Polinnen besuchen "Tante Barbara"

Polinnen protestieren in Brüssel für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. - © Imago/ZUMA Press
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Sie haben sich diesen ungewöhnlichen Namen gegeben, weil er unverfänglich ist: Ciocia Basia – Tante Barbara. Sollte jemand in Polen den Zettel finden, auf dem die Handynummer von „Tante Barbara“ steht, dürfte wohl kaum jemand begreifen, worum es in Wahrheit geht: um einen Schwangerschaftsabbruch.

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Die Lage in dem erzkonservativen Land verschärft sich zusehends

Wenn eine ungewollt schwangere Frau aus Polen die Nummer von Ciocia Basia wählt, dann meldet sich am anderen Ende eine der ehrenamtlichen AktivistInnen, die „Tante Barbara“ vor drei Jahren in Berlin gegründet haben. Deutsche und polnische Frauen – und ein Mann. Sie helfen der Frau dabei, in Berlin ihre Schwangerschaft abzubrechen. Sie vermitteln ihr das gesetzlich vorgeschriebene Beratungsgespräch und eineN MedizinerIn, die oder der die Abtreibung durchführt.

Immer mehr Polinnen kommen jedes Jahr für eine Abtreibung nach Deutschland, denn die Lage in dem erzkatholischen Land verschärft sich zusehends. Seit dem Wahlsieg der PiS-Partei von 2015 sind die Kräfte, die das ohnehin minimale Recht auf Abtreibung verschärfen wollen, im Aufwind. Schon jetzt ist ein Schwangerschaftsabbruch in Polen nur legal, wenn die Mutter in Lebensgefahr schwebt, der Fötus schwere Fehlbildungen hat oder die Schwangerschaft die Folge von Missbrauch oder Vergewaltigung ist.

Doch selbst wenn die Frau das Recht hat abzutreiben, legen ihr Ärzte und Behörden in dem rigiden Klima immer mehr Steine in den Weg. „Es ist in Polen gerade sehr, sehr schwierig“, sagt Natalia von Ciocia Basia in einem Radio-Feature des BR. „Die Frauen werden oft sehr schlecht behandelt und Ärzte weigern sich, einen Abbruch durchzuführen.“ Manchmal verzögern sie die Abtreibung bei einem schwerbehinderten Fötus so lange, bis es zu spät ist und die Frau das Kind austragen muss.

Tante Barabara ist oft die letzte Chance der Polinnen

Und diejenigen, die einfach deshalb kein Kind wollen, weil sie zuerst ihre Ausbildung zu Ende machen möchten oder kein weiteres Kind ernähren können, haben sowieso keine Chance auf einen legalen Abbruch. Die müssen nach Berlin kommen, oft klammheimlich. „Wir sind oft die einzigen, mit denen die Frauen reden“, sagt Natalia. „Oft hören wir Geschichten über Gewalt. Oder darüber, dass die Frau von ihrem Freund verlassen wurde. Oder sie wissen, dass sie kein weiteres Kind großziehen können.“

„Immer mehr ungewollt Schwangere melden sich bei uns, unser Handy klingelt mittlerweile jeden Tag“, erklärt Ciocia Basia. Doch so ein Schwangerschaftsabbruch kostet Geld: 340 Euro ein medikamentöser Abbruch, 470 ein chirurgischer. Für so manche Frau ist das ein Monatseinkommen. „Es ist ein unerträgliches Gefühl, nicht helfen zu können, weil die Person am anderen Ende der Leitung die finanziellen Mittel nicht hat.“ Gerade hat die Initiative deshalb eine Crowdfunding-Aktion gestartet. Ziel: 20.000 Euro. Damit könnte Tante Barbara 50 ungewollt schwangeren Frauen helfen. Immerhin.

