Türkei: Erzähl auch du es!

Zu Tausenden protestierten Türkinnen gegen Gewalt gegen Frauen.
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Die Tweets rasen im Sekundentakt. Unter #sendeanlat twittern Türkinnen seit mehreren Tagen über die sexuelle Gewalt, die sie täglich erleben. Tausende Frauen gingen an diesem Wochenende in der türkischen Metropole Istanbul, der Hauptstadt Ankara, dem westtürkischen Izmir und auch in Deutschland in Berlin auf die Straße.

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Sie trauern um die Studentin Özgecan Aslan, die vergangene Woche in der Türkei nach einer versuchten Vergewaltigung brutal ermordet wurde. Sie protestieren gegen die grassierende Gewalt gegen Frauen in ihrer Heimat. Und sie demonstrieren gegen Erdogans Regierungspartei AKP, deren islamistische Politik diese Gewalt befeuert.

Die islamistische Politik befeuert die Gewalt gegen Frauen

Seit Mittwoch galt die 20-jährige Özgecan als vermisst. Am Freitag fand die türkische Polizei ihre Leiche. Ihr Mörder hatte ihr die Hände abgetrennt und verbrannt und auch ihren Körper angezündet.

Was war zuvor passiert? Die Psychologiestudentin war am frühen Mittwochabend auf dem Nachhauseweg von der Universität im südtürkischen Tarsus in ihren Heimatort Mersin. Wie immer nahm sie den Mini-Bus. Plötzlich war sie der letzte Fahrgast. Der Busfahrer bog ab in einen dunklen Weg und versuchte, sie zu vergewaltigen. Aber Özgecan wehrte sich. Da stieß der Mann mit einem Messer auf sie ein und erschlug sie schließlich mit einer Eisenstange. Zusammen mit seinem Bruder und seinem Vater, so hat es der 26-jährige Busfahrer mittlerweile gestanden, habe er die Leiche verschwinden lassen wollen.

Özgecans Freundin sagt: „Wir waren noch zusammen in der Schule, sind danach shoppen gegangen und haben etwas gegessen. Dann sind wir beide in den Bus gestiegen, um nach Hause zu fahren.“ Nur die Freundin stieg wieder aus. Als Özgecan am Samstag beerdigt wurde, marschierten 5.000 Menschen hinter ihrem Sarg. Der Sarg wurde diesmal nicht von Männern getragen, wie es die Tradition vorsieht. Sondern von Frauen.

Frauen sind es auch, die sich seither auf den Straßen (und im Netz) versammeln und das Foto der kurdischstämmigen Alevitin als Vorwurf in die Höhe halten: Darauf eine junge Frau mit klugem Blick, der die braunen Locken über die Schultern fallen. „Sie ist kein Einzelfall!“ skandieren die Frauen. Auch die deutsch-türkische Autorin und Frauenrechtlerin Serap Cileli sagt: „In den letzten zwölf Jahren ist die Gewalt gegen Frauen in der Türkei um ein Vielfaches angestiegen. Weil die Regierung tatenlos dabei zusieht, wie die rückständigen, anti-laizistischen, anti-liberalen und frauenfeindlichen Kräfte das Land im Würgegriff drangsalieren.“

Eine Petition auf Change.org von Gözde Salur aus Izmir hat mittlerweile 882.298 Unterschriften. Zu den Forderungen an unter anderem das türkische Innenministerium zählt nicht nur die Bestrafung der Täter. „Die Türkei bewegt sich kein Stück nach vorne, um Femizide zu verhindern – und es wird immer schlimmer. Das ist das Resultat einer Politik, die Frauen zunehmend abwertet in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens“, so steht es in der Petition.

