Wie soll ich es meiner Tochter sagen?

Jessica Valenti/ CC BY 2.0
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In der Wahlnacht saß ich zwischen meiner 68-jährigen Mutter und meiner sechsjährigen Tochter vor dem Fernseher, in der Erwartung dabei zuzusehen, wie die erste Frau ins Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wird. Wir hatten Champagner gekauft und Kuchen, und ich hatte Layla versprochen, dass sie so lange aufbleiben darf, wie sie will. Schließlich schlief meine Tochter auf der Couch ein, immer noch in ihrem T-Shirt, das mit „Feminist“- und „Ich habe gewählt!“-Aufklebern geschmückt war.

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Am nächsten Morgen musste ich Layla erklären, dass Hillary Clinton verloren hatte, dass der Präsident keine Frau sein würde. Und noch schwieriger: Ich musste ihr erklären, warum Donald Trump gewonnen hatte. Ein Mann – einer, den sie als Rüpel kennt, der Fürchterliches über Frauen, Menschen mit Behinderung und Immigranten sagt; einer, der damit herumprahlt, wie er Menschen verletzt und Familien trennt – so ein Mann wird nun ihr Land führen.

Ich musste meiner Tochter erklären, dass Hillary Clinton verloren hatte

In der Wahlnacht wurde mir das Herz schwer, weil ich um mein Land bangte. Am nächsten Morgen aber wurde es mir schwer, weil ich an meine Tochter dachte.

Sie wachte in einem völlig veränderten Amerika auf. In einem Amerika, in dem ein Lügner und Rassist, ein Menschenhasser und ein frauenbelästigender Serientäter uns anführen wird. Sie ist an einem Ort aufgewacht, der Fortschritt kategorisch abgelehnt hat; in einem Land, in dem ein Mann zugeben kann, dass er Frauen sexuell belästigt hat und Millionen von Stimmen gewinnt, nicht obwohl – sondern weil er es getan hat.

Ich habe mir immer Sorgen darüber gemacht, was ich meiner Tochter weitergeben werde, am meisten aber sorgte ich mich um die Bürde, die sie allein deshalb tragen muss, weil sie in einer sexistischen Welt aufwächst. Wie soll ich ihr erklären, wie viele – und wie heftig - Frauen verletzt wurden durch den Sexismus, der sie umgibt? Und wie soll ich ihr die Angst davor nehmen, dass es ihr Schicksal ist, auf die ein oder andere Weise das Gleiche zu erleben?

Meine Mutter heiratete mit 17, sie wuchs in einer Zeit auf, als Verhütung illegal war. Erst in ihren 20ern konnte sie einen Kredit aufnehmen, ohne dass ein Mann ihren Antrag mitunterzeichnete. Ich bin 1978 geboren, fünf Jahre nachdem Abtreibung legalisiert wurde. Und ich war in der High School, als die Vergewaltigung in der Ehe endlich als Straftat anerkannt wurde. Die Vorstellung, dass die Lage für uns Frauen nach und nach besser wird, hat mich immer getröstet: Denn so würde es meiner Tochter besser gehen als mir. Aber diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Zumindest an diesem Wahltag.

Als ich meine Tochter schließlich ins Bett brachte, flüsterte ich ihr zu, dass es mir leid tut. Es tut mir unendlich leid, dass ich unterschätzt hatte, wie sexistisch und rassistisch unser Land wirklich ist. Ich habe zugelassen, dass mich die letzten paar Jahre eines wirkmächtiger werdenden Feminismus - dieser Wimpernschlag der Geschichte - dazu gebracht hat zu glauben, dass die Dinge sich geändert haben. Es war ein verführerischer Gedanke – aber leider ein falscher.

Es hatte mich getröstet, dass die Lage für uns Frauen immer besser zu werden schien

Die Wahrheit ist, dass dieses schändliche Wahlergebnis der Backlash war, so klar und so einfach, eine Reaktion auf die zunehmende Gleichberechtigung der Frauen, auf den Fortschritt bei der Überwindung des Rassismus und auf die kulturelle Veränderung dahin, dass nicht länger heterosexuelle weiße Männer im Mittelpunkt stehen. Es wurde gewählt auf der Basis von Angst, Engstirnigkeit und Abscheulichkeit. Und es gibt keinen Zuckerguss, der diese Realität überdecken könnte. Noch nicht einmal für eine Sechsjährige.

Ich weiß, dass ich die richtigen Worte finden werde, um meiner Tochter den Ernst der Lage nach dieser Wahl zu übermitteln, ohne sie zu ängstigen. Ich vertraue darauf. Ihr Vater und ich werden ihr sagen, dass Menschen manchmal schlechte Entscheidungen treffen und manchmal die falschen Leute als Führer ausgesucht werden. Wir werden sie an die Lektionen erinnern, die sie in der Schule über die Geschichte ihres Landes gelernt hat, als wir schon einmal das Falsche getan haben – fürchterlich Falsches. Und wir werden sie daran erinnern, dass es damals gute Leute gab, die sich organisiert und gekämpft haben, die sich gegenseitig mit Liebe und Respekt begegnet sind und daran glaubten, dass die Dinge sich ändern werden.

