Katja Sabisch: Was bei AfD & Feministinnen Schnappatmung auslöst

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Es ist schon erstaunlich, wenn die EMMA fragt, ob die „Genderideologie die Frauen verraten“ hätte (4/2017). Und ebenso kühn ist es, von einer „Butlermania“ (5/2017) innerhalb der Gender Studies zu sprechen. Ich frage mich, worauf dieser einseitige Blick auf die Gender Studies gründet.

Dass Journalisten wie Frank Plasberg und Harald Martenstein die Forschungen verballhornen, verwundert ja nicht weiter. Und auch, dass die AfD eine Verschwörung am Werk sieht und die Umerziehung aller Kinder fürchtet, ist wohl eher ein Ritterschlag für unsere Forschung. Wenn aber Feministinnen auf die Barrikaden gehen, weil der frauenverratende „Butlerismus“ umgehe, dann läuft etwas schief.

Stein des Anstoßes scheint die vermeintliche Politikferne der Geschlechterforschung zu sein. Gender-Theorien, so Alice Schwarzer, würden sich einer „lebens­abgewandten, elitären Sprache“ ­bedienen, die letztlich dazu führe, dass aufgrund von „Butler & Co.“ politisches Denken verloren ginge. Als Geschlechterforscherin fallen mir hierzu gleich mehrere Antworten ein. Die drängendsten möchte ich an dieser Stelle beantworten.

1. Warum es keine „Butlermania“ gibt und auch noch nie gegeben hat.

Es wird wohl niemanden wundern, dass Wissenschaft etwas mit Theorie zu tun hat. Damit einher geht auch eine gewisse Realitätsferne, denn Wissenschaft ist nun mal Wissenschaft und nicht Politik.

Die Theorie, welche bei AfD, Antigen­deristen und auch so manchen Feministinnen gleichermaßen Schnappatmung auslöst, ist die des Sozialkonstruktivismus. Diese besagt, dass die Welt – und damit auch das soziale und körperliche Geschlecht – nicht einfach existieren, sondern dass ihnen ­Bedeutungen zugeschrieben werden.

Das ist allerdings keine Einsicht von Judith Butler. Vielmehr war es der Soziologe Erving Goffman, der bereits in den 1970ern von „Geschlechterklassen“ sprach, welche das alltägliche Handeln und Wahrnehmen grundlegend beeinflussen. Vor ihm war es der Ethnomethodologe Harold Garfinkel, der 1967 anhand einer empirischen Studie zeigen konnte, dass Geschlecht nicht „natürlich“ ist, sondern von uns allen „getan“ wird. Suzanne Kessler und Wendy McKenna sprechen zehn Jahre später von „doing gender“ und weiten diese Einsicht auf das „doing difference“ aus – denn auch die Hautfarbe oder das Alter bestimmen, wie eine Person wahrnimmt bzw. wahrgenommen wird.

Ebenso einflussreich waren und sind historische Studien über Geschlecht. Bereits 1978 zeigte Karin Hausen, wie sich der ­Begriff „Geschlechtscharaktere“ über die Jahrhunderte hinweg wandelte und immer wieder neue Bedeutungen von „weiblich“ und „männlich“ hervorbrachte. Thomas Laqueur und Claudia Honegger wiesen dies zu Beginn der 1990er für den Geschlechterkörper nach – demnach ist die biologische Zweigeschlechtlichkeit, wie wir sie heute kennen, ein relativ junges Konzept.

All diese Ansätze haben nichts mit den poststrukturalistischen und postkolonialen Theorien zu tun, die im Laufe der 1990er-
Jahre innerhalb der deutschsprachigen ­Geschlechterforschung kontrovers diskutiert worden sind. Zwar bieten auch diese Perspektiven das methodische Handwerkszeug, um die Natürlichkeit der Kategorie Geschlecht zu hinterfragen. Meines Erachtens liegt ihr Verdienst jedoch woanders. Denn sie stellten und stellen berechtigte Fragen an das Selbstverständnis von feministischer Politik und Forschung: „Wer sind eigentlich die Frauen, auf die wir uns beziehen?“ (Judith Butler, 1991). Oder auch: „Wer redet, von wo aus und für wen?“ (Encarnación Gutiérrez Rodríguez, 1996). Und noch konkreter: „Entspricht die homogene Kategorie Frau womöglich einem als homogen gedachten Nationalstaat?“ (Sedef Gümen, 1998). „Haben die Frauen der westlichen Welt nicht nur ein Problem, sondern sind sie selbst eins?“ (Christina Thürmer-Rohr, 1995).

