Sind Depressionen weiblich?

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Die Depression, der „Krebs der Seele“, breitet sich immer mehr und immer schneller aus. Nach aktuellen Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kämpft derzeit weltweit etwa jeder zehnte Mensch mit Depressionen und starken Angstzuständen. Und die Statistiken belegen, dass Frauen etwa doppelt so oft depressiv werden wie Männer. Sind Depressionen also eine Frauenkrankheit?

Fest steht: Frauen haben aus unterschiedlichen Gründen ein größeres Risiko, an Depressionen zu erkranken. Und fest steht ebenso: Der Ruf des „traurigen“ oder „depressiven“ Geschlechts, der Frauen bis heute hartnäckig anhaftet, wirkt sich in der medizinischen Praxis fatal aus – und zwar für beide Geschlechter.

Die Gesundheitswissenschaftlerin ­Petra Kolip bedauert: „Im Unterschied zu Frauen hat man Männern lange Zeit keine Depression zugetraut.“ Das heißt im Klartext: Während bei Frauen eine klare Tendenz in Richtung Überdia­g­nose und Übertherapie besteht, werden depressive Männer eher unterversorgt oder falsch behandelt.

Statistische Erhebungen sprechen eine klare Sprache: Bezogen auf den Zeitraum von zwölf Monaten werden Depressionen bei 13 Prozent der Frauen, aber nur 6 Prozent der Männer diagnostiziert, bei beiden Geschlechtern zwischen 18 und 64 Jahren. Das Risiko, einmal im Leben an Schwermut zu erkranken, liegt bei Frauen bei 25 und bei Männern bei 12 Prozent. Soweit es erkannt wird.

In ihrem Gesundheitsreport 2015 listete die Krankenkasse DAK die zehn Krankheiten und Krankheitsgruppen auf, die Frauen und Männer am häufigsten von ihrem Arbeitsplatz fernhielten. Bei Frauen befanden sich darunter drei psychische Diagnosen, die Depression steht auf Platz eins der Rangliste. Männer setzen dagegen an erster Stelle Erkältungen oder Rückenschmerzen außer Gefecht. Depressionen rangierten bei ihnen an dritter Stelle.

Dazu passt, dass Frauen deutlich mehr Medikamente einnehmen: 2014 bekamen sie durchschnittlich 37 Tagesdosen Psychopharmaka verordnet – das sind 54 Prozent mehr als Männer (24 Tagesdosen) erhielten. In den USA gehen sogar 70 Prozent aller Antidepressiva an Frauen. Das ist natürlich ein Markt für die Pharmabranche.

Laut Statistik treten Depres­sionen bei Frauen auch vermehrt chronisch auf, es kommt öfter zu Rückfällen. Untersuchungen von Krankenkassen und Rentenversicherungen ist außerdem zu entnehmen, dass Frauen deutlich öfter depressionsbedingt krankgeschrieben bzw. frühverrentet werden.

Bis vor wenigen Jahren nahmen ForscherInnen noch an, die Zahl der Dia­gnosen sei identisch mit der Anzahl der Erkrankungen. Inzwischen wissen sie, dass die Statistiken nicht zwangsläufig die Realität abbilden. Gegen das Bild vom schwachen, depressiven Geschlecht gehen die Münchner Medizinsoziologin Anne-Maria Möller-Leimkühler und der Bayreuther Psychiater Manfred Wolfersdorf an. Beide sind sich sicher, dass in Wirklichkeit weitaus mehr Männer an Depressionen erkranken als bislang gedacht. „Doch mit den gängigen Diagnose­methoden erfassen wir die männlichen Patienten oft nicht“, klagt Möller-Leimkühler. Daher bleiben männliche Warnsignale in vielen Fällen unerkannt. Liegt der Grund für den Gendergap bei Depressionen also womöglich nur am selektiven Blick der behandelnden ÄrztInnen?

Ganz so einfach ist es nicht. Es gibt genügend andere Hinweise dafür, dass es einen realen Geschlechterunterschied in der Depressionshäufigkeit gibt.

Ein Zusammenspiel aus biologischen, psychologischen, sozialen und kulturellen Faktoren erhöht bei Frauen das Risiko für Depressionen:  Frauen sind Benachteiligungen ausgesetzt, die sich depressionsfördernd auswirken können.

