Farrows Wohnung, nicht zuletzt, um Dylan zu sehen.

Und Mia Farrow? Die macht zwar Szenen und verbietet ihm das Haus - doch wechselt das Schloss nicht aus. Sie erstattet auch keine Anzeige und geht nicht an die Öffentlichkeit mit dem Skandal. Es ist der Kinderarzt, der Dylan untersucht hatte, der im August 1992 Anzeige erstattet:

Anzeige gegen Woody Allen wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch. Eine Woche später geht Woody Allen in die Offensive. Er klagt auf das Sorgerecht für drei Kinder: den gemeinsamen Sohn Moses sowie die - wenige Monate vor der Enthülllung mit Soon-Yi - von ihm adoptierten Kinder Satchel und Dylan.

Woody Allen wird diesen Prozess mit Pauken und Trompeten verlieren, und der Richterspruch wird zur moralischen Bankrotterklärung für ihn (siehe nachfolgende Textauszüge). Mit Soon-Yi, heute 23, lebt der 61jährige inzwischen zusammen und zeigt sich händchenhaltend in der Öffentlichkeit ("Eine reine Liebe").

Die Kinder Mia Farrows weigern sich, ihren (tatsächlichen, sozialen oder Adoptiv-)Vater zu sehen. Den stärksten Schock scheint, neben Dylan, sein mit Farrow gemeinsamer leiblicher Sohn Moses zu haben. Bereits nachdem er die Sache mit Soon-Yi erfuhr, schrieb Moses seinem Vater: "Du kannst mich nicht zwingen, bei dir zu leben. Du hast dir eine schreckliche, armselige, hässliche, dumme Sache geleistet. Jeder Mensch weiß, dass man mit der Schwester seines Sohnes keine Affäre anfängt. (...) Ich betrachte dich nicht mehr als meinen Vater. Ich hoffe, du bist stolz darauf, den Traum deines Sohnes zerstört zu haben."

Mia Farrow ist heute 51. Sie kam als Kind einer Hollywood-Schauspielerin (Maureen O'Sullivan) und eines Regisseurs zur Welt. Mit neun Jahren riss sie der Schock einer Kinderlähmung aus der Idylle einer behüteten, glamourösen Kindheit. Seither träumt sie davon, ein "sinnvolles Leben" zu führen. Bei den, immer älteren, Männern (von Salvador Dali über Frank Sinatra bis Andre Previn) scheint sie diesen Sinn nicht gefunden zu haben. Sie hat sich, neben der sehr ernsthaft betriebenen Schauspielerei (u.a. 'Rosemaries Baby', zehn Jahre lang alle Woody-Alien-Filme) in den letzten 25 Jahren auf die Kinder gestürzt: alles in allem 14 an der Zahl, meist adoptiert, sieben davon sind schon erwachsen, sieben heute noch bei ihr.

Lange Jahre war sie fasziniert von Woody Allen, glaubte auf eine naive Weise an ihn (so sagt sie bei einem Aids-Verdacht zu ihm: "Wie kannst du Aids haben? Wir sind doch seit zehn Jahren zusammen"), ja bewunderte ihn. Farrow ging davon aus, dass diese Beziehung bis ans Lebensende halten würde.

Bleibt die Frage: Warum zog sie keinen Schlussstrich, als sie im Januar 1992 entdeckte, dass Allen selbst vor der eigenen Tochter bei seinen destruktiven Machtspielchen nicht zurückschreckte? Ja, wie kann es sein, dass sie trotz alledem noch im Herbst 1992 einen neuen Film mit ihm drehen wollte? Und dass sie erst nach Dylans Enthüllungen endlich handelte?

Farrows Bilanz, die nicht nur sprachlich genau, sondern auch selbstkritisch ist, zeigt auf eine exemplarische Weise, wie eine eigentlich selbständige, tüchtige, ja berühmte Frau in Abhängigkeit geraten kann: in emotionale, soziale und schließlich auch ökonomische Abhängigkeit. Als es einmal kriselt, droht Allen, der als Regisseur seit Jahren ihr einziger Arbeitgeber ist (weil sie alle anderen Angebote abgelehnt hatte), unmissverständlich: "Es wird dir schwerfallen, in der harten Wirklichkeit zu arbeiten und die Kinder zu ernähren." Als die Sache mit Dylan öffentlich wird, antwortet Woody Allen mit einer medialen und juristischen Schlammschlacht. 

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Das vernichtende Urteil

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Als "schuldig in allen Punkten" erkannte Richter Elliott Wilk Woody Allen. Er erteilte Mia Farrow das alleinige Sorgerecht für alle Kinder. Seinen fünfjährigen leiblichen Sohn Satchel darf Allen dreimal in der Woche sehen, allerdings "nur in Begleitung eines Psychologen". Seine siebenjährige Adoptivtochter Dylan, deren Missbrauch Farrow ihm vorgeworfen hatte, darf er solange nicht sehen, wie sie in therapeutischer Behandlung ist. Sein 15-jähriger Adoptivsohn Moses darf selbst entscheiden und weigert sich, Allen wiederzusehen. Die Kosten beider Parteien gehen zu Lasten von Woody Allen, sie werden auf zwei Millionen Dollar geschätzt.

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Die New York Times berichtete weiter: "In einem vernichtenden Urteil von 33 Seiten warf Richter Wilk Herrn Allen vor, er habe mit einer Tochter seiner Lebensgefährtin eine Liebesaffäre begonnen, habe Familienmitglieder gegeneinander aufgewiegelt und habe von den wichtigsten Dingen im Leben seiner Kinder keine Ahnung. Der Richter beschrieb Woody Allen als einen 'eigennützigen, unzuverlässigen und unsensiblen' parent." (Anm. d. Red.: 'Elternteil' ist die in Amerika übliche geschlechtsneutrale Bezeichnung für Vater und Mutter.)

Der Richter verurteilte das Verhältnis Woody Allens zu seiner "sozialen" Tochter Soon-Yi hinter dem Rücken von Mia Farrow moralisch. Und er hielt den sexuellen Missbrauch der heute siebenjährigen Dylan nicht für ausgeschlossen. Wenn auch nicht für beweisbar, die Indizien seien "unklar". Dabei bezog sich Richter Wilk auch auf die Psychotherapeutin der kleinen Dylan, die Allens Verhältnis zu Dylan als "unangemessen intensiv" bezeichnet halte. Es sei auch noch unklar, ob Allen sich jemals "die Einsicht und Urteilsfähigkeit aneignen" könne, die für den Aufbau einer "angemessenen Beziehung zu Dylan" erforderlich ist. Das New Yorker Gericht konstatierte bei Allen eine grundsätzliche "schwerwiegende Unzulänglichkeit" in Sachen Elternschaft.

Die New York Times: "Das Gericht stellte in so gut wie allen Punkten seine elterliche Eignung in Frage und nannte Allens Verhalten den Kindern gegenüber ‚Missbrauchend und gefühllos'." Im Urteilsspruch heißt es wörtlich: "Herr Allen hat keinerlei elterliche Fähigkeiten gezeigt, die ihn als angemessenen Betreuer von Moses, Dylan oder Satchel ausweisen würden." Einzige Kritik des Richters an der Mutter: "Frau Farrows einzige Unzulänglichkeit als verantwortliche Erziehungsperson war wohl ihre fortgesetzte Beziehung mit Herrn Allen."

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