Ciocia Basia auf Facebook

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Alice Schwarzer schreibt

Die Stern-Aktion & ihre Folgen

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Ich lebte damals in Frankreich, wo ich als freie Korrespondentin arbeitete und in der Pariser Frauenbewegung aktiv war. Doch während in der ganzen westlichen Welt die Frauen auf die Barrikaden gingen, hielten die deutschen Gretchen still. So still, dass es selbst der Brigitte zu brav war. Die klagte im Frühling 1971: „Deutsche Frauen verbrennen keine Büstenhalter und Brautkleider, stürmen keine Schönheits-Konkurrenzen und emanzipationsfeindlichen Redaktionen, fordern nicht die Abschaffung der Ehe und verfassen keine Manifeste zur Vernichtung der Männer. Es gibt keine Hexen, keine Schwestern der Lilith, wie in Amerika, nicht einmal Dolle Minnas mit Witz wie in Holland, es gibt keine wütenden Pamphlete, keine kämpferische Zeitschrift. Es gibt keine Wut.“

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In Deutschland war die Stimmung noch brav und still

Wenige Wochen später explodierte sie, die Wut der deutschen Frauen. Als am 6. Juni 1971 der Stern mit dem Titel „Wir haben abgetrieben!“ erschien, brachen alle Dämme. Endlich. Endlich redeten die Frauen! Aus den 374, die als erste das Tabu brachen, wurden bald tausende, ja hunderttausende, die forderten: Der § 218 muss weg! Denn er bedroht Millionen Frauen und auch die Ärzte, die abtreiben, mit Gefängnis. Er entmündigt, schüchtert ein, bedroht. Schluss mit der Angst! Schluss mit der Scham!

Und es blieb nicht bei dem Protest gegen die Abtreibung. Unmittelbar verknüpft damit war die Angst vor der Sexualität (Nicht zuletzt wegen der Angst vor ungewollten Schwangerschaften), waren die Probleme mit Männern im Bett wie im Büro. Im ganzen Land bildeten sich nun die so genannten „218-Gruppen“, in die Frauen aller Altersgruppen und aller Provenienzen strömten.

Acht Monate später, am 11. März 1972, trafen sich 450 Frauen aus 40 westdeutschen und West-Berliner Frauengruppen in Frankfurt zum ersten „Bundesfrauenkongress“. Und einen Tag später, am 12. März, erklärten die Sprecherinnen dieses Frauenkongresses über Mikrophon: „Frauen müssen sich selbst organisieren, weil sie ihre ureigensten Probleme erkennen und lernen müssen, ihre Interessen zu vertreten. (…) Wir schließen Männer aus unseren Gruppen aus, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass sich Bevormundung und Unterdrückung, die wir in allen Lebensbereichen erfahren, in gemischten Gruppen reproduzieren. (…) Frauen müssen zu einem Machtfaktor innerhalb der anstehenden Auseinandersetzungen werden.“

Damit war die „Gründung“ der deutschen Frauenbewegung offiziell verkündet. Und es ist übrigens vermutlich ein einmaliges, deutsches Phänomen, dass der Aufbruch der Frauen nicht nur spontan war, sondern auch nochmal per Deklaration verkündet wurde.

Zunächst jedoch geht es um die Initialzündung für den Aufstand der Frauen, um das öffentliche, provozierende Bekenntnis: „Wir haben abgetrieben“. Ich will also erzählen, wie es überhaupt zu dem Appell der 374 im Stern kam. Es muss Ende April gewesen sein. In meiner Wohnung Rue d’Alesia im 14. Arrondissement klingelte das Telefon. Am anderen Ende der Leitung war Jean Moreau, mein Kollege vom Nouvel Observateur. Das linksliberale Wochenblatt hatte am 11. April 1971 „die Liste der 374 Französinnen“ veröffentlicht, „die den Mut haben, das Manifest zu unterzeichnen: Ich habe abgetrieben!“. Die politische Provokation war die Idee des engagierten jungen Journalisten gewesen, und wir – ein Dutzend frischgebackener Feministinnen – hatten sie zu unserer Sache gemacht.

Wäre eine Aktion wie in Frankreich überhaupt möglich?