60 % der türkischen Männer befürworten Gewalt gegen Frauen

Der türkische Präsident Recep Erdogan sprach Özgecans Familie sein Beileid aus und schickte seine beiden Töchter zu der Familie der jungen Frau. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu verurteilte den Mord als „blutrünstigen Angriff“ und erklärte: „Wer auch immer die Hände nach Frauen ausstreckt, dessen Hände sollen zerbrechen.“

Frauenorganisationen hingegen kritisieren seit Jahren, dass Ankündigungen der AKP, gegen die grassierende Gewalt gegen Frauen vorzugehen, nichts als leere Versprechen seien. Und nicht die Täter ausreichend bestraft, sondern die Opfer noch zusätzlich stigmatisiert werden. Laut einer Gewalt-Studie, die Ende 2013 in der Türkei erschien, befürworten 60 Prozent der türkischen Männer Gewalt gegen Frauen, u.a. um sie zu disziplinieren. Vor drei Monaten noch hatte sich Erdogan an sein Volk gewendet und erklärt: „Man kann Frauen und Männer nicht gleichstellen. Das ist gegen die Natur.“

Im Netz
#sendeanlat
Gedenkseite für Özgecan Aslan auf Facebook

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Karen Krüger: Frühe Warnung

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Als der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan im vergangenen Jahr in die Länder des Arabischen Frühlings reiste, wurde er empfangen wie ein Popstar. Plakate wurden entrollt, Hunderte schwenkten die türkische Flagge. Der Beifall in Kairo, Tunis und Tripolis war überwältigend, denn sehr früh hatte Erdogan sich auf die Seite der Proteste gestellt. Doch nicht nur deshalb jubelten die Leute ihm zu: Für sie ist Erdogan einer von ihnen; ein frommer Mann aus dem Volk, der sich gegen das alte türkische Establishment durchgesetzt hat und nun an der Spitze eines modernen muslimischen Staates steht.

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Und so war es nicht verwunderlich, dass die frommen Muslime in den Reihen der „Revolutionäre“ auf die Türkei verwiesen, als alle Welt sie nach dem Sturz der Despoten fragte, wie es denn nun weiter gehen solle mit der Arabellion. Die west­lichen Beobachter gaben sich mit der Antwort zufrieden, sehr zufrieden sogar. In ihren Augen erbringen Erdogan und seine Partei AKP den Beweis, dass Moderne und Islam vereinbar seien. Und weil die Umstürzler merkten, dass man unbequeme Diskussionen schnell beenden kann, indem man auf die Türkei als Vorbild zeigt, wurde die Antwort zum Selbstläufer. Zu einer Beruhigungspille für den Westen.

Diese Pille wirkt sogar noch im Sommer 2012, als die Türkei an der Grenze zu ­Syrien Truppen aufmarschieren ließ, obwohl eine Intervention einen politischen Flächenbrand für die gesamte Region bedeuten würde. Ungefragt schlüpfte Erdogan in die Rolle des Vermittlers, als die ­syrische Revolte begann. Und dann schüttelt er die Fäuste, weil er bei seinem ehemaligen Freund Baschar al-Assad auf taube Ohren stieß. Erdogan, der einfache Mann aus dem Volk fühlt sich von dem Großbürger al-Assad gedemütigt. Das ist die Basis seiner Politik. Kann so einer tatsächlich ein Vorbild für den Nahen Osten sein?

Dass die arabischen Frauen die Türkei nicht für ein Modell halten, machten sie schon vor einem Jahr, nach dem Wahlsieg der islamistischen Ennahda-Partei in Tunesien, deutlich. Obwohl bzw. weil ihnen die neuen Machthaber türkische Verhältnisse in Aussicht stellten, protestierten die Frauen damals weiter. Es stellt sich die Frage: Warum? Wie steht es um die Rechte der Frauen in der Türkei? Mehr noch: Wie ­demokratisch ist die Türkei überhaupt?

Schon die Zahlen sprechen für sich: Auf dem Index der Pressefreiheit ist die Türkei auf Platz 148 von insgesamt 179 Staaten abgerutscht, liegt jetzt hinter ­Indonesien und Russland. Von den 119298 Beschwerden, die dem Europä­ischen Gerichtshof für Menschenrechte vorliegen, stammen 33568 aus der Türkei. Zivilgesellschaftliches Engagement, etwa von Frauenorganisationen, wird nieder­gewalzt. Dabei gehört das zu den wenigen demokratischen Errungenschaften, die das Land seit dem Beginn der Regierung ­Erdogan vorweisen kann.

