Cigdem Toprak: Wir wollten frei sein!

© Ebru Tavli
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Als wir blutjung waren, wollten wir nur eins: frei sein. Wir liebten unsere türkische, arabische, kurdische Kultur, unsere islamische, alevitische Reli­gion, unsere maghrebinischen, afghanischen und anatolischen Traditionen – aber wir wollten sie so ausleben, wie wir es wollten.

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Jeden Sommer wollten wir im Freibad schwimmen, wir wollten in Clubs feiern gehen, in die wir mit 16 Jahren eigentlich gar nicht hinein durften, wir wollten mit Jungs oder Mädels ins Kino, wir wollten mit unserem Schwarm oder unserer Angebeteten telefonieren, wir wollten eine feste Beziehung haben und sie oder ihn Zuhause unseren Eltern vorstellen – so wie es unsere deutschen Freunde taten. Wir wollten jung sein, wir wollten frei sein.

Wir haben nie darüber geredet, wer eine „schlechte Muslima“ war

Während heute viele junge Muslime in Shisha-Cafés bei einem Minztee und einer Shisha mit Beere und Traube-Geschmack vorwiegend geschlechtergetrennt sitzen und sich gegenseitig oder ihr Handy anstarren, trafen wir uns in Jugendclubs mit unseren deutschen und ausländischen Sozialarbeitern – Jungs und Mädchen zusammen – und wollten das machen, was junge Menschen gerne machen, wenn sie jung sind: Quatschen, lachen und feiern.

Da wir strenge Eltern hatten – unabhängig davon, ob wir alevitisch, sunnitisch, arabisch oder kurdisch waren – mussten wir, gerade wir Mädels, viel von unserem Leben verheimlichen. Und das war nicht einfach. Wir haben uns im Zimmer eingeschlossen, wenn wir Liebeskummer hatten, und konnten oft unseren Eltern nichts davon erzählen. An Liebe hat es uns nie ­gefehlt, aber an Freiheit sehr oft. Wir haben nach Wegen gesucht, wie wir abends aus dem Haus kamen. Wir haben unsere Eltern für jede weitere Stunde außerhalb unseres Zuhauses angebettelt.

In den Zeiten vor dem Handy hatten die Jungs immer Münzen in der Hand, um uns aus einer Telefonzelle Zuhause anzurufen, in der Hoffnung, dass nicht unsere Väter oder unsere Mütter, sondern wir drangehen, und sie unsere Stimme hö­ren können. Wir haben Liebesbriefe geschrieben und sie Zuhause akribisch versteckt. Und wir Mädels haben uns überlegt, wie es wäre, wenn wir lesbisch wären. Wir hätten mit unserer festen Freundin so viel Zeit verbringen können, wie wir nur wollten. Sie könnte bei uns Zuhause abhängen, mit uns in den Urlaub fahren und mit ihr hätten wir nach dem Abitur sogar eine WG gründen können. Wir haben sehr viel geträumt. Auch davon, wie das Leben für die nächsten Generationen werden wird.

Wir haben gehofft, dass wir so frei sein können wie unsere „deutschen“ Freunde – so frei, dass wir auf der Straße Händchen halten könnten, ohne Angst zu haben, dass ein Onkel oder ein Freund unserer Väter uns dabei erwischen würde. Wir wollten einfach nur jung sein. Und wir haben dafür gekämpft.

Wir wollten einfach nur jung sein - und wir haben dafür gekämpft

Wir wurden stets als „Ausländer“ bezeichnet, die Fronten waren klar. Das, was für die Deutschen galt, galt eben nicht für uns. Wir haben uns darüber geärgert, dass die Deutschen mit ihren Freiheiten so wenig anfangen konnten. Wir, wir hätten das Beste rausgeholt.

