In der aktuellen EMMA

Wollen Mädchen so aussehen?

Eine von vielen Puppen im Spielzeugladen...
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Melanie Haller, ich würde gern mit dem Phänomen beginnen, das im Volksmund „Arsch frisst Hose“ genannt wird und sowohl bei Mädchen als auch erwachsenen Frauen zu beobachten ist. Was sagen Sie dazu?
Ja, das ist in der Tat sehr auffällig. Leider auch schon bei Kindern im Grundschulalter. Die hintere Schrittnaht ist so eng gefasst, dass sich die Hose zwischen die Pobacken schiebt. Das Phänomen ist nicht neu. Es hatte schon eine Hochzeit in den 1960er und 70er Jahren. Da wurde die Hose zum Alltagskleidungsstück für Frauen, musste aber feminisiert und erotisiert werden. Das Augenmerk sollte auf die Beine und den Po der Frau gelegt werden. Neu und bedenklich ist, dass schon Kinderhosen so geschnitten sind.

Warum taucht dieses Phänomen gerade jetzt wieder auf?
Dieser Teil des Frauenkörpers steht seit dem Anfang der Moderne im Mittelpunkt, also seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Vorher war der Unterkörper der Frau immer bedeckt. Seit den 2000ern findet die Sexualisierung des Frauenkörpers in der Mitte statt:  Hüfte, Po, insgesamt eine starke Konzentration auf den Genitalbereich. Der Busen spielt in der Modeszene keine große Rolle mehr. Die Mode holt sich ihre Trends aus den Subkulturen. In den 1980ern war es beispielsweise der Punk. Kaputte Jeans waren in.  In den 1990ern war es die Techno Kultur mit weiten Hosen, aber sehr schmalen Taillen, die beide Geschlechter getragen haben. Da war der extrem dünne Bauch angesagt. Die Verschiebung des typischen Frauen Torsos, die wir nun erleben, hat viel mit Social Media zu tun sowie der Sexualisierung und Pornografisierung.

Gilt das auch für die Kinderkleidung?
In den letzten 20 Jahren hat sich in der Kinder mode viel zum Unguten verändert. Seit den 2000er Jahren werden die Körperideale von Erwachsenen eins zu eins auf Kinder übertragen. Und zwar inklusive der Sexualisierung der erwachsenen Frauen mode. Die Sanduhr Silhouette für Frauen, der V Körper für Männer. Ich bin in den 1970er Jahren aufgewachsen. Da war Kinderkleidung relativ neu tral, mit weiten Cordhosen und Nicky Pullovern. Kinder sollten Bewegungsfreiheit haben, die Kleidung sollte lange halten und an Geschwister weitergegeben werden können. Irgendwann aber haben die Konsumkultur und die Modeindustrie begriffen, dass mit der Aufteilung nach Geschlecht doppelt zu verdienen ist.

Gendermarketing heißt das heute.
Genau. Das gibt es mittlerweile ja fast in allen Bereichen und natürlich auch in der Kinderkleidung. Da fängt die Objektifizierung der Frau ja an. In jedem Bekleidungsgeschäft sehen Sie sofort, welche die Abteilung für die Mädchen und welche für die Jungs  ist. Die Häschen in Pastelltönen links, die Haifische und Dinos auf Blautönen und in Khakifarben rechts. Wenn Eltern es anders machen wollen – und ich mache das, seit meine Tochter auf der Welt ist –, haben sie irgendwann ein Problem. Spätestens mit der Bademode.

Gerade die ist ja sehr speziell.
In der Tat. Wattierte Bikini Oberteile, hoch ausgeschnittene Beine. Wer kommt auf die Idee, kleine Mädchen dermaßen zu sexualisieren? Ein Mädchen im Schwimmbad will Spaß haben. Es will garantiert nicht sexy sein. Warum also wird diese Botschaft auf den Mädchenkörper gepresst? Und warum kaufen Eltern sowas?