Dass Frauen häufiger an Depressionen erkranken, führten die Verfechter die rein biologischen Erklärungen auf die ­Besonderheiten des weiblichen Körpers zurück – vor allem auf den Einfluss der weiblichen Geschlechtshormone. Diese Sicht ist überholt. Doch sie hinterlässt Spuren. „Die Vorstellung der Frau als dem physisch und psychisch schwachen Geschlecht reicht bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zurück“, sagt die ­Medizinsoziologin Möller-Leimkühler. „Aufgrund der angeblich minderwertigen biologischen Ausstattung von Frauen galt Weiblichkeit an sich als Leidenszustand – und Frausein als Krankheit.“

Aus dieser Logik heraus schien es plausibel, dass Frauen anfälliger für psychische Erkrankungen sind: „Männer galten dagegen als stark, ihr Körper wirkte kraftvoll, ihr Geist vernunftgesteuert und ihre Psyche überlegen.“ Bei der Behandlung psychisch kranker Frauen beschränkten sich die Ärzte früher vor allem auf die weibliche Biologie. So wurde die Ursache von Gemütserkrankungen meist in einer anormalen Menstruation gesehen – und nicht etwa in den repressiven Lebens­bedingungen für Frauen.

Viele Untersuchungen widerlegen einen direkten Zusammenhang zwischen Hormonschwankungen und dem Auftreten von Depressionen. „Dass weibliche Hormone einen Einfluss haben, ist klar. Ausschlaggebend sind sie aber sicher nicht“, sagt die Wiener Gender-Medizinerin ­Alexandra Kautzky-Willer.

Im Fall der postpartalen Depression, die nach einer Geburt auftreten kann, diskutieren WissenschaftlerInnen darüber, ob die Gründe nicht eher in erster Linie mangelnde soziale Unterstützung, Schwierigkeiten mit der neuen Mutterrolle oder Geldsorgen sind.

Bei Männern spielt die diagnostische Blindheit von ÄrztInnen, Depressionen zu erkennen, eine Rolle. Ein Grund ist das unterschiedliche „Hilfesuchverhalten“ der Geschlechter: Demnach suchen Frauen in Krisenzeiten eher Unterstützung als Männer – bei FreundInnen wie auch bei TherapeutInnen und ÄrztInnen. Dagegen ziehen Männer sich mit Problemen lieber allein in einen dunklen Winkel ­zurück. Und schweigen. Oder trinken.

Ein weiterer Faktor, der die Geschlechterstatistiken verzerrt, ist das Frauenbild von ÄrztInnen und TherapeutInnen. Untersuchungen belegen: Bei Frauen wird schneller eine Depression diagnostiziert als bei Männern – auch wenn die gleichen Symptome vorliegen. Aufgrund des Geschlechterklischees werden Frauen eher als passiv, ängstlich und gefühlsbetont wahrgenommen. Diese „weiblichen“ Attribute stimmen stärker mit klassischen Depressionsmerkmalen wie Niedergeschlagenheit oder Traurigkeit überein als „männliche“ Charakterzüge, die „echte Kerle“ als stark, zupackend und offensiv typisieren. Gender-Medizinerin Kautzky-Willer: „Wenn Patientinnen über Schmerzen, Müdigkeit oder Schlaflosigkeit klagen, die sich nicht sofort einem körperlichen Krankheitsbild zuordnen ­lassen, wird oft allzu schnell auf eine ­depressive Störung geschlossen.“

Ein zentraler Grund für das größere Risiko, depressiv zu werden, dürften die schwierigen Lebensumstände von Frauen in unserer Gesellschaft sein. Zu diesem Ergebnis kommen zahlreiche Studien aus den letzten Jahren. Denn Frauen haben eine Unmenge von Erwartungen zu erfüllen: Sie sind berufstätig, ziehen Kinder groß und übernehmen immer noch den größten Teil der Hausarbeit. Drei von vier befragten Müttern finden das „auslaugend“ und „erschöpfend“. Oft kommt dann auch noch die Pflege kranker Eltern oder naher Verwandter hinzu. Die Mehrfachbelastung zerrt an den Nerven, besonders bei Frauen mit kleinen Kindern.

Im „Stress of Caring“ sieht Deborah Belle, Psychologin an der Harvard Universität, einen weiteren depressionsfördernden Faktor: Frauen leisten mehr ­Beziehungsarbeit und fühlen sich verantwortlich für das Wohl des Gegenübers. Grundsätzlich geben sie mehr Unterstützung und Hilfe als sie erhalten. Dieses Ungleichgewicht kann im Laufe der Jahre zu einem Mangel an Unterstützung und Anerkennung führen, der anfälliger für Depressionen macht.