Dann merkten einige von uns, dass es keinen Lichtblick gab, dass sie nur bestraft wurden, wenn sie die herrschenden sozialen Normen in den muslimischen Communities brechen. Als die hübschesten, selbstbewusstesten und coolsten marokkanischen Mädels mit 16 Jahren verheiratet wurden; als die freiheitsliebende und aufmüpfige Freundin nach dem Abitur ihren Cousin heiraten musste und sich anschließend das Leben nahm; als nur wenige es schafften, ein selbstbestimmtes, freies und offenes Leben zu haben – ohne mit den ­Eltern zu brechen, oder eine „falsche Muslima“ oder „unehrenhaft“ zu sein. Da fingen wir an, konform zu leben. Konform gegenüber den Erwartungen der Eltern. Und unsere Jugend war dahin.

Wir waren in diesem Land geboren, aber für uns galten – so selbstverständlich war das für alle, auch für „die Deutschen“ – andere Normen, andere Regeln, andere Erwartungen. Wir waren überfordert: nicht nur mit Hausaufgaben und den Besuchen unserer liebevollen Verwandten; nicht nur mit den Sommerurlauben in unserer mittelöstlichen Heimat, wo wir auch stigmatisiert und bedrängt wurden; sondern auch mit den Übersetzungen für unsere Eltern bei deutschen Behörden. Wir waren überfordert mit Erklären, mit Rechtfertigen, mit Entschuldigen. Wir mussten uns stets entschuldigen, dafür, wer wir waren und wie wir sein wollten.

Wir wurden als „Ausländer“ bezeichnet,
die Fronten waren klar

Am meisten tat diese Ungerechtigkeit weh. In unserem Herzen spürten wir jedes Mal einen Stich, wenn wir merkten, dass unsere Grenzen viel zu nah an unseren Träumen waren. Und wir haben mit Angst gelebt. Angst, erwischt zu werden. Angst, bestraft zu werden. Angst, mit welchen Vorwürfen wir diesmal konfrontiert würden. Dabei wollten wir nur jung sein. Wir wollten frei sein.

„Wir Ausländer“ haben uns zusammengetan, wir haben Solidarität dort gezeigt, wo es unseren deutschen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden nicht gelang. Wir hatten uns unsere eigene Welt erschaffen. Wir waren befreundet aufgrund unserer kulturellen Identität, gerade auf dem Gymna­sium, wo wir auf das deutsche bürgerliche Leben trafen und die mit unserer kosmopolitischen und transnationalen Identität nicht viel anfangen konnten. Und es war nicht unsere Religion, die identitätsstiftend für uns war. Es war unser gemeinsames Verlangen, unser Streben nach Freiheit, nach Akzeptanz, nach Anerkennung. Sowohl von unserer ­eigenen Gemeinschaft, als auch von der deutschen Welt da draußen.

Und wenn unser Lehrer uns fragte, welchen Beruf unsere Großväter ausübten, waren wir drei „Türken“ die einzigen, deren Großeltern nicht einmal einen Schulabschluss hatten. Doch nicht nur in Mathe oder Physik, sondern auch in Ethik, Geschichte oder Deutsch waren unsere Noten um einiges besser als derjenigen, deren Großväter Ärzte oder Lehrer waren. Wir waren Aufsteiger. Wir hatten nur keine Ahnung, welchen Preis wir dafür bezahlen mussten.

Wir hörten Hiphop, liebten Pharrel Williams – bevor es die bürgerlichen Studenten taten. Wir trauerten um Tupac und Aaliyah. Wir kannten den amerikanischen Slang und hatten deshalb den Englisch-Leistungskurs gewählt. Das war unsere Jugend.

Wir hatten kaum Vorbilder in den deutschen Medien oder in der Öffentlichkeit, die uns einen Weg aufzeigen konnten, wie wir die Erwartungen unserer Eltern, unserer Gemeinschaft mit den Erwartungen da draußen vereinbaren konnten. Wir haben uns nicht als Opfer gefühlt, aber wir wurden ausgegrenzt und irgendwann wurden wir zu Opfern gemacht.