Mit dem Ergebnis, dass das Bekenntnis der 374 nicht nur die Grande Nation in Aufruhr versetzte, sondern auch international Aufsehen erregte.Doch nun machte Jean, der Vater des Gedankens, sich Sorgen. „Hör mal, Alice“, sagte er. „Bei uns hat eine komische deutsche Zeitschrift angerufen, Jasmin oder so ähnlich. Die wollen das Selbstbekenntnis nachstellen. Aber ich habe den Verdacht, die wollen daraus nur einen Werbegag machen. Kannst du nicht was tun?“

Ich überlegte nur kurz. Dann griff ich zum Telefon und wählte die Nummer des Stern-Redakteurs Winfried Maaß. Mit ihm hatte ich als freie Korrespondentin in Paris manchmal zu tun. Maaß wusste selbstverständlich von der Aktion, die international Schlagzeilen gemacht hatte. Und als ich ihn fragte, ob der Stern mitziehen würde, wenn ich ihm 300 bis 400 Unterschriften von deutschen Frauen bringe, die sich selber der Abtreibung bezichtigen, da überlegte Maaß nicht lange: „Wenn Sie das schaffen – sofort!“

Einen Monat später hatte der Stern die Liste von 374 Frauen auf dem Tisch. Und rückblickend staune ich bis heute, wie so eine Kleinigkeit wie ein Anruf ein ganzes Leben verändern kann. In diesem Fall nicht nur mein Leben, sondern das vieler Frauen.

Doch der Reihe nach. Ich lebte seit zwei Jahren wieder in Frankreich und war seit einigen Monaten eine der Aktivistinnen der Pariser Frauenbewegung. Doch ich erinnerte mich bestens an den Frankfurter „Weiberrat“ und die legendäre Tomate, die anno 1968 eine Genossin ihren patriarchalen Genossen an den Kopf geworfen hatte. Ich ging also davon aus, dass ich nur bei der deutschen Frauenbewegung anklingeln müsste, und schon hätten wir unser Abtreibungs-Manifest.

Doch weit gefehlt. Beim Frankfurter Weiberrat, dessen zwei, drei Dutzend Mitglieder eifrig „Kapitalschulungen“ nach Marx machten, holte ich mir eine kühle Absage; an einer so „reformistischen“ und „kleinbürgerlichen“ Aktion wolle man sich nicht beteiligen. Bei den Münchner „Roten Frauen“ wäre ich auch beinahe gescheitert, wäre dort nicht eine Handvoll Frauen die Kapitelschulungen leid gewesen. Nur der unter DDR-Einfluss stramm organisierte „Sozialistische Frauenbund Westberlin“ stieg kollektiv ein, wohl in der Hoffnung auf Kontakt zu „den Massen“.

Die Unterschriften übergab Schwarzer erst in der letzten Nacht

So kam etwa die Hälfte der 374 Unterschriften zusammen. Der Rest war Mundpropaganda: von Nachbarin zu Nachbarin, von Kollegin zu Kollegin, von Freundin zu Freundin. Und ich reiste durchs Land und sammelte die Unterschriften. Denn meine Abmachung mit dem Stern war strikt. Als Gegenleistung für die Unterschriften forderte ich von dem Magazin: ein kollektives Titelbild (also kein einzelner Star auf dem Cover), den ungekürzten Abdruck des politischen Appells und die Veröffentlichung meiner Reportage über die Aktion. Ich war schließlich nicht blauäugig. Mir war klar, dass ich auf der Hut sein musste, damit aus der Aktion keine Sensationshascherei würde.

Also übergab ich dem Stern die 374 Unterschriften erst in der allerletzten Nacht des Redaktionsschlusses. Erst als ich, nach zähem Gefeilsche, ganz sicher sein konnte, dass das Selbstbekenntnis der 374 angemessen präsentiert sein würde, überreichte ich die Mappe mit den Unterschriften. Inzwischen war es zwei Uhr morgens…

Am 6. Juni 1971 platzte dann die Bombe, nur zwei Monate nach dem Nouvel Observateur. Die Bundesrepublik stand Kopf. Denn trotz der Liberalisierungs-Debatte ab 1969 war das Thema Abtreibung noch immer ein totales Tabu. Eine Frau, die abtrieb, tat das meist in totaler Einsamkeit. Sie redete in der Regel weder mit der besten Freundin noch der eigenen Mutter, ja oft noch nicht einmal mit dem eigenen Mann darüber. Eine Frau, die abtrieb, hatte entweder das Geld für die Schweiz – oder sie riskierte ihre Würde und so manches Mal auch ihr Leben bei illegal abtreibenden Ärzten und auf dem Küchentisch von Engelmacherinnen.