Für die soziologische Geschlechterforschung spricht Ilse Lenz später von komplexen sozialen Ungleichheiten, die bei jeder Analyse berücksichtigt werden sollten. Die Bezugnahme auf die Kategorie „Frau“ reicht der Wissenschaft nicht. Denn Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sind keinesfalls nur auf (Hetero)Sexismus zurückzuführen, sondern auch auf Rassismus oder Klassismus. Diese Einsicht wird seit einigen Jahren unter dem Paradigma der Intersektionalität diskutiert.
Hier wird deutlich, dass sich der ­Unmut derjenigen, die eine politische und analytische Öffnung des Begriffs „Frau“ lästig finden, nicht nur gegen eine einzige Philosophin richten sollte.

Anders ausgedrückt: Ich sehe hier weit und breit keinen Butlerismus oder Butlermania. Was ich sehe, ist eine Machtfrage. Und wenn Feminismus tatsächlich etwas mit Herrschaftskritik zu tun hat, dann sind Wortschöpfungen mit „ismus“ und „mania“ hier fehl am Platz. Da die 1990er-
Jahre gegenwärtig auch popkulturell wiederbelebt werden, sollten wir vielleicht mitmachen und noch mal einen Blick in die wissenschaftliche Debatte der Zeit werfen. Wer es noch genauer wissen möchte: In Kürze erscheint das „Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung“, eine Zusammenstellung von über 160 kurzen Artikeln über Debatten, Begriffe, Denkströmungen und Forschungsperspektiven der Gender Studies. Darunter befindet sich auch einer (!) über Poststrukturalismus.

2. Warum Gender Studies politisch sind und warum nicht Wissenschaft und Politik Hand in Hand gehen.

So hieß ein kleineres Forschungsprojekt über die Wirksamkeit von kommunaler Gleichstellungspolitik, welches ich gemeinsam mit dem Frauenbeirat der Stadt Bochum durchgeführt habe. Unter der Überschrift „Vielfalt fördern!“ untersuchten wir in Zusammenarbeit mit dem VfL Bochum und dem Fanprojekt Bochum sexistische, rassistische und homophobe Strukturen im deutschen Profi-Fußball. Zuletzt wurde am Lehrstuhl für Gender Studies über „Väter in Elternzeit“ geforscht und die medizinischen Versorgungsstrukturen von intersexuell geborenen Kindern in NRW analysiert.

In all diesen Fällen handelt es sich augenscheinlich um anwendungsorientierte Forschung, die immer auch politische Implikationen hat. Das muss aber nicht so sein. Gender Studies sind ein höchst ausdifferenziertes Feld, da gehen Wissenschaft und Politik nicht immer Hand in Hand. Und das aus zwei guten Gründen:

Erstens wird nicht überall anwendungsorientiert geforscht, sondern auch Theoriearbeit geleistet. Dass dies einer Wissenschaft nur bedingt vorzuwerfen ist, erklärte zuletzt Antje Schrupp in der Zeit. Und auch ich gehe davon aus, dass Erkenntnis-, Medien- oder Modernisierungstheorien der Gender Studies nicht allgemeinverständlich sein müssen – schließlich werden sie in erster Linie für das wissenschaftliche Denkkollektiv formuliert (zu fragen bleibt allerdings, ­warum es die Plasmaphysik dank eines informierten Fachjournalismus in die Tageszeitungen schafft und die Gender Studies anscheinend nur ein Fall fürs Fleischhauer-Feuilleton sind).

Zweitens ist die politische Rahmung von Wissenschaft – und damit auch die der Gender Studies – grundsätzlich kritikwürdig. Am deutlichsten formuliert dies der Soziologe Stefan Hirschauer, der sich für eine professionelle Distanzierung der Gender Studies vom Feminismus ausspricht. Denn: „Eine gute Gender Forscherin erkennt man daran, dass sie sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.“ In diesem Sinne sollte Forschung immer unvoreingenommen, offen und multiperspektivisch sein – eine politische Programmatik ist dabei nicht zielführend, so das Argument.