In echten Demokratien schützt die Justiz die freie Meinungsäußerung und das freie Denken. In der Türkei verhindert sie beides. Für die Justiz sind die seit sechs Jahren andauernden Ermittlungen gegen die Terrororganisation Ergenekon, die einen Umsturz der Regierung geplant haben soll, längst zu einem Persilschein geworden, um all jene zum Schweigen zu bringen, die sich der Ideologie der Regierung widersetzen. Auch Äußerungen zur Kurdenfrage dienen als Vorwand, um kritische Intellektuelle mundtot zu machen. Etwa fünftausend Menschen wurden so mundtot gemacht. Unter ihnen auch BüŞra Ersanli, Professorin für Internationale Politik an der Istanbuler Marmara Universität. Ihr „Vergehen“ besteht darin, eine Meinung in der Kurdenfrage vertreten zu haben, die mit Ansichten der ­Regierung kollidiert. Sie hatte an der Politischen Akademie der von Kurden dominierten linken Partei BDP, die auch mit Sitzen im türkischen Parlament vertreten ist, Vorträge gehalten. Jetzt drohen der Professorin zwischen 15 und 22 Jahren Haft.

Auch die Juristin Emine Ülker Tarhan (Foto re) hat beobachtet, dass Richter und Staats­anwälte immer mehr „zu Handlangern der Regierung Erdogan“ werden. Die blonde, hochgewachsene 51-Jährige war bis März 2011 Richterin am Obersten Gerichtshof in Ankara. Die schleichenden Veränderungen im Justizapparat bekam sie am eigenen Leib zu spüren. Über Jahre habe sie für die berufliche Gleichstellung von Frauen gekämpft, erzählt sie. Und musste nun einsehen, dass es für Frauen nicht einfacher, sondern immer schwieriger wurde, sich bei gleicher Qualifikation gegen Männer durchzusetzen. In Verwaltungsgerichten lag der Anteil der Frauen bis 2010 noch bei 36 Prozent – heute sind es weniger als zwei Prozent. Innerhalb von nur einem Jahr wurden die Frauen in der Justiz quasi eliminiert.

Früher war es in der Türkei ein absolutes Tabu, bei Gericht mit dem Koran zu argumentieren. Es gab eine strikte Trennung zwischen Staat und Religion. Inzwischen aber hat der türkische Ministerpräsident die Richter aufgefordert, vor der Urteilsfindung die Meinung von ­Islamgelehrten einzuholen. Einer folgte dem Rat des Ministerpräsidenten, es ging um Vergewaltigung. Die Antwort, die er von dem Islamgelehrten bekam, war: Eine Frau mit zu tiefem Dekolleté habe es verdient, vergewaltigt zu werden.

Als bei der Justizreform ein neues ­Gesetz verabschiedet wurde, demzufolge Richter und Staatsanwälte für Amtsmissbrauch nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können, und außerdem die Gremien neu gemischt wurden, welche Richter und Staatsanwälte ernennen, protestierte Emine Ülker Tarhan öffentlich. Die Reform, so ihr Vorwurf, bevorzuge Kandidaten, die der Regierung genehm sind. Sie legte ihr Amt nieder, ging in die Politik. Bei den vergangenen Parlamentswahlen kandidierte Tarhan für die Oppositionspartei CHP und sitzt jetzt im Parlament in Ankara.

Tatsächlich häufen sich die Anzeichen, dass Erdogan in seiner dritten Amtszeit eine Wende anstrebt und seine islamisch-konservativen Wertvorstellungen der ganzen Gesellschaft überstülpen will. Er forciert jetzt ein Programm, das die gesellschaftliche ­Stellung der Frauen enorm schwächen wird.

Als die AKP im Jahr 2002 an die Macht kam, war das noch anders, damals zeigte Erdogan sich scheinbar fest entschlossen, die Türkei nach Europa zu führen. Forderungen aus Brüssel wurden schnell erfüllt, auch jene nach mehr Frauenrechten. Gesetze, die Frauen diskriminieren, wurden abgeschafft, neue Gesetze, die Frauen vor Diskriminierung und Gewalt bewahren sollen, verabschiedet: Auch die Vergewaltigung in der Ehe wurde unter Strafe gestellt, bei Ehrenmord droht inzwischen lebenslange Haft. Zuletzt wurde ein Gesetz zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auf den Weg gebracht, das Staatsanwälten und Polizisten alle Rechte gibt, um Frauen, die sich bedroht fühlen, umfassend zu schützen, auch vor den eigenen Angehörigen. – War dieser Reformeifer ein Täuschungsmanöver für den Westen? Hatte Erdogan, der 1998 als Oberbürgermeister von Istanbul noch zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden war wegen militanter gottesstaat­licher Propaganda, nur Kreide gefressen?