Zu der Zeit schätzte man die illegalen Abtreibungen auf eine halbe Million, nur in der Bundesrepublik. (2008 waren es nur noch 114.000, in ganz Deutschland; also hunderttausende weniger ungewollte Schwangerschaften dank Aufklärung und gestiegenem Selbstbewusstsein der Frauen.) Ein uneheliches Kind war damals eine Schande, und Ehemänner konnten in der Bundesrepublik ihren Frauen die Berufstätigkeit verbieten. Nur jede fünfte Frau nahm die Pille, und viele Männer empfanden Kondome als „kastrierend“.

Die 374 Frauen gingen damals ein immenses Risiko ein

Abtreibenden Frauen drohten bis zu fünf Jahren Gefängnis – doch wurde der § 218 in Wahrheit schon lange nicht mehr angewandt. Ganze 276 Frauen waren 1969 wegen illegaler Abtreibung verurteilt worden. Geschriebenes Recht und gelebtes Rechtsempfinden klafften also meilenweit auseinander. Eigentlich ging es beim § 218 nur noch um Einschüchterung und Demütigung der Frauen – und der sympathisierenden Ärzte.

„Ich habe abgetrieben und fordere das Recht für jede Frau dazu!“ bekannten nun also 374 Frauen öffentlich; darunter auch einige, die es nie getan hatten, aber durchaus in Gedanken durchgespielt (wie ich). Bis heute bewundere ich den Löwinnenmut der 373 Frauen, die damals mit mir den Appell unterzeichnet haben. Keine von ihnen wusste, ob morgen nicht die Polizei vor der Tür stehen würde (was sie in einigen Fällen tat), ob sie ihre Stelle verlieren, ihre Nachbarn noch mit ihnen sprechen, ihr Mann sich von ihnen trennen würde.

Und die viel zitierten Prominenten? Diese insgesamt 16 (von 374) bekannten Frauen – darunter Romy Schneider, Senta Berger, Sabine Sinjen, Gisela Elsner und Veruschka von Lehndorff – riskierten fast noch mehr als die Unbekannten: nämlich ihren Ruf und ihre Engagements. Doch der Wagemut lohnte sich.

Das Bekenntnis der 374 wurde zur Lawine, die Tausende mitriss. Und zur Initialzündung für die Neue Frauenbewegung wurde. Die Frauen begannen zu reden, endlich. Von ihrer Angst vor ungewollten Schwangerschaften, von ihrer überschatteten Sexualität („Währenddessen denke ich nur daran“), von ihrer Einsamkeit. In dem Buch, das ich im Herbst 1971 über das Abtreibungsverbot machte, hatte nur bei einer einzigen der insgesamt 49 Abtreibungen von 18 Frauen der Mann seiner Frau beigestanden.

Und die Medien? Die reagierten unterschiedlich: von zustimmend (Die Zeit) bis hämisch. Bild fuhr einen Pro-und-Contra-Zickzackkurs (Da man ein Massenblatt nie auf Dauer gegen die Menschen machen kann), die Süddeutsche Zeitung geißelte den „Exhibitionismus“ der Bekennerinnen und die Frankfurter Rundschau den „Konsumwahn“ der Frauen sowie die „Vernichtung unwerten Lebens“.

Womit wir bei der Rolle der katholischen Kirche wären, für die abtreibende Frau bis heute „Mörderinnen“ sind. Die hatte es schon zuvor geschafft, die den Frauen von der sozialliberalen Regierung bereits 1969 versprochene Fristenlösung (das Recht der Frauen auf Abtreibung in den ersten drei Monaten) durch organisierten Protest zu stoppen. Statt das hundert Jahre alte Gesetz endlich zu reformieren, ruderten die Sozialdemokraten zurück. Ganz wie bei der Debatte 2009 um die so genannten „Spätabtreibungen“ und heute bei der Präimplantationsdiagnostik (PID).

