Reise in die fremde Heimat

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Am Flughafen Berlin-Tegel sind sie bereits. Meine türkischen Brüder und Schwestern, wie ich sie aus Kreuzberg und Wilhelmsburg kenne. Viele tragen die islamische Tracht: Kopftücher, lange Mäntel, Röcke über weite Hosen. Die anderen halten sich abseits. Frauen und Männer in Geschäftskleidung, allein; meist tragen sie Sonnenbrillen, auch wenn das Berliner Wetter heute eher grau ist. Sie schweigen. Die anderen haben Kinder dabei, und auch den kleinen Mädchen haben sie geblümten Stoff um den Kopf gewickelt. Die Frauen stehen bei den platzenden Koffern und Taschen, die Männer stehen zusammen, unterhalten sich und zerren an ihren Gebetsketten. Alle reden türkisch.

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Eine verschleierte Frau spricht eine Frau im Tschador, etwa sechzig, an, die ihren Oberkörper unablässig hin und her wiegt. Sie sagt: "Ich hab gehört. Deine Gelin (Schwiegertochter) ist tot. Mein Beileid. Nehmen Sie sie mit in die Heimat?" Die Frau nickt. "Das ist gut. Machen Sie sich nichts daraus. Das Leben ist der Tod. Gestern starb bei uns in Kreuzberg ein junges Mädchen. Als die Mutter ihre Tochter vor dem Fernseher liegen sah, fiel sie ebenfalls um, und starb an einem Herzinfarkt. Beide sind in die Heimat geflogen, sind von diesem Leben in das wahre Leben zu Allah gegangen. Das Leben ist ihnen erspart geblieben. Wie alt war Ihre denn?" Die Schwiegermutter weiß es nicht.

Etwas weiter weg sitzen zwei junge Mädchen, sie ruft ihnen zu: "Wie alt war Halise?" "Vierzig!" rufen sie zurück. "Ja, ja", sagt sie, "vor 25 Jahren hatte ich sie geholt, so muss sie nun zurück in die Heimat. Allah sei Dank sind die Kinder groß. Aber mein Sohn, was soll er nun machen? Ich werd' nun wieder sehen müssen."

Im Flugzeug der Turkish Airlines, irgendwo über Europa. Eine Frau ruft nach vorn: "Wie alt war sie?" "Fünfunddreißig!" ruft eine andere zurück. "Plötzlich war sie tot. Auch ihre Tochter ist gestorben und ihre Schwägerin." Da seufzt die erste ganz laut: "Oh Allah, oh Allah, nur du kannst es wissen." Einem bärtigen Mann wird das zu viel, er sagt zu seiner Nachbarin: "Fragt nicht so nach dem Tod, wenn er da ist, ist er da, da kann man nichts machen. Die Krankheit ist nur ein Vorwand, wenn Gott ruft, bestellt er den Weg zu sich. Mischt euch nicht ein in Gottes Entscheidungen!"

Ich versuche zu lesen. Vor einigen Wochen habe ich Zülfü Livaneli, einen ehemals berühmten Sänger und jetzigen Abgeordneten der CHP (Cumhuriyet Halk Partisi), der Republikanischen Volkspartei, im türkischen Parlament bei einer Diskussion über Ehrenmorde getroffen. Livaneli trat auf wie die meisten türkischen Intellektuellen, wenn sie im Ausland sind. Er verteidigt die Türkei, bezeichnet Ehrenmorde als ein internationales Problem, auch in Norwegen gäbe es so etwas. Ja, das stimmt, entgegnete ich. Eine afghanische Frauenrechtlerin war in Norwegen von ihrer Familie umgebracht worden. Ich war verwirrt. Ich kannte Livaneli doch als streitbaren Linken, der für die Rechte der Kurden eintrat und eine Stimme der Demokratie und Menschenrechte ist.

Entsprechend skeptisch begann ich in seinem in der Türkei sehr erfolgreichen Buch zu lesen, das er mir nach dem Treffen geschickt hatte. Es handelt von drei wacht, weil er befürchtet, all seine wissenschaftlichen Betrügereien würden ans Licht kommen. Das Buch ist spannend. Und immer wenn ich den Verdacht habe, jetzt kommt doch das übliche Klischee, überrascht Livaneli mich und stellt das Leben seiner Protagonisten auf den Kopf.