Schaut man sich nur die türkischen Gesetze an, hat sich die Stellung der Frau verbessert. Ihr Alltag jedoch sieht ganz ­anders aus. Die Fälle häuslicher Gewalt steigen. Laut der Menschenrechtsgruppe „We will Stop Women’s Murder“ wurden allein 2011 mindestens 160 Frauen von Familienangehörigen getötet, das sind mehr als doppelt so viele wie 2010. Schon in den ersten drei Monaten dieses Jahres sind 47 Frauen von ihren Ehemännern ermordet worden. Seit Jahren werden die meisten Morde an Frauen in Istanbul und in der Ägäis-Region verübt, dort prallen Modernisierung und patriarchale Strukturen am heftigsten aufeinander.

Das Problem sind also nicht die Gesetze, das Problem sind die Sitten, ist die verkrustete türkische Mentalität – ihr zufolge ist eine Frau weniger wert als ein Mann. Diese Mentalität herrscht auch in Justiz und Polizei. Anstatt alles zu tun, um die Opfer zu schützen, behandeln Richter und Polizisten Fälle von Gewalt gegen Frauen als Bagatellen. Es kommt vor, dass Frauen, die sich in eine Polizeistation geflüchtet haben, von den Polizisten aufgefordert werden, zu ihren Familien zurückzugehen. Im Februar vergangenen Jahres wurde in Istanbul Arzu Yildirim von ihrem Mann ermordet. Mit acht Schüssen, auf offener Straße. Sie hatte bei Gericht um polizeilichen Schutz gebeten. Den Brief fand man in ihrem blutverschmierten Portemonnaie.

Auch in den Frauenhäusern zeigt sich, wie geduldig Papier in der Türkei ist. Das Gesetz schreibt vor, dass jede Stadt, die mehr als 50000 Einwohner zählt, ein Frauenhaus hat. Im ganzen Land gibt es aber nur 63 Frauenhäuser, bei 79 Millionen EinwohnerInnen. Und alle werden privat finanziert und von Frauenorganisationen betrieben. Der Staat weigert sich, Geld zu geben, so lange die Leitung der Häuser nicht den Behörden überlassen wird. Das aber lehnen die Frauenorganisationen ab. Denn sie kennen den Geist der AKP: Bei einem Besuch in Ankara musste sich die Vertreterin einer Frauenorganisation von einem AKP-Funktionär sagen lassen, Frauenhäuser seien schlecht für die Gesellschaft. Denn sie ermutigten Frauen dazu, ihre Familien zu verlassen.

Fest steht: In der Türkei zählt im Alltag die Familie immer noch mehr als die ­Persönlichkeitsrechte einer Frau. Und ­Erdogan tut nichts, um das zu ändern. Im Gegenteil. Hört man ihn reden, wird deutlich, dass er Frauen noch stärker an der Teilhabe am öffentlichen Leben hindern will. In seiner Weltsicht zählt nur die Mutterschaft. Folgerichtig hat er das Frauen­ministerium jetzt dem Familienministerium einverleibt. Engagement für Frauen sei ­„feministische Propaganda“, und „Verhütung ein Mittel der Feinde, mit dem die Türkei geschwächt werden soll“.

Wenn es nach Erdogan geht, hat jede Türkin drei Kinder – nicht höchstens, sondern mindestens. Im Jahr 2008 formulierte er seinen Baby-Traum zum ersten Mal, ausgerechnet am Weltfrauentag. Danach tauchten in den Straßen Istanbuls Banner feministischer Organisationen auf mit den Worten: „Mach sie dir selbst, deine eins, zwei, drei kleinen Türken.“ In der Provinz meldete sich ein Gouverneur und AKP-Mitglied zu Wort. Jede Braut, die verspreche, drei Kinder zu gebären, bekomme ihr Hochzeitskleid von seiner Behörde geschenkt, erklärte er und schaffte es damit in die Schlagzeilen.