Es hat also seinen Grund, dass verheiratete Frauen dreimal häufiger Depressionen entwickeln als getrennt lebende, geschiedene oder alleinstehende Frauen. Von den Ehefrauen, die in einer unglücklichen Beziehung leben, wird sogar jede zweite schwermütig. Immerhin: Glücklich verheiratete Frauen haben ein geringeres Depressionsrisiko als Frauen ohne Trauschein. Im Vergleich mit glücklich verheirateten Männern ist das Depressionsrisiko allerdings immer noch fünfmal so hoch. Dazu passt, dass Männer von einer Trennung besonders hart getroffen werden. Denn mit ihrer Beziehung geht ihnen die wichtigste Quelle für Unterstützung und Zuspruch verloren.

Zwar senkt sich das Depres­sionsrisiko bei Frauen durch das Ausüben eines Berufs, durch die Gleichzeitigkeit familiärer Pflichten stecken sie oft in Teilzeitjobs und prekären Beschäftigungsverhältnissen fest. Das wirkt sich nicht nur verheerend auf ihre Renten aus. Prinzipiell rutschen Frauen schneller in Armut ab – ein weiterer wichtiger Risikofaktor für Depression. Am schlimmsten trifft die Geldnot alleinerziehende Mütter. Sie haben das höchste Depressionsrisiko überhaupt.

Ein weiterer Faktor, der Frauen anfälliger für psychische Erkrankungen macht, ist Gewalt. Mädchen haben ein mindestens doppelt so hohes Missbrauchsrisiko wie Jungen. Je nach Studie ist jedes dritte bis sechste Mädchen betroffen (und jeder sechste bis 20. Junge). Im Erwachsenenalter ist etwa jede vierte Frau körperlichen Übergriffen durch den eigenen Mann ausgesetzt. Jede vierte bis siebte wird mindestens einmal im Leben vergewaltigt. Als Folge davon treten in vielen Fällen Albträume, Schlafstörungen, anhaltendes Grübeln, Ängste, Beziehungsprobleme, Essstörungen, Selbstmordgedanken bzw. Depressionen auf.

Wie stark Frauen auf solche depres­sionsfördernden Faktoren reagieren, hängt offenbar davon ab, inwieweit sie sich mit der traditionellen weiblichen Geschlechterrolle identifizieren. Zu diesem Ergebnis kam die US-Psychologin Ellen McGrath, die sich intensiv mit dem Thema „Frauen und Depression“ auseinandergesetzt hat. Demnach gilt: Je „weiblicher“ Frauen sind, desto anfälliger sind sie gegenüber Stress und Depression. Die „Gefangenschaft im Rollenkäfig“ macht also manche Frauen krank.

Auf den ersten Blick scheint daher „männliches“ Verhalten vor Depressionen zu schützen. Die Berufstätigkeit von Männern und ihre Rolle als Familienernährer wirken sich erwiesenermaßen positiv auf ihre psychische Gesundheit aus, ebenso die Ehe. Einen Anhaltspunkt, dass Männer womöglich doch weitaus häufiger depressiv sind als bisher angenommen, liefert das Geschlechterparadox beim Suizid. Obwohl laut Statistik auf zwei depressive Frauen nur ein schwermütiger Mann kommt, sterben dreimal mehr Männer durch Selbstmord. Inzwischen gehen viele ExpertInnen davon aus, dass Depressionen beim Mann versteckt auftreten und, da unbehandelt, öfter im Suizid enden.

Manche ExpertInnen sind überzeugt, dass zumindest ältere Männer fast genauso oft depressiv seien wie Frauen. Was für eine hohe Dunkelziffer depressiver Männer spricht, ist: Je fortgeschrittener und schwerer Depressionen sind, desto kleiner wird der Geschlechterunterschied. Dies könnte bedeuten, dass Männer die klassischen Frühsymptome einer Depression überspielen oder sie durch bestimmte Abwehrmechanismen verschleppen.

Das Verhalten depressiver Männer richtet sich stärker nach außen: Sie sind gereizt bis aggressiv, treiben unermüdlich Sport oder trinken zu viel Alkohol. ­„Depressive Frauen gehen entweder einkaufen oder sie essen. Depressive Männer erobern ein Land“, so hat die US-Kabarettistin Elayne Boosler die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Geschlechter ironisch formuliert.