Istanbul ist nicht nur eine Stadt, die niemals schläft, es ist auch eine Stadt, die nicht endet. Der Blick aus dem Fenster beim Landeanflug zeigt nur zweierlei: das Marmara-Meer und das Häusermeer. Von Horizont zu Horizont Häuser. Der Atatürk-Flughafen ist ein großer moderner Glas-Marmor-Palast mit spiegelnden Fußböden, von der türkischen Architektin Ebru Kantasi entworfen. Ich muss umsteigen nach Ankara. Vor der Sicherheitskontrolle stehen die Menschen Schlange. Jeder Zweite telefoniert. Hinter mir ruft jemand in sein Handy: "Ja, wir sind angekommen und steigen gleich ins Flugzeug. Was macht unsere Leiche, alles fertig? Wir sind um 17 Uhr in Kayseri!"
Der Tod reist mit. "Danke lieber Abi (großer Bruder), küsse deine Hände lieber Abi, Allah möge dir das Glück schenken, Reichtum geben ..." Er verabschiedet sich und wendet sich an seine Mitreisenden: "Unsere Leiche ist bereits gewaschen, Freunde", sagt er zu seinen Begleitern, etwa ein Dutzend bärtige Männer. "Wir können sie heute Abend noch beerdigen."

Auf der Damentoilette schminkt sich eine junge Frau mit sehr langen blondierten Haaren vor dem Spiegel. Ihr Handy klingelt, sie ruft "Hey Baby! Ja, bin gleich in Ankara, habe unser Essen nicht vergessen. Bis dann." Sie trägt eine enge Hüfthose und ein grünes bauchfreies Top. Sie ist sehr attraktiv und weiß das. Sie knipst ihre Handtasche zu und rauscht auf ihren ebenfalls grünen Pumps davon.

Die Toiletten sind schmutzig, der Boden ist nicht gewischt und hinter einer halbgeöffneten Tür sehe ich, wie eine Frau mit nackten Füßen sich hin und her bewegt. Sie versucht, im Toilettenbecken die rituelle Waschung vor dem Gebet zu machen, das heißt, auch die Füße zu waschen. Ich bin perplex. "Ist es nicht besser, wenn sie zu Hause beten?" "Mögen die Flughafenverantwortlichen in Sünde baden, sie müssen uns Gebetsräume einrichten", antwortet sie.

Auf dem Flug nach Ankara bietet sich mir ein neues Bild. Viele alleinreisende Geschäftsleute, Männer wie Frauen. Sie tragen Aktentaschen, die Frauen in schicken Kostümen und mit großen Sonnenbrillen. Offenbar der dernier cri. Ich lese weiter. Beeindruckend, wie Livaneli die Landschaften Anatoliens und die Stadt Istanbuls beschreibt. So ganz anders als Pamuk. Pamuk beschreibt die Vergangenheit, Livaneli die Gegenwart.

Der Flughafen in Ankara liegt weit vor der Stadt. Ich habe eine Fahrt von zwei Stunden vor mir. Es ist hügelig, die Erde ist rot. Wir fahren durch kleine verlassene Dörfer und Städte, viele Ruinen und zerstörte Häuser, nirgendwo Menschen. Unbeschädigt sind nur die Moscheen. Sie stehen fast nebeneinander, in menschenleeren Dörfern. Später erfahre ich, dass die Regierung die Häuser niederwalzen ließ, weil sie ohne Genehmigung gebaut worden waren. Weiter hinten stehen Hochhäuser, dorthin hat man die Bewohner umgesiedelt. So direkt an der Straße, erzählt man mir, hätten die Slumviertel den Besuchern kein gutes Bild von der Türkei abgegeben.

Ich lese weiter. In einem Stall wird die junge Meryem von ihrer Familie gefangen gehalten. Der Chef des Clans, ihr Onkel, hat sie vergewaltigt, und das ist herausgekommen. Jetzt soll sie sterben, damit die "Ehre" der Familie wiederhergestellt wird. Die Tat ausführen soll ihr Cousin, der vom Militär zurückkehrende Cemal. Er zögert und weiß nicht, wie er es machen soll. Er geht mit der Cousine erst einmal los, Richtung Istanbul.

