Schattenbericht Prostitution

Demonstration gegen Prostitution am 8. März 2021 in Berlin. - Foto: Emmanuele Contini/IMAGO
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Es war eine Premiere: Zum ersten Mal musste die Bundesregierung Rechenschaft darüber ablegen, wie sie die sogenannte Istanbul-Konvention umsetzt. Deutschland hatte die „Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“, wie der völkerrechtliche Vertrag korrekt heißt, am 1. Juli 2018 ratifiziert. Seither gehört es zu den 34 europäischen Staaten, die sich verbindlich verpflichten, „Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen.“

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Aus Sicht des „Bündnis Nordisches Modell“ ist die Premiere gründlich misslungen. Denn eine besonders eklatante Form der Gewalt gegen Frauen kommt im „First State Report Germany“ überhaupt nicht vor: die Prostitution. Vergewaltigung, Stalking, „psychische Gewalt“ – ausführlich erklärt die Bundesregierung auf 75 Seiten, welche Gesetze hier für eine angemessene Strafverfolgung sorgen sollen, ob und wie sie Prävention betreibt, wann welche Aktionspläne in Kraft getreten sind. Prostitution? Fehlanzeige.  

Wenn systematische Gewalt nicht erkannt wird, sind Mängel vorprogrammiert

Verwunderlich ist das nicht. Schließlich ist hierzulande der Frauenkauf legal und gilt als ganz normales „Gewerbe“, für das Großbordelle auf Plakatwänden werben dürfen. Doch: „Wenn die in der Prostitution systematisch auftretende Gewalt nicht erkannt wird, ist es nur eine logische Konsequenz, dass es einen gravierenden Mangel an Maßnahmen gibt, die sowohl diese Gewalt verhindern als auch den Betroffenen helfen, die ihr ausgesetzt sind“, erklärt Ina Hansmann, Sprecherin des „Bündnis Nordisches Modell“.

Das Bündnis, ein Zusammenschluss aus 45 Organisationen, Vereinen und Initiativen, das am 21. März offiziell gegründet wurde, setzt sich für die Bekämpfung des Systems Prostitution ein. Es fordert, nach dem Vorbild von Schweden, Frankreich und weiteren europäischen Ländern, die Freierbestrafung. Gleichzeitig werden Prostituierte vollständig entkriminalisiert und ihr Ausstieg gefördert.

Nun hat das Bündnis einen sogenannten „Schattenbericht“ vorgelegt. Solche Schattenberichte werden üblicherweise von NGOs erstellt. Sie sollen dem oft beschönigenden offiziellen Blick, den Regierungen gemeinhin auf ihr eigenes Tun werfen, die Realität entgegenhalten. Das hat das „Bündnis Nordisches Modell“ nun überzeugend getan.

So fordert die Istanbul-Konvention zum Beispiel, „genau aufgeschlüsselte Daten“ über „alle Formen von Gewalt“ gegen Frauen zu sammeln. Der Schattenbericht weist nach: „Es fehlen Daten zu fast allen wesentlichen Fragestellungen, die die Frauen in der Prostitution in Deutschland betreffen.“ Die genaue Anzahl der Frauen in der Prostitution? Kann nur geschätzt werden. Die nach dem Prostituiertenschutzgesetz angemeldeten rund 40.000 Frauen sind nur ein Bruchteil der Frauen in Bordellen, Wohnungen und auf dem Straßenstrich. Ihr Verdienst? Ihr Versicherungsstatus? Der Staat hat keine Ahnung.

Es fehlen Daten zu allen wesentlichen Fragestellungen, die Prostitution betreffen

Und die Gewalt? Der Staat will es offenbar nicht wissen. So gebe es im Report des Robert-Koch-Instituts, das 2020 erstmals mit einem „Bericht zur gesundheitlichen Lage von Frauen“ beauftragt wurde, keine spezielle Auswertung zu prostituierten Frauen. Dabei ist deren gesundheitliche Situation verheerend, wie eine Studie des Bundesfrauenministeriums im Jahr 2004 festgestellt hatte.

Neun von zehn Frauen hatten damals erklärt, in der Prostitution körperliche Gewalt zu erleben, zwei von drei erlitten sexuelle Gewalt. Jede dritte berichtete von Panikattacken, jede vierte von Selbstmordgedanken, jede siebte von Selbstverletzungen. Der Medikamenten- bzw. Drogenkonsum lag weit über der Vergleichsgruppe. Damals lautete das Fazit der Studie: „Es scheint für einen erheblichen Teil der Frauen dieser Untersuchungsgruppe keinen sicheren Ort vor Gewalt und Übergriffen zu geben, weder im eigenen Privatleben - das durch ein hohes Ausmaß an Gewalt durch Partner geprägt ist - noch in der Arbeitssituation.“
   
15 Jahre später interessiert sich das Frauenministerium offenbar nicht mehr für die Gewalt gegen Frauen in der Prostitution. „Auch Femizide im Umfeld der Prostitution werden nicht als solche erfasst“, erläutert der Schattenbericht. Diese Aufgabe übernehmen NGOs wie die Initiative „Sexindustry Kills“. „Seit 2017, dem Geltungsjahr des Prostituiertenschutzgesetzes, wurden von Nicht-Regierungs-Organisationen 40 Morde und Mordversuche an Prostituierten gezählt.“

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Auch für andere Maßnahmen, die die Istanbul-Konvention von den Unterzeichner-Staaten fordert, weist das Bündnis Nordisches Modell nach Deutschland im Bereich Prostitution ein Komplettversagen nach. „Wir haben nicht nur aufgezeigt, welche Zusammenhänge zwischen der Gewalt gegen die prostituierten Frauen und Deutschlands Prostitutionspolitik bestehen, sondern auch, wie das System Prostitution Gewalt und Ungleichbehandlung an allen Frauen fördert bzw. fortführt“, erklärt Bündnis-Sprecherin Ina Hansmann. „Die weitgehende Legalisierung als ‚Beruf‘ hat qualitativ und quantitativ die Gewalt erhöht. Deutschland ist zum Zielland für Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung geworden und muss sich endlich seiner Verantwortung stellen.“

Als Fazit aus dem Schattenbericht fordert das „Bündnis Nordisches Modell", „die Bundesregierung sollte:

•    eine Dunkelfeldstudie zur Prostitution beauftragen, da nur ein kleiner Teil der prostituierten Frauen gemäß Prostituiertenschutzsesetz angemeldet ist. Ohne Ermittlung von Daten zu deren Lebens- und Arbeitsrealität kann eine Einordnung der Lage der prostituierten Frauen in Deutschland nur ein stark verzerrtes Bild der Realität der Frauen in der Prostitution zeichnen.
•    bundesweit und flächendeckend den Ausbau von Ausstiegshilfen fördern und den Schutz und die Unterstützung der betroffenen Frauen sicherstellen.
•    Prostitution als Gewalt gegen Frauen erkennen und die Legalisierung der Nachfrage durch die Einführung einer generellen Freierstrafbarkeit beenden.
•    sofort beginnen, konkret die Umsetzung des Nordischen Modells für Deutschland zu planen und damit den Paradigmenwechsel in der Prostitutionspolitik einzuleiten.“

 

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