Alice Schwarzer schreibt

Marion Dönhoff zum 100.

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Dreimal habe ich die Arbeit hingeworfen. Eine Biografie zu Lebzeiten über Marion Dönhoff schien mir zunehmend ein gar zu kühnes Unterfangen. Doch immer wieder hat sie mich ­gedrängt weiterzumachen. Denn einerseits wollte sie es – und hatte zu aller ­Über­raschung mich als Biografin akzeptiert –, doch andererseits sperrte sich bei der Spröden alles gegen einen tiefen, zu tiefen? Blick in ihr Leben.

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Das erste Mal war es im Frühling 1995. Nachdem die Gräfin 1987 ein Porträt über sich in der EMMA, Titel "Der Häuptling" (frei nach Karl May), "treffend" gefunden hatte, stimmte sie acht Jahre später dieser ersten und einzigen Biografie zu ihren Lebzeiten zu. Doch dann bekam sie es rasch mit der Angst vor der eigenen Courage.

Es war in der ersten Woche unseres ­Zusammenseins in ihrem Hamburger Haus am Pumpenkamp 4. Wir hatten ­abgemacht: vormittags Gespräche auf Tonband, nachmittags gemeinsam in die Zeit und abends geselliges Beisammensein in wechselnder Besetzung. Einquartiert war ich in ihrem kargen Gastraum neben ihrem Schlafzimmer, in dem sich unter dem Bett die Fotokisten aus ihrem "ersten Leben" stapelten und davor der Fernseher thronte. Sie verpasste ungern die Nachrichten und noch weniger gern die Mainzelmännchen.

Der Sonntag war harmonisch verlaufen, wir setzten uns am Montagmorgen nach dem Frühstück in ihren Salon, der gleichzeitig Ess- und Arbeitszimmer war. Ich hatte mich für ein chronologisches ­Vor­gehen entschlossen.

Ich stelle ihr also als erstes die Frage: "Was ist eigentlich Ihre früheste Erinnerung an Schloss Friedrichstein?" Sie wirft mir einen raschen Blick zu, schweigt einen Moment und sagt dann schneidend: "So eine dumme Frage hat mir ja noch niemand gestellt."

Und so geht es weiter. Nach vier Tagen kann ich einfach nicht mehr. Ich schwindele ihr vor, ich müsste früher zurück­reisen als geplant.

Auf dem Weg zum Bahnhof, sie am Steuer, fasse ich mir ein Herz und sage: "Gräfin, ich spüre, dass Sie die Biografie eigentlich nicht wollen. Ich schlage darum vor: Lassen wir es." Sie sieht mich von der Seite an und sagt: "Aber Sie haben doch schon so viel investiert." Ich: "Fühlen Sie sich deswegen keinesfalls verpflichtet." Sie: "Aber Sie haben doch auch schon so viel gelesen!" Ich: "Ich bitte Sie. Das war mir Vergnügen." Sie schweigt.

Als wir bei Rot an der Ampel stehen, ­wendet sie den Kopf, lächelt mich ein bisschen schief an und sagt: "Aber Sie brauchen doch nicht gleich zu kneifen – nur weil ich ein bisschen obstiniert bin." Ich muss lachen. Sie hat gewonnen. Ich mache weiter. Sie wird mich in diesem Jahr noch oft zum Lachen bringen.

Es beginnt ein Jahr der Wechselbäder zwischen familiärer Vertrautheit und fremder Verschlossenheit. Sie will erkannt werden, aber nicht ertappt. Es gilt, sie zu erfassen, ohne ihr zu nahe zu kommen; sie zu verstehen, ohne sie zu vereinnahmen; sich ihr zu stellen, ohne sich ihr unterzuordnen.

Über einen Menschen noch zu Lebzeiten eine Biografie schreiben zu können, das ist Glücksfall und Bürde zugleich. Das Glück ist, dass man sich selber ein lebendiges Bild machen und das Objekt persönlich befragen kann. Die Bürde ist, dass jeder Mensch in der Begegnung zwangsläufig versuchen wird, sein Selbstbildnis zu vermitteln – eine gute Biografie jedoch ­darüber hinausgehen muss und ja auch nie die absolute Wahrheit, sondern immer das Resultat einer Begegnung ist. Entscheidend für das Gelingen eines Porträts ist auch, ob die Fragen, die man sich stellt, die richtigen sind, und dass man offen bis zuletzt für Unerwartetes bleibt.