Ich bin nach zwei Jahren erstmals wieder in der Türkei. Ich besuche meinen Onkel, er ist sehr krank und möchte mich "noch einmal sehen", wie er am Telefon sagte. Er und meine Tante freuen sich sehr, mich wiederzusehen. Am nächsten Tag begleite ich ihn ins Krankenhaus. Er bekommt gerade eine Chemotherapie. Wir sind früh dort. Es ist schon morgens warm, und die Schlange vor dem Krankenhaus ist lang. Da es in der Türkei keine niedergelassenen Ärzte gibt, müssen alle Kranken, wenn sie sich keine Privatärzte leisten können, ins Krankenhaus.

Inzwischen ist es Mittag, die Infusion dauert dreißig Minuten. Die Kranken müssen in Begleitung kommen, weil es zu wenige Krankenschwestern gibt. Ich warte mit den anderen auf dem Flur, bis mein Onkel fertig ist. Die Infusionskanüle steckt noch in seinem Arm. Für den nächsten Tag. Die Therapie dauert zehn Tage, danach zehn Tage Pause, dann wieder zehn Tage. Zuhause ist ihm schwindlig, er muss sich übergeben und er schläft am Nachmittag. Bis das Telefon klingelt.

Entweder klingelt das Telefon oder Besuch steht direkt vor der Tür: Verwandte, Nachbarn, Freunde, frühere Kollegen fragen, wie es ihm geht. Die Kollegen sind ihm besonders wichtig, er war dreißig Jahre Museumsdirektor in Ankara. Wenn sie nicht anrufen würden, wäre er sehr beleidigt. Das gehört zu unserer Kultur, sagt er, dass man sich um die Kranken kümmert. Also zehn mal am Tag dieselbe Geschichte von Kanülen, Diagnose, Therapie und gute Wünsche.

Am Abend wird gemeinsam gegessen und getrunken und nur über das eine Thema gesprochen. Meine Tante hat eingekauft, aufgeräumt, und für den Nachmittag und Abendbesuch Gebäck und Baklava gebacken. Sie bedient den Besuch. Ihre älteste Tochter ist berufstätig und hat gerade ein Baby bekommen. Es ist selbstverständlich, dass die Familie auch die Versorgung der Kinder übernimmt, also in diesem Fall die Oma.

Es gibt kaum Kindergärten für berufstätige Frauen. Die wenigen, die es gibt, leisten sich die bürgerlichen Frauen. So hat meine Tante neben ihrem krebskranken Mann auch das Neugeborene zu versorgen. Auf dem einen Arm trägt sie das Kind und mit der anderen Hand das Tablett mit den Teegläsern für die Gäste. Zur Geburt, sagt sie, wären an einem Tag zwanzig Gäste auf einmal gekommen, und der Besucherstrom hätte Wochen gedauert. Alle wollten die Großeltern beglückwünschen. Als Gastgeschenk bekam das Mädchen Goldreifen, Goldkettchen, für ihre Hochzeit, später. Als Besuch aus Deutschland war ich natürlich der Höhepunkt des bisherigen Krankheitsverlaufs.

Zwei Tage später sitze ich in einem der komfortablen Überlandbusse Richtung Istanbul. Auch die Helden meines Romans sind auf dem Weg nach Istanbul. Aber der Sohn, der die Schande für seinen Vater ausbügeln soll, traut sich nicht, seine Cousine umzubringen. Sie sitzen in einem Bus, und beide sehen zum ersten Mal den Bosporus, das Meer und die Hagia Sophia, wenn auch nur von weitem.

Ich mag die Raststätten der türkischen Überlandstraßen. Jeder Bus hat seine Haltestelle. Das Essen ist dort immer lecker, günstig und die Reise ist wesentlich komfortabler als mit der Eisenbahn, die seit 1923 ihre Geschwindigkeit nicht erhöht hat und noch mit den alten Waggons der Bagdadbahn fährt. Mit Livanelis Buch auf dem Schoß fahre ich in die Stadt ein und sehe sie mit den Augen meiner Romanhelden.

Der Stadtteil Cihangir ist für Istanbul so etwas wie Mitte für Berlin. Musikkneipen, Galerien, internationales Flair. Viele junge Leute, "Enteis", Intellektuelle, wie man dort sagt, also Menschen, die in Zeitungen, Instituten und Agenturen arbeiten wohnen hier. Im ,Leyla', einem In-Cafe, trinke ich für 4,50 Türkische Lira (3,50 Euro) ein Cafelatte. Hier ist niemand verschleiert, keine trägt Kopftuch. Die Gäste sprechen selbstverständlich Englisch oder Deutsch und unterhalten sich über ihre letzten Einkäufe in Paris oder den Besuch bei Freunden in Berlin.