Die türkischen Frauenorganisationen kämpfen seit Jahrzehnten dafür, traditionelle Familienstrukturen zu verändern. Zwölf Millionen Kinder zählt das Land, jedes neunte geht nicht zur Schule, obwohl es im schulfähigen Alter ist. Stattdessen tragen 125000 Kinder tagtäglich zum Einkommen ihrer Familien bei. 37 Prozent der Mädchen heiraten, bevor sie volljährig sind. Es dürften bald noch mehr werden, denn ein neues Gesetz hat jetzt die Schulpflicht auf zwölf Schuljahre angehoben, erlaubt aber, dass Kinder nach acht Schuljahren zu Hause unterrichtet werden können. Eltern könnten dies als Vorwand nutzen, um ihre Töchter zu Hause zu behalten und früh zu verheiraten, fürchten Frauenrechtlerinnen.

Die AKP will die traditionellen Geschlechterrollen. Eine institutionalisierte Kinderbetreuung gibt es nicht, Frauen die Karriere machen wollen, sind auf die Hilfe der Großfamilien angewiesen. Die aber funk­tioniert nicht mehr überall. Die türkischen Frauen reagieren. Im Durchschnitt bringen sie heute noch 2,2 Kinder zur Welt – und haben laut einer Studie der Istanbuler BahçeŞehir Universität damit immer noch mehr Nachwuchs, als sie sich wünschen.

Die Wut, mit der Tausende von Frauen jetzt auf Erdogans Vorstoß zur Reglementierung der Abtreibung reagieren, ist verständlich: „Hände weg von meinem Körper, AKP“ und „Abtreibung ist meine eigene Wahl, die Methode der Männer ist Mord“ lauten die Slogans, mit denen sie seit Wochen demonstrieren. Im Jahr 2005 hatte die AKP das bestehende ­Abtreibungsrecht, dem zufolge ein Schwangerschaftsabbruch bis zur zehnten Woche legal ist, noch bestätigt. Nun aber ist Abtreibung für Erdogan plötzlich „Mord“, er will sie gesetzlich verbieten. Sie soll nur noch zugelassen werden, wenn die Schwangerschaft das Leben der Frau bedroht. Sogar Vergewaltigung soll nicht mehr als Grund gelten.

Die Schriftstellerin Elif Shafak brachte das Dilemma der türkischen Frauen in der Zeitung Habertürk auf den Punkt: In der Türkei seien Inzest, Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen in der Ehe weit verbreitet, und immer würden die Männer ihre Hände in Unschuld waschen, während die Frauen stigmatisiert, in den Selbstmord getrieben oder umgebracht werden. „In einem Land, in dem all diese Dinge passieren, in einer Kultur, in der immer und immer wieder die Frauen für alles zu bezahlen haben, würde ein Gesetz gegen Abtreibung nicht bedeuten, dass tatsächlich nicht mehr abgetrieben wird. Ganz im Gegenteil, die Abtreibungen würden nur in den Untergrund abgedrängt werden.“ Das Recht auf Abtreibung zu annullieren bedeute, Frauen Schritt für Schritt zu töten.

In der Arabischen Welt haben die meisten Politiker inzwischen begriffen, dass sich das türkische Modell nicht einfach auf ihre Länder übertragen lässt. Die Abwesenheit von Demokratie und Pressefreiheit spielen dabei allerdings genauso wenig eine Rolle, wie die Rechte der Frauen. Im Gegenteil: Die Türkei ist diesen Kräften immer noch zu säkular, darum geht es. Doch Erdogan ist dabei, aufzuholen. Wenn Entdemokratisierung und Islamisierung in der Türkei in dem Tempo weitergehen, wird sie bald wirklich ein Modell sein. Für die ­Gottesstaatler.

Die Autorin ist Redakteurin der FAZ und spezialisiert in den Regionen Afrika und Naher Osten.

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