Die Medizinsoziologin Möller-Leimkühler erklärt: „Männer mit Depressionen bauen emotionalen Stress eher auf der Körper- oder Verhaltensebene ab. Sie stürzen sich noch mehr in die Arbeit, werden impulsiv und risikofreudiger. So können sie die männliche Fassade aufrechterhalten. Ihre Depression fällt dann weniger auf.“

Depressive Männer fühlen sich oft doppelt stigmatisiert: An einer Krankheit leiden und dazu noch an einer „weiblichen“, psychischen, das ist „unmännlich“. Hilfesuchen ist im traditionellen Männerbild nicht vorgesehen. Und finden sie doch einmal den Weg zur ÄrztIn, wird ihnen dort häufig die falsche Diagnose gestellt.

„Wenn ein Mann beim Arzt ­sagen würde, er käme schlecht aus dem Bett, sein Leben mache keinen Sinn, und er könne nicht mehr schlafen, käme wohl jeder Hausarzt sofort auf die Idee, dass es sich hier um eine Depression handeln könnte“, sagt die Gesundheitswissenschaftlerin Kolip. Stattdessen schildern Männer meist körperliche Symptome, die oft die Folge ihrer riskanten Bewältigungsstrategien und Abwehrmechanismen sind – etwa Sportverletzungen oder Magenschmerzen durch zu viel Alkohol.

Eine leere Kasse bedroht das Gemüt von Männern, ebenso der Verlust des Jobs oder mangelnde berufliche Anerkennung. Überhaupt sind Belastungen, die den gesellschaftlichen Status gefährden, die größte Gefahr für das männliche Seelenheil. „Männer, die nach der klassischen Geschlechterordnung erzogen wurden, sind sehr status­orientiert. Sie definieren sich vor allem über ihre berufliche Karriere und setzen auf Macht, Leistung und Wettbewerb“, sagt Möller-Leimkühler.

Besonders einschneidend ist für Männer ihre Pensionierung: Auf einen Schlag verlieren sie die berufliche Aufgabe, den vormaligen gesellschaftlichen Status und ein Stück Macht. Auch chronische Krankheiten, die die Leistungskraft und Potenz bedrohen, erhöhen ihr Depres­sions­risiko. Kommen dann auch noch Beziehungsprobleme mit drohender Trennung dazu, wirft das so manchen Mann endgültig aus der Bahn. Denn mit dem Alleinleben kommen Männer weitaus weniger gut zurecht als Frauen.

Männer reagieren nicht nur auf andere Risikofaktoren, sondern schützen durch ihr Verhalten die „starke“ Männerfassade. Wenn Männern diese „Fluchtwege“ versperrt werden, zeigen sie genau die gleichen Depressionssymptome wie Frauen – und erkranken auch gleich häufig. Dies geht aus Untersuchungen in ­jüdisch-orthodoxen Gemeinden und bei den Amish hervor. In beiden Gruppen sind sowohl der Konsum von Alkohol als auch Selbsttötungen stark tabuisiert.

Die männlichen Depressionssymptome sind bei praktizierenden ÄrztInnen bis heute nicht hinreichend bekannt. Auch die gängigen ärztlichen Diagnosehandbücher sind noch einseitig auf die „weiblichen“ Symptome geeicht. Dadurch werden Männer seltener als depressiv ­erfasst und bleiben öfter unbehandelt.

Aus diesem Grund setzt sich Möller-Leimkühler mit Vehemenz für eine geschlechter­sensible Depressionsdiagnostik ein, die die unterschiedlichen Symptome und Verhaltensweisen beider Geschlechter berücksichtigt. Sie sagt: „Dass Frauen und Männer bei der gleichen Erkrankung unterschiedliche Symptome entwickeln, ist im Fall des Herzinfarkts schon länger bekannt. Eine solche Gendersensibilität brauchen wir nun auch für die Diagnostik seelischer Erkrankungen. Wichtig ist auch, das Bewusstsein für die männerspezifischen Verhaltensweisen und Symptome in der breiten Öffentlichkeit zu schärfen. Vermutlich würden die Betroffenen auch häufiger von sich aus beim Arzt oder Therapeuten Hilfe suchen.“

Männern wie Frauen würde es also zur Depressionsvermeidung helfen, sich mehr und mehr aus der jeweiligen traditionellen Geschlechterrolle zu lösen. Eine internationale Studie von 2009, die 73.000 Frauen und Männer in insgesamt 15 Ländern befragte, kam zu dem Ergebnis: Je emanzipierter die Frauen, desto weniger ­anfällig sind sie für Depressionen.

Christine Wolfrum und Luitgard Marschall

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