Im Hotel Marmara am Taksimplatz treffe ich mich mit Zehra Ipsiroglu, einer Professorin für interkulturelle Theaterwissenschaften in Deutschland. Wir sprechen über ihr Gespräch mit Türkan Saylan, das gerade als Buch erschienen ist. Türkan Saylan ist Ärztin und seit Jahrzehnten Bürgerrechtlerin, die Gründerin der Bewegung CYDD (Jagdas Yasami Destekleme Dernegi), der Bewegung für modernes Leben. Sie unterstützen und entwickeln Projekte im Osten Anatoliens, besonders für Mädchen, die nicht zur Schule können. In Gebieten, wo die Dörfer keine Schulen haben, haben sie Internate eingerichtet.  Obwohl schwer krank,  betreibt Türkan ihre Arbeit mit Leidenschaft und Energie.

Es sind diese aufgeklärten Frauen, die etwas tun, wie die Frauenorganisation "Ucan Süpürge" (Fliegende Besen). Die fliegenden Besen klären Frauen über Zwangsheirat, Kinderehen und arrangierte Ehen auf und stellen Kontakte zwischen den Frauen her, entwickeln Netzwerke. Sie geben die ,Ucan Haber' (Fliegende Nachrichten) heraus und haben inzwischen auch eine Internetseite (auch auf Englisch).

Im Hotel gibt es kurzzeitig kein Wasser, jemand hat vergessen den Tank zu füllen. Ich erfahre, dass eines der großen Probleme der Stadt der Wasserverbrauch ist. Das Rohrleitungssystem der jeden Tag wachsenden Stadt ist völlig überlastet und marode. Ein Viertel des Wassers kommt nie im Kran an.

Am Nachmittag laufe ich von Beyoglu, dem Genueser Viertel, hinunter nach Eminönü, dem historischen Teil der Stadt. Über die Galatabrücke oder, wie es in Sevgi Özdemars Roman heißt, "die Brücke zum Goldenen Hörn". Eine dicht gedrängte Menschenmenge steht und schiebt sich an der Uferpromenade hin und her. Menschen aus allen Teilen der Türkei. Gruppen von Frauen, tief verschleiert in schwarzen Tschadors, oder nach der neuesten Mode der Islamisten gekleidet, das heißt mit einem bunten, weit über die Schulter liegenden Kopftuch und in bodenlangem Mantel.

Die Politk von Tayyip Erdogan spaltet das Land. Die AKP betreibt mit Unterstützung der armen, dörflich strukturierten Bevölkerung die Islamisierung des Landes von Grund auf. Sie besetzt Ämter, baut so viele Moscheen und Koranschulen, dass die Bürgermeister anordneten, dass der Abstand zwischen zwei Moscheen mindestens einen Kilometer betragen muss. Ganze Branchen wurden von den Islamisten vereinnahmt. Es gibt islamistische Textilfabrikanten, die nur für den Schalvar- und Türban-Markt produzieren und nur Näher anstellen, die streng gläubig sind. Sie sind in einem von der AKP-Regierung finanzierten Unternehmerverband organisiert und finanzieren ihre Geschäfte über eigene Banken.

Auf dem Bazar gibt es einfach alles, zu Spottpreisen: Von Elektrogeräten über Spielsachen bis zu Jeans. Vor dem ägyptischen Basar ist es so voll, dass man nicht mehr vorwärts kommt. Hier sind jetzt alle Frauen verschleiert, und die wenigen Touristen werden bestaunt und sind das Ziel der fliegenden Händler.

Die Ware liegt auf Decken, und jeder versucht seine Ware anzupreisen. Plötzlich über dem Lärm ein Pfiff aus einer Trillerpfeife. Eine Gruppe von rund zwanzig Polizisten stürmt auf den Platz. Die Händler raffen ihre Decken zusammen und verschwinden im Fußgängertunnel oder in einer der Nebenstraßen. Einen alten Mann erwischt es, er hat keine Lizenz. Mich würde nicht überraschen, wenn Meryem aus Livanelis Roman mit ihrem Plastikbeutel vor mir auftauchen würde. Der ganze Platz scheint mir voller Meryems.