Dabei haben wir uns nicht mit dem Islam oder dem Koran auseinandergesetzt – das haben unsere Eltern vielleicht gemacht. Wir haben im Ramadan gefastet, wir haben unsere religiösen Feste zusammen gefeiert. Mit einem richtig miesen Gewissen haben wir uns in der Schule frei genommen – denn ­unsere Eltern wollten nicht, dass wir am ­Zucker- und Opferfest von der Schule fernblieben. Sie wollten nicht, dass wir vorrangig religiös waren, sondern anständig.

Mit dem Koran haben sich
eher unsere Eltern aus-
einandergesetzt

Wir haben immer auf den Sommer gewartet. Die Jungs haben trainiert, die Mädchen haben Diäten gemacht, weil wir wussten, dass wir uns in Bikinis und Badehosen im Schwimmbad treffen würden. Und wenn wir es schafften, wollten wir Abitur machen, wir wollten studieren, wir wollten raus in die Welt. Und wir hofften, dass die nächste Generation noch offener, noch freier und noch moderner leben würde. „Dass sie mehr dürfen.“ Dürfen – das war eines der Verben, die wir am häufigsten verwendeten.

Wir wollten nicht nur modern konsumieren, mit unseren Reebook-Schuhen, Nokia-Handys und Nike-Hosen. Wir wollten auch all das andere, was noch dazu gehörte. Wir haben versucht, Jennifer Lopez nachzuahmen. Ihren Kleidungsstil, ihre Haare – ihre Welt aus „Jenny From the Block“ sollte zu unserer Welt werden. Und während Lil Jon und Ludacris im Autoradio „Move Bitch“ rappten, lächelten wir dankbar, dass unsere Eltern kein Englisch verstanden.

Die Namen unserer männlichen Freunde waren in unseren Handys als deutsche Frauennamen gespeichert: Tarek wurde zu Tatjana. Mit einem Julian oder Christopher waren wir offiziell befreundet, mit einem Milad oder Cem durften wir uns nicht blicken lassen. Unsere Eltern haben den deutschen Jungs stets mehr vertraut als den Jungs ihrer Freunde und Bekannten.

Wir haben nie darüber geredet, wer eine „schlechte Muslima“ war – sondern immer darüber gesprochen, welche Bekannte, Cousine oder Freundin nun von „Zuhause abgehauen war“. Sie sind einfach ausgebrochen, verschwunden, weil sie die strengen Regeln der Eltern und der Brüder nicht mehr aushielten. Und wenn das unsere eigenen Eltern mitbekamen, bekamen sie Panik. Und engten uns mit ihrer Liebe und ihren Ängsten noch stärker ein.

Wir haben gemerkt, dass uns die Mehrheitsgesellschaft nicht so akzeptieren wird, wie wir eben sind, so komplex unsere Identitäten auch sind. Und wir begriffen, dass auch unsere eigene Community uns nur schwer so hinnehmen wird, wie wir sein wollten, so frei und offen und kritisch und selbstbestimmt.

Unser Kampf für Freiheit wurde nicht erkannt und nicht belohnt

Wir wollten niemals konform leben. Aber man hat unseren Kampf für Freiheit nicht gesehen, nicht erkannt, nicht belohnt. Man fing irgendwann an, uns in Kategorien zu betrachten. Wir mussten mit Stereotypen kämpfen. Jahre später musste ich meinen altbekannten Klassenkame­raden erklären, weshalb ich nicht in die Moschee gehe, weshalb ich kein Kopftuch trage. Wir mussten erklären, was wir vom 11. September hielten. Wir wurden hin und her gezerrt. Nicht zwischen Tradition und Moderne – denn wir hatten uns längst für die Moderne entschieden – sondern zwischen Etiketten, die man uns gab. Wir seien von nun an deutsche Muslime. Wir hätten einen Migrationshintergrund. Man müsse uns verstehen. Man müsse uns tolerieren.

Kaum jemand hat uns gefragt, wer oder was wir sein wollen. Dabei wollten wir einfach nur jung sein. Wir wollten frei sein.

Cigdem Toprak

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