Wir werden ihr sagen, dass jetzt wir diese guten Leute sein müssen, diejenigen, die kämpfen. Und bald schon, wenn wir die Gelegenheit hatten zu trauern und uns zu sammeln, werden wir unsere Tochter daran erinnern, dass dieser Mann auch deshalb gewählt worden ist, weil wir so stark sind. Dass unsere Kraft ihn und andere geängstigt hat, die für Veränderung noch nicht bereit waren. Und dass wir es uns und unserem Land schuldig sind, dass wir uns von unserer Angst nicht aufhalten lassen. Niemals.

Jessica Valenti

Der Text erschien zuerst im Guardian.

 

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Der wütende weiße Mann

Foto: pacific press agency/Imago
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Neuerdings heißt es ja gerne, wir lebten jetzt im „postfaktischen“ Zeitalter. Will heißen: Zunehmend viele Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern nur noch für ihre persönliche gefühlte Wahrheit. Donald Trump, der notorische Faktenverdreher, gilt als Prototyp des Postfaktischen, und seine Anhänger, die sich ihr Weltbild aus Vorurteilen zusammenbasteln, natürlich auch. So weit, so bekannt.

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Ist das Problem also eine Klassenfrage bzw. eine „soziale Frage“? 

Allerdings erleben wir nach dem Wahlschock gerade in einer ganz anderen Zielgruppe eine erstaunliche Ignoranz eines bestimmten Faktums. Es lautet: Donald Trump wurde mit überwältigender Mehrheit von weißen Männern gewählt, und zwar vor allem von solchen, die man als „abgehängt“ bezeichnet. Zwei Drittel (63%) der weißen männlichen Wähler stimmten laut CNN-Wahlstatistik für den weißen männlichen Kandidaten. Und fast drei Viertel (72%) der weißen Männer ohne Collegeabschluss. Das ist eine gewaltige und aufschlussreiche Zahl - für die sich aber nicht nur Jörg Schönenborn im ARD-Brennpunkt am Abend nach der Wahl kein bisschen interessierte.     

Auch als Alice Schwarzer kurz darauf bei „Maischberger“ versuchte, über das Phänomen zu sprechen - und über die Schlüsse, die daraus zu ziehen seien - wurden die Fakten von den Mitdiskutanten beiseite gewedelt. So befand zum Beispiel Julian Reichelt, Chef von Bild.de, Hillary Clinton solle gefälligst „das Problem bei sich selbst suchen und nicht beim weißen Mann“. Und überhaupt, ob Schwarzer dem weißen Mann demnächst wohl das Wählen verbieten wolle?

Auch die Medien spöttelten: Schwarzer habe „die Feminismuskeule rausgeholt und traf damit sich selbst“, befand der Kölner Stadtanzeiger. „Schwarzer weiß, was sie schon vor 40 Jahren wusste: Der weiße Mann ist das Problem,“ schrieb der Spiegel. Vielleicht hätte der Rezensent den Bericht seines Kollegen Georg Diez lesen sollen. Der war schockiert, auf einer Trump-Wahlveranstaltung den „blanken Hass“ von „wilden weißen Männern mit großen Bäuchen und jungen glattrasierten Männern um die 20“ zu erleben. Spiegel-Autor Diez rief daraufhin den „Bürgerkrieg des weißen Mannes“ aus: „Diese Menge war vereint in der Wut, sie war vereint in der Kränkung, sie war vereint in dem Gefühl, dass ihnen ihr Land genommen wurde und dass sie es sich zurückholen würden.“       

Währenddessen läuft in den USA eine differenzierte Debatte um die „abgehängten weißen Männer“, die schon vor Jahren begonnen hatte. „Who is the ‚Forgotten Man‘?“ fragt die New York Times und konstatiert, dass die Demokraten sich von ihren einstigen „working class politics“ verabschiedet hätten. Vergessen wurde dabei der Arbeiter, der seinen Job in der Autoindustrie verloren hat oder der Landwirt, der seinen Hof dichtmachen musste. Deshalb, so die Washington Post, habe Trump vor allem Bundesstaaten im „Rust Belt“ geholt, dem „Rostgürtel“ mit den geschlossenen Fabriken. Und darum habe Trump auf die „Less Educated Whites“ gesetzt, auf die Weißen mit geringer Bildung.

Sind es die Armen, die gegen die Elite protestieren?