In einem der Gecekondus, wo die Stadtviertel keine Namen haben und erst Straßen gebaut und Strom verlegt wird, wenn die Häuser längst stehen, besuche ich eine Familie und spreche mit einem strenggläubigen Muslim und Kurden, der "wegen einer Familiensache", also wohl wegen eines Falles von Blutrache, nach Istanbul fliehen musste. Er ist Mitte dreißig, trägt Bart und ein kariertes Hemd und arbeitet in einer Fabrik als Näher. Nachdem er die Stelle hatte, heiratete er seine Cousine aus seinem Dorf, die ihm bereits als Baby versprochen worden war.

Dann kamen seine Brüder nach und haben auch geheiratet. Sie haben zuerst eine Art Garage gebaut, und die dann erweitert und aufgestockt. Jetzt leben sie zu etwa 20 Personen auf drei Etagen. Wer Arbeit hat, liefert das Geld in der Familie ab. Die Frauen der Familie bereiten in der Küche das Essen. Im Laufe des Gesprächs kommt ein Cousin und Onkel nach dem anderen in den großen nur mit einem Teppich ausgelegten Raum und setzt sich in die Reihe zu den anderen an die Wand, um ihrem Abi zuzuhören, der mir, der Abla, der großen Schwester aus Almanya, erklärt, wie die Türkei eine islamische Republik werden könnte.

Er stellt mir seine Töchter vor. Die Älteste ist vierzehn und wird in diesem Jahr die Schule beenden. Ich frage sie, was sie danach vorhat. Schüchtern sagt sie, ihre Lehrerin hätte vorgeschlagen, dass sie auf das Gymnasium gehen solle. Ich sehe den Vater an und frage ihn: "Wird sie zur Schule gehen?" Er lacht und sagt, auf der Koranschule lerne man alles für das Leben und "Allah weiß, was er für Pläne hat".

Ich schätze, etwa fünf der zwölf Millionen Einwohnerinnen in der Großregion Istanbul leben in solchen Slums. Doch die Menschen in Cihangir, in Moda und den Villen entlang des Bosporus ignorieren sie. Es gibt hier die Dörfler, gleich Islamisten - und da die Intellektuellen und säkularen Bürgerlichen. Dort die mittelalterliche Tracht, hier der letzte Chic.

Wir in Deutschland beklagen, dass sich die Migrantinnen in eine Parallelwelt zurückziehen, in Istanbul ist das die Norm. Nur dass sich hier die säkulare, westlich orientierte Gesellschaft auf ihre Wohlstandsinseln, in bewachte Shopping-Mails und In-Cafes zurückzieht, der Muezzin mit dem iPod übertönt und so getan wird, als könne man die Probleme einfach ignorieren. Aber die Islamisierung des Alltags schreitet voran. War vor Beginn der islamischen Revolution im Iran kaum eine Frau in Istanbul verschleiert, sind es heute zwei von drei.

Im September 2006 hat der oberste ,Kontrollrat des Staatspräsidenten' Sezer, eigentlich ein Vertreter des Laizismus, einen Bericht vorgelegt, wonach Türken, die keine Muslime sind, nicht als Türken, sondern als Ausländer gelten. Die Empörung darüber hielt sich in Grenzen. Die Opposition ist schwach.

Noch Schlimmeres ist zu erwarten, wenn das von Erdogans AKP dominierte Parlament im April einen neuen Staatspräsidenten wählen wird. Wenn dies, wie zu befürchten, ein AKP-naher Repräsentant - vielleicht sogar Erdogan selbst - wird, dann gerät auch die letzte republikanische Bastion, das Militär, ins Wanken. Man wird als erstes das Kopftuchverbot an Universitäten und in den Behörden abschaffen, den nationalen Sicherheitsrat auflösen oder zumindest versuchen, die Autonomie des Militärs zu beschränken. Die demokratische Legitimation dafür - Mehrheit im Parlament und Unterschrift des Staatspräsidenten - wäre vorhanden.

Bis dahin setzt die AKP, die islamistische ,Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung' des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan, auf die Islamisierung des Alltags. Prof. Dr. Halis Ayhan, an der Marmara Universität zuständig für religiöse Erziehung, Ethik und Kultur, erklärte schon 2004 in der Zeitung Vakit. "Wichtig ist, dass das Kind von Geburt an mit dem Ruf des Muezzin aufwächst. Und jedes Mal, wenn die Eltern das Kind auf den Arm nehmen, sollten sie dem Kind das Glaubensbekenntnis ins Ohr sprechen. So ist gewährleistet, dass sein Leben islamisch geprägt wird."