Diese Ansicht wird nicht von allen geteilt. Die Debatte über die Frage, wie kritisch und feministisch Wissenschaft sein darf und soll, dauert an. Das Verhältnis zwischen Politik und Gender Studies ist damit ein kompliziertes. Eins ist aber klar: Hier geht kein politisches Denken verloren, wie Alice Schwarzer befürchtet. Hier findet es statt.

3. Der Stoff des Anstoßes – die Burka

Um die Frauenrechtevergessenheit der Gender Studies belegen zu können, wird zumeist die Burka herangezogen. Die Positionen, die sich hier gegenüberstehen, sind klar und wurden vielfach ausgetauscht: Die Burka wird einerseits als eine elementare Menschenrechtsverletzung und Fremdbestimmung kritisiert, andererseits als ein elementares Recht auf Religionsfreiheit und Selbstbestimmung definiert. Was hat die Geschlechterforschung hierzu zu sagen? Um es kurz zu machen: Sie bittet um Differenzierung. Denn auch wenn Menschenrechte universell sind, gibt es keine universelle Antwort auf die Frage nach der Burka.

Zunächst sollte geklärt werden, um was es hier eigentlich geht. Die Journalistin Mely Kiyak weist in ihrer Zeit-Kolumne nämlich zurecht daraufhin, dass die Burka in Deutschland kaum getragen wird. Meinen wir also den Niqab, die Abaya oder schlicht das Kopftuch? Geht es also tatsächlich um ein Stück Stoff? Wohl kaum. Vielmehr scheint die Burka der Austragungsort einer Debatte über den religiösen und politischen Islam zu sein. Eine solche Debatte ist mehr als berechtigt. Wenn allerdings ein Kleidungsstück zum umkämpften Symbol wird, dann hat dies unweigerlich auch Auswirkungen auf die Frauen, die es tragen. Und um die muss es auch gehen.

Bevor also Verbote gefordert werden, sollten die davon betroffenen Personen zu Wort kommen. Und hier werden Gender Studies relevant – denn notwendig ist eine empirische Forschung, die denen gerecht wird, um die es geht. Aus welchen Gründen wird der Schleier getragen? Religion? Tradition? Zwang? Kultur? Die Notwendigkeit des Nachfragens und -forschens ­beschränkt sich dabei nicht nur auf Deutschland, sondern ist ein internationales Anliegen, welches die Situation, die Forderungen und den Widerstand von Frauen im arabischen Raum einschließen muss.

Bitte differenzieren! meint daher, den sozialen und politischen Kontext des Kleidungsstücks zu berücksichtigen. Politisch gewendet: Es gilt, die Politik und Gesetzgebung von Staaten, die Frauen zum Tragen des Schleiers zwingen, zu kritisieren und sich mit den feministischen Bewegungen vor Ort zu solidarisieren. Ebenso muss das deutsche Kopftuchverbot hinterfragt werden, da es die individuellen Rechte auf Autonomie, Selbstbestimmung, Entscheidungsfreiheit und Privatsphäre untergräbt (Human Rights Watch, 2009).

Bitte differenzieren! scheint demnach auch der Grund zu sein, warum so manche Feministin bissig auf die Befunde der Gender Studies reagiert. Wissenschaft hinterfragt Selbstverständlichkeiten, zeigt Komplexitäten auf und begründet Widersprüche – und dies nicht nur bezüglich der herrschenden Geschlechter- und ­Gesellschaftsordnung, sondern auch hinsichtlich politischer und sozialer Bewegungen, so gut die Sache auch sein mag. Wir machen vor nichts Halt – und das zeichnet die Gender Studies aus.

Katja Sabisch
Die Autorin studierte Soziologie an der Universität Bielefeld und ist seit 2008 Professorin für Gender Studies an der Ruhr-Universität Bochum. Sie forscht u. a. zu den Themen Geschlecht, Gesundheit, Familie und Vielfalt und leitet als ­Geschäftsführende Direktorin die Gender Studies-Studiengänge an der RUB.

 

 

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