Man kann in der amerikanischen Presse kluge Analysen darüber lesen, was die Verarmung der unteren Mittelschicht mit dem hammerharten Sexismus zu tun hat, der Hillary Clinton entgegenschlug. Nicht nur unter den Trump-Wählern mit ihren Stickern Marke „Don’t be a Pussy. Vote for Trump!“ oder „Finally Someone with Balls!“ Endlich jemand mit Eiern! „Die Antipathie, die Hillary Clinton von weißen Männern entgegenschlägt, ist unvergleichlich“, stellt Politik-Professor Peter Beinart von der New Yorker Universität in seinem Artikel „Fear of a Female President“ fest.

Grund: Der weiße Mann fühlt sich entwertet. Umfragen ergeben: „Die weißen Amerikaner, die Hillary Clinton am stärksten ablehnen, sind die, die eine Entmännlichung am meisten fürchten“, erklärt Beinart. Entmännlichung durch Jobverlust, Entmännlichung durch die Tatsache, dass sie nicht mehr Alleinverdiener sind. Entmännlichung dadurch, dass ihre Art der Männlichkeit nicht mehr Maß aller Dinge ist. „Amerikaner, die finden, dass Amerika ‚zu weich und feminin‘ geworden ist, finden viermal häufiger, dass Hillary Clinton „sehr unangenehm“ ist. Und sie finden, dass „weiße Männer stärker diskriminiert werden als Frauen“.

Ist das Problem also eine Klassenfrage bzw. eine „soziale Frage“? Sind es die Armen, die gegen die Elite protestieren? Könnte man meinen, aber das ist nur ein relativ kleines Stück des Puzzles. Denn: Die abgehängtesten Männer der USA haben Trump ihre Stimme nicht gegeben: die schwarzen. 80 Prozent aller schwarzen Männer haben Hillary Clinton gewählt - und 94 Prozent der schwarzen Frauen. Hier geht es also nicht nur um den Verlust von Einkommen und Sicherheit. Hier geht es um den Verlust angestammter (männlicher und weißer) Privilegien. In der Wahl, die die New York Times als „Schlacht der Geschlechter“ bezeichnet, ging es um die Rassen- und die Geschlechterfrage. Der sich abgehängt fühlende weiße Mann ist wütend auf den aufgestiegenen schwarzen Mann – und noch wütender auf die aufsteigende Frau.  

„Weiße Amerikaner sind wütender als schwarze“, zitiert der Guardian eine NBC-Studie. „Weiße Menschen erklärten häufiger, ihre finanzielle Situation sei nicht so, wie sie sie sich vorgestellt hätten. Und sie schrieben das eher „den Umständen“ zu als ihren eigenen (Fehl)Entscheidungen. Sie erklärten häufiger als Schwarze, dass sie, wenn sie die Nachrichten hören, „mindestens zweimal am Tag wütend sind“. Besonders wütend, so die Umfrage, sind weiße Männer.

Natürlich, es gibt auch wütende weiße Frauen. Über die Hälfte der weißen Frauen (53%), vor allem die älteren, haben Trump gewählt. Und sogar zwei Drittel der weißen Frauen ohne College-Abschluss (62%). Darunter dürften etliche Evangelikale gewesen sein, von denen zwei Drittel Trump wählten. Die Pro Choice-Politik von Clinton, also für das Recht auf Abtreibung, ihre positive Haltung zur Homo-Ehe und natürlich ihr fortschrittliches Frauenleben dürften auch so mancher evangelikalen Frau ein Dorn im Auge gewesen sein. Aber auch die weiblichen Wählergruppen, die für Trump stimmten, reichen nicht an die Zahl der männlichen Trump-Wähler heran. Für Gloria Steinem ist darum die Wahl Trumps ein „White-Lash“ und ein „Man-Lash“, sprich: Ein Backlash, der sich aus der Wut der Weißen und der Männer speist.

Nein, es geht um Rassismus und um Sexismus

Warum ist es so wichtig, sich diese Entwicklung in den USA genau anzusehen? Erstens: Weil auch in Deutschland eine Menge wütender abgehängter Männer unterwegs sind. Sie haben ihre Wut nicht erst in den letzten beiden Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern im September 2016 an der Wahlurne ausgetobt: Hätten in Berlin nur Männer zwischen 45 und 59 gewählt, wäre die AfD stärkste Partei geworden und würde jetzt den Regierenden Bürgermeister stellen. Auch in Mecklenburg-Vorpommern würde die AfD jetzt den Ministerpräsidenten stellen, hätten im Land des Werftensterbens und der Frauenflucht in den Westen nur Männer zwischen 30 und 60 gewählt.

Zweitens, um nicht im Postfaktischen zu verweilen, das verhindert, dass wir die Ursachen verstehen – und sie verändern können. Im Herbst 2017 ist Bundestagswahl. Es ist Zeit, sich für die Fakten zu interessieren.

Chantal Louis 

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