Im Jahr 2006 gibt es keinen Stadtteil, keinen Wohnblock, in deren unmittelbaren Nähe nicht eine Moschee steht. Morgens vor Sonnenaufgang ruft der Muezzin durchs Megaphon zum Gebet. Und ganz gleich, ob Muslim, Christ oder Atheist, alle bekommen zu hören, dass es nur einen Gott gibt und Mohammed sein Prophet ist.

Die Folgen dieser Propaganda sind schon heute überall spürbar. Keiner bekommt mehr eine Lizenz für eine Autobahnraststätte oder einen Vergnügungsdampfer, wenn er nicht Gebetsräume einrichtet, oder wer Pilot bei der staatlichen ,Turkish Airlines' werden will, der hat als AKP-Mitglied beste Chancen.

Ich erinnere mich an mein Leben in Istanbul. "Ich muss heute nach Eyüp!", verkündete meine Mutter beim Frühstück. Sie hatte von ihrem Vater geträumt, den sie seit ihrem Fortgang aus dem Dorf nicht mehr gesehen hatte. "Ich muss heute für ihn beten, Neda nehme ich mit!" Nachdem meine Mutter ihre Haare von Lockenwicklern befreit und ein dezentes Kostüm ausgesucht hatte, packte sie ein leichtes weißes ,Tülbend', ihre Tasche passend zu den Schuhen mit den Pfennigabsätzen. Auch ich durfte mein schönstes Kleid aus Organza anziehen und trug einen breiten Strohhut.

Wir wohnten im asiatischen Teil von Istanbul, in Kadiköy. Der Weg auf die europäische Seite war Mitte der Sechziger Jahre eine kleine Reise. Erst mit dem Tramvay', der Straßenbahn bis zum Hafen, dann mit der Fähre über den Bosporus nach Eminönü,  und weiter mit einem Boot das Goldene Hörn entlang nach Eyüp.

Eyüp ist ein Wallfahrtsort mit der ältesten Moschee Istanbuls, dem Mausoleum des Bannerträgers Mohammeds, Eyüp Ensari, und dem auf einem Hügel liegenden ältesten Friedhof der Stadt. Dort angekommen kaufte meine Mutter ein paar weiße Kerzen, legte das Kopftuch um, stellte sich zum Sarkophag im Mausoleom des Heiligen, zündete Kerzen an und betete für ihren Vater und für ihre Familie, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Nach dem Gebet kam das Tuch wieder in die Tasche, und wir gingen im Cafe ,Pierre Lotti' Tee trinken, genossen unsere mitgebrachten Sandwiches und den Blick über das Goldene Hörn.

40 Jahre später stehe ich wieder am Pier von Eminönü am  Bosporus.  Mit Freunden miete ich ein Boot, das uns nach Eyüp bringen soll. Ich beschließe, mir nun endlich ein Foto von Ära Güler zu kaufen, jenem Fotografen Istanbuls, der wie kein anderer "hüzün" - das Gefühl Istanbuls - eingefangen hat.

In Eyüp, rechts und links der kleinen Straßen stehen Buden mit religiösen Artikeln. Grüne Fahnen, das blaue Auge Fatimas gegen den bösen Blick, Schmuckketten mit Koransuren. Viele Geschäfte bieten Kassetten und CDs mit religiösen Liedern sowie religiöse Kleidung. Aus den Lautsprechern der Läden hören wir religiöse Gesänge und Predigten bekannter Vorbeter.

Es ist Sonntag und viele Familien nutzen diesen Tag, die heilige Stätte zu besuchen und zu beten. Die alte Moschee ist überfüllt, Frauen ist der Zugang verboten. Im Hof der Moschee, hinter einer provisorischen Absperrung, hocken etwa hundert verschleierte Frauen auf den Knien und beten. Sie haben ihre kleinen Gebetsteppiche mitgebracht und sitzen auf dem Boden. Der Imam ruft aus dem Lautsprecher: "Allah möchte, dass ihr für ihn betet, dass ihr eure Pflicht ihm gegenüber niemals vergesst ..." Das Gedränge ist groß, Frauen verteilen an Passanten Würfelzucker und Kinder füttern die Tauben. Nichts mehr von der Gelassenheit und Einkehr, die meine Erinnerung mit Eyüp verbindet.