Dabei hält es die Kirche selber mal so mal so mit dem „werdenden Leben“. Noch 1869 erließ Papst Pius IX das Verdikt, der männliche Fötus habe ab dem 40. Tag eine Seele, der weibliche jedoch erst ab dem 80. Tag. Jetzt im 21. Jahrhundert hat die Kirche via CDU/CSU und Teile von SPD, FDP und Grünen via Hintertüre „Spätabtreibungen“ sogar die so genannte medizinische Indikation – bei Gefahr bis Lebensgefahr für die Mutter – weiter eingeschränkt.

Und die Debatte um die PID drängt im Jahre 2011 das Recht auf Abtreibung vollends in die Defensive. Da plädiert ein Teil der Abgeordneten aus allen Parteien – auch von SPD, FDP und Grünen! – doch allen Ernstes dafür, dass der Bruchteil eines Millimeter kleinen Zellhaufens eines befruchteten Eis nicht vor der Einpflanzung in den Mutterleib auf schwere, vererbbare Krankheiten untersucht werden darf, da es sich dabei um „werdendes Leben“ handele. Der Vatikan könnte nicht rigider und frauenfeindlicher argumentieren.

Aus der 1974 ursprünglich verabschiedeten Fristenlösung wurde bereits Mitte der 70er Jahre in Deutschland dank des Drucks der katholischen Kirche eine Indikationslösung mit Beratungspflicht: Gnade statt Recht. Und die Tabubrecherinnen, deren Mut es zu verdanken ist, dass abtreibende Frauen heute in Deutschland wenigstens nicht mehr ihr Leben riskieren müssen, werden heutzutage oft verkannt: als leichtfertig oder gar zynisch. Der provokante Slogan „Mein Bauch gehört mir“ – der übrigens erst später aufkam – soll als Beweis dafür herhalten.

Doch damals, an diesem denkwürdigen 6. Juni 1971, stockte allen der Atem vor der Unerhörtheit dieses so selbstlosen, öffentlichen Bekenntnisses. Schließlich ging es ja nicht etwa um die Propagierung der Abtreibung, sondern es ging um die Humanisierung der Umstände unvermeidbarer Abtreibungen. Denn eine ungewollt Schwangere treibt ab, egal unter welchen Umständen. Zur Debatte stand und steht also nicht das Ob, sondern nur das Wie von Abtreibungen: legal und mit medizinischer Hilfe – oder illegal und in Lebensgefahr.

Es ging bei der Stern-Aktion nie um die Propagierung der Abtreibung

Als Henri Nannen, den ich erst viel später persönlich kennenlernte, an diesem denkwürdigen 6. Juni die zum Skandal passende Pressekonferenz gab, da saß ich längst wieder im Zug nach Paris. Mission erfüllt. Meine initiative Rolle bei dem Appell der 374 hatte ich in meinem Stern–Bericht bewusst verschleiert. Ich begriff mich bei der Aktion schließlich weniger als Journalistin und mehr als Mittlerin zwischen den französischen und den deutschen Frauen.

Dass ich dann nur wenige Monate später, im Herbst 1971, dennoch mein erstes Buch über die „Frauen gegen den § 218“ veröffentlichte, lag daran, dass die deutsche Debatte über den § 218 aus meiner Sicht sehr schnell sehr schief lief. Denn da war plötzlich nur noch von der „Seele des Fötus“ die Rede, von den „bevölkerungspolitischen Aspekten“ und dem „zu schützenden Rechtsgut“. Nicht aber von der Würde und Selbstbestimmung der Frau. Und wir engagierten Journalistinnen – und damals waren wir viele! – hatten nun quasi Schreibverbot. Wir galten als Frauen als „viel zu befangen“.

Heute hat Deutschland eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in Europa, gleich nach Irland und Polen. In unseren übrigen Nachbarländern hingegen gilt schon lange selbstverständlich die Fristenlösung. In Frankreich, dem Ursprungsland des Protestes, führte Simone Veil als konservative Familienministerin im Jahr 1975 die uneingeschränkte Fristenlösung ein. Und es kommt dort bis heute niemandem in den Sinn, dieses so fundamentale Recht von Frauen auch nur infrage zu stellen.

Doch immerhin wurde der Kampf für das Recht auf Abtreibung zum Auslöser für die Neue Frauenbewegung.

Alice Schwarzer

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