Marion Dönhoff war 81, als sie sich auf das Abenteuer einließ. Ein bewegtes Jahrhundert neigte sich dem Ende zu und kaum ein Mensch hatte so wie sie dieses Jahrhundert in allen Epochen mitgeprägt: im niedergehenden Kaiserreich als letzte Herrin von Schloss Friedrichstein; in der Nazizeit als Verbündete des Widerstandes; in der Bundesrepublik als Journalistin und moralische Instanz.

Aus welchem Stoff war diese Frau, die ein ganzes Jahrhundert durchmaß? Woher diese hochmütige Bescheidenheit und dieses umfassende Verantwortungsgefühl? Ja, sie war privilegiert, aber sie war auch vernachlässigt. Und sie war ein Outcast in dreifacher Hinsicht: innerhalb der Familie als letztes, fast vergessenes Kind in einem (gefühls)kalten Schloss; innerhalb der Geschlechterordnung als Frau in einer Zeit, in der auch Gräfinnen kein Abitur machten, aber im Kindbett starben; innerhalb ihres Berufsstandes als Journalistin, die sich immer wieder erlaubte, provokant von Positionen der eigenen Kaste abzuweichen.

Das Jahr mit Marion Dönhoff wurde ein anstrengendes, aber auch lehrreiches und vergnügliches Jahr für mich. Bis zuletzt hatte sie keine Ahnung, was ich schreiben würde – und ich keinen blassen Schimmer, ob sie mit meiner Biografie würde leben können. Doch selbstverständlich hätte ich eine von ihr nicht akzeptierte Biografie niemals veröffentlicht.

Ein Jahr später. 24 Stunden, nachdem sie per Boten das Manuskript erhalten hat, ruft sie von unterwegs auf einer ihrer zahlreichen Reisen an und sagt: "Ich habe gerade im Flugzeug das erste Kapitel gelesen. Ich finde, es fängt spannend an. Wenn es so weitergeht …" Uff. Ein paar Tage später trifft das höchste Prädikat, das sie zu vergeben hat, zum zweiten Mal ein: Sie findet meine Biografie über sie "treffend".

Als wir uns wenig später in Hamburg gemeinsam über den Text beugen, muss sie nur ganz wenige Fakten richtig stellen. Denn ­inzwischen weiß ich, so wird in ihrer Umgebung gescherzt, mehr über Marion Dönhoff als deren eigene Familie. Nur eine einzige Passage, die hätte sie eigentlich gerne raus. Sie bleibt drin, wird aber von mir gekürzt.

Es ist die Stelle, an der ich versuche nachzuempfinden, wie es sich wohl auf das Kind Marion ausgewirkt haben mag, dass sie jahrelang mit ihrer mit Down Syndrom auf die Welt gekommenen älteren Schwester Maria eng zusammengespannt worden war, in einem gemeinsamen Zimmer ­gelebt und dieselbe Kinderfrau hatte. Verweigerte Maria zum Beispiel das Essen, wurde sie zwangsernährt ("Das war nicht schön") – und überhaupt gab es damals noch wenig Toleranz und eher Verachtung für ein behindertes Kind, vor allem in einer so elite-bewussten Familie.

Das muss der Nachzüglerin Marion Angst gemacht und auch ihr Selbstwert­gefühl untergraben haben. Gleichzeitig hat es sie den selbstverständlichen Umgang mit als "minder" geltenden und "nicht normalen" Menschen gelehrt. Das ist das vielleicht Charakteristischste für ihr Leben: dass Licht und Schatten immer wieder so dicht beieinander liegen.

In den Jahren nach Erscheinen dieser Biografie wuchs Dönhoff mir als Freundin zu, aus der "Gräfin" wurde die "Marion". So kommt es, dass ich auch in den letzten Wochen ihres Lebens gemeinsame Stunden mit ihr verbracht habe. Als ich mich an diesem Wintertag im Jahr 2002 auf Schloss Crottorf von ihr verabschiedete, drehe ich mich noch einmal um – sie blickt mir nach. Wir wissen beide, dass dies das letzte Mal ist. 

Der Text ist ein Auszug aus der Biografie von Alice Schwarzer " Marion Dönhoff – Ein widerständiges Leben" (KiWi, 8.95 €). Eben neu aufgelegt: das gleichnamige Hörbuch, das 1997 von Alice Schwarzer und Marion Dönhoff selber gelesen worden ist (HörVerlag, 24.95 €).

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