Wird Cemal Meryem umbringen? Das Glück, Istanbul zu sehen, währt im Roman nur kurz. Auf der Suche nach Cemals älterem Bruder geraten sie in ein von der Welt verlassenes Viertel, wo die Polizei nur noch Extremisten vermutet. Und Meryem spürt, was mit ihr geschehen soll. Cemal stößt sie einen Berg hinunter und bricht anschließend weinend zusammen. Meryem überlebt durch einen Zufall und tröstet den Cousin. Der Professor segelt inzwischen in der Ägäis und versucht, seine Nöte in Alkohol zu ertränken.

In Florya, einem der schönsten Istanbuler Badestrände, nehme ich an einem Hochzeitsessen teil. Der Ort, noch in den Sechziger Jahren ein Sinnbild für die neue Bürgerlichkeit und das moderne Leben, hat sich verändert. Die Villen stehen noch, aber die staatlichen Erholungsheime sind von Aktivisten der AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi) übernommen worden. Und nun beherrscht der lange Mantel und der Türban das Strandleben, gehen die Islamisten, wie damals die Studenten demonstrativ an den Villen vorbei, so als wollten sie sagen: Bald werden wir dort wohnen.

Mitten beim Familienessen der Braut - als der Muezzin der nahen Moschee ruft - stehen die gläubigen Mitglieder der Familie auf und ziehen sich in getrennte Räume zum Beten zurück. Die Hochzeitsfeier findet getrennt statt. Als ein technisch versierter Mann ins Frauenzelt kommen muss, um die Musikanlage zu reparieren, verbergen die meisten Frauen ihr Haar unter einem Kopftuch. Eine Frau bleibt ruhig sitzen. Als ich sie frage, warum sie keinen Schleier anlegt, sagt sie: "Ich trage eine Perücke."

Der Vater der Braut ist ein Lebensmittel-Fabrikant. Er hat mit Hilfe der IKB (Islam Kalkinma Bankasi), einer islamischen Bank, die Firma gegründet. Er und seine Geschäftsfreunde profitieren von dieser Bank, die nur bekennenden Muslimen Kredite gibt. Die Islamisten haben einen eigenen Wirtschaftskreislauf aufgebaut.

Dank der Unterstützung der AKP gibt es einen staatlich mit elf Millionen Dollar pro Jahr geförderten Unternehmerverband, den Islam Özel Sektor Destekleme Kurumu. Sein Ziel ist es, die Wirtschaft zu islamisieren.

Die republikanische CHP (Cumhuriyet Halk Partisi) läuft dagegen Sturm, nennt das die Einführung der Scharia am Arbeitsplatz. Aber die AKP hat die Mehrheit im Parlament und setzt die Subvention durch. Die in diesem Verband zusammen geschlossenen Unternehmer stellen nur Strenggläubige ein, richten die Arbeitszeiten nach den Gebetszeiten, produzieren Kleidung für den religiös geprägten Markt, verkaufen ihre Ware in Helal, ,reinen' Läden und finanzieren sich über eigene Banken.

Als ich versuche, auf dem Großen Bazar in einem dieser Läden etwas zu kaufen, werde ich nicht bedient. Ich trage kein Kopftuch und bin damit als unrein erkannt. Es ist, als wäre ich nicht anwesend. Die besser situierten Muslime gründen gezielt islamische Schul-Internate, zahlen bis zu 10.000 US-Dollar im Jahr, um ihre Kinder dort unterzubringen, vergeben Stipendien und versuchen islamische Akademiker für alle Bereiche auszubilden. Ganz vorne dabei sind die vielfältigen Stiftungen des Predigers Fetullah Gülen, die gezielt auf Bildung und Religion setzen und inzwischen mit über 300 Ablegern ein weltweites Netzwerk von Internaten, Schulen und Studiengemeinschaften betreiben.

In den Augen des Volkes hat die AKP den Gläubigen den Weg an die Universität geebnet. Bisher konnten die Absolventen der Imam Hatip Schulen, der Koranschulen, nur eine religiöse Fakultät besuchen, wurden Vorbeter oder Imam. Jetzt berechtigt ihre Kenntnis des Korans und der Hadithe sie zum Studium aller Fächer. Spreche ich darüber mit Menschen, die dem Islam kritisch gegenüber stehen, spüre ich Furcht.

Überall, wo die Gelegenheit besteht, werden Posten von der AKP mit Weggefährten besetzt. So wurde Anfang des Jahres ein Skandal inn einem Kinderheim aufgedeckt. Die Kinder wurden systematisch geschlagen und misshandelt. Als der Fall untersucht wurde, stellte man fest, dass die zuständige Behörde in den Jahren zuvor alle Erzieherinnen entlassen und durch strenggläubige Frauen ohne pädagogische Ausbildung ersetzt hatten. Zum Glück gibt es noch die demokratische Presse, die solche Dinge aufdeckt, auch wenn sie ständig unter Druck gesetzt wird.

Die liberale Zeitung Cumhurriyet wurde mehrmals tätlich angegriffen. Auch sind zur Zeit mehrere Autorinnen angeklagt, weil sie in ihren Texten, fiktiv oder real, die Situation im Land beschreiben oder sich kritisch äußern. Man wirft ihnen dann "Verrat des Türkentums" vor, eine nach Paragraf 301 der türkischen Verfassung strafbare Handlung. Das Verfahren gegen Orhan Pamuk wurde eingestellt, ebenso wie das gegen Elif Shafak und ihren Roman ,Vater und Bastard'.

Da in der Türkei die bürgerliche Schicht sehr klein ist und unter sich bleibt, und die republikanischen Kräfte sich in den letzten achtzig Jahren politisch aufgerieben haben, gibt es keine starke demokratische Opposition und Kontrolle. Die Zeitungen des Verlegers Dogan und seine Hürriyet stellen sich der Islamisierung entgegen und berichten inzwischen täglich über Gewalt gegen Frauen. Engagierte Frauenorganisationen klagen Menschenrechte ein, engagieren sich gegen Ehrenmorde usw. Aber das reicht nicht.

Kritisiere ich, die inzwischen Fremde, die Zustände in meiner alten Heimat, passiert etwas Typisches. Das Kollektiv der Türken macht die Schotten dicht. Die westlich orientierten Intellektuellen wie Elif Shafak befürchten, mit der Kritik an den Zuständen in der Türkei würden sich die Chancen auf einen EU-Beitritt verschlechtern. Das hat bisweilen kuriose Auswirkungen. So war ich vor einiger Zeit bei einer Anhörung im Bundestag zum Thema "Zwangsehe". Die CDU hatte auch die Vertreterin einer türkischen Menschenrechtsorganisation eingeladen, die sich in Istanbul vehement gegen Zwangsverheiratungen engagiert. Und was passiert? Zum Erstaunen aller verteidigt die Frau bei dieser Anhörung die Zustände in ihrem Land. Nach dem Motto: "Was wir machen, geht euch gar nichts an".

An meinem zweiten Tag in Istanbul gehe ich ins Cafe ,Ara'. Es liegt in derselben Straße wie das Goethe-Institut, gleich gegenüber des größten Gymnasiums, dem Galata-Lise. Der Fotograf Ära Güler hat dort ein Haus. Auf zwei Etagen zeigt er seine Fotos aus über 50 Jahren Arbeit. Sie zeigen das untergegangene Istanbul. Vor allem die Schwarz-Weiß-Fotos aus den Fünfziger und Sechziger Jahren haben es mir angetan: eine Fähre, die in der Abendsonne vom Pier wegdreht; ein Fischer, die Zigarette im Mundwinkel, der über den Bosporus fährt und die Silhouette des historischen Sultanahmet hinter sich lässt ... Ich entscheide mich für ein Foto der Galatabrücke. Ein Paar geht in der Abenddämmerung über die Brücke. Er ein Offizier oder Polizist in Uniform, sie in Hut und Mantel bei ihm untergehakt. Sie verlassen das alte Istanbul der Moscheen und Minarette in Richtung Zukunft.

An dem Tag, an dem ich Istanbul wieder verlasse, geht ein Rechtsanwalt ins Oberste Kammergericht in Ankara und schießt auf die fünf Richter, die verhindert haben, dass das Kopftuchverbot an Universitäten aufgehoben wird. Ein Richter stirbt. Staatschef Erdogan sagt im Fernsehen, das sei die Tat eines Einzeltäters. Er geht nicht zur Beerdigung des ermordeten Richters.

Ich fliege zurück nach Berlin. Lebend und ohne Kopftuch. Mich werden sie niemals tot zurücktransportieren. Versprochen. Söz veriyorum.

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