Sie haben sich sehr viel mit den Konfektionsgrößen von Kindern beschäftigt. Warum?
Ich habe Größentabellen miteinander verglichen. Das sind die Zahlen, mit denen die Modeindustrie in der Schnittkonstruktion für die Konfektionierung arbeitet. Kindergrößen werden nicht nur nach Alter und Größe erstellt, sondern vor allem nach Geschlecht. Während sämtliche Bekleidung für Jungen weiter und geradliniger geschnitten ist, ist sie für Mädchen schon ab dem Kleinkind alter in den jeweiligen Größen kleiner, enger und tailliert geschnitten. Kurze Hosen für Mädchen sind kürzer als kurze Hosen für  Jungen. Oberteile für Mädchen ab einem Jahr in Größe 86 sind bereits tailliert.

Da fängt die Einengung in der Bewegung also schon an?
Absolut. Dazu die Betonung des Körpers. Weicht das Mädchen auch nur ein kleines bisschen vom Größenschema ab – das wohlgemerkt im Schema der Jungen nicht einmal auffallen würde –, merkt sie: Ich passe hier nicht rein. Sie hält sich für zu dick. Das ist  die Hölle für manche Mädchen, besonders wenn sie in die Schule und in Peer Groups kommen. Hinzu kommen die Materialien, die verwendet werden. Die Kleidung für Jungs ist aus robusteren Materialien. Jeans, Pullover, sogar die Unterwäsche und Socken  haben viel höhere Baumwollanteile, sind reißfester und wärmender. Für Mädchen hingegen wird sehr viel Elasthan verwendet, damit alles schön anliegen kann und der Körper zur Geltung kommt. Noch vor wenigen Jahren gab es beispielsweise gar keine  Outdoor Bekleidung für Mädchen, weil das Kaufinteresse falsch eingeschätzt wurde. Ja, die wilden Jungs, die brauchen was Robustes, aber die süßen Mädchen doch nicht.

Noch dazu sind die Materialien der Mädchenkleidung oft „leicht entflammbar“ …
Ja, es sind billigste Materialzusammensetzungen aus Polyacryl und Elasthan, die weder wärmen noch etwas aushalten und dazu in großem Maße die Umwelt belasten, weil beides nicht sehr lang lebig ist. Auf den Knien rumrobben geht damit schon mal nicht. Das erzeugt Hitze und macht Löcher. Es muss also schnell eine neue Hose gekauft werden. Alles Kalkül.

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Lassen Sie uns über die Gummibänder sprechen, die die Hosen über mehrere Größen weiter oder enger machen können.
Sehr gern! Wie kann es sein, dass diese Gummi bänder nicht in Mädchenhosen, sondern nur in Jungshosen eingearbeitet werden? Es ist doch so praktisch. Die Hose sitzt besser und kann viel länger getragen werden. Mädchen wird dieser Spielraum aber nicht zugestanden. Sie sollen schön ihre Elasthan-Hosen tragen, die die Beine betonen und nur wenige Monate halten. Ich finde das eine Frechheit! Bei der Bekleidung für Jungen wird viel funktionaler und kindgerechter gedacht.

Was empfehlen Sie Eltern?
Zuerst einmal geht es darum, sich seiner Macht als KonsumentIn bewusst zu werden. Sie entscheiden, was Sie kaufen. Kaufen Sie doch ein fach mal Kleidung, die robust und halbwegs neutral ist. Klar, da werden Eltern viele Kämpfe führen müssen, aber das gehört dazu. Je mehr Mütter und Väter es machen, desto einfacher wird es für die Kinder, dem Gruppendruck zu entkommen. Man muss sich einfach immer wieder klarmachen, dass hier nicht biologische Eigenheiten bedient werden, sondern eine Industrie maximale Gewinne abschöpfen will. Nehmen wir zum Beispiel Lego, das es ja mittlerweile auch dezidiert für Mädchen gibt, mit viel dünneren Spielfiguren und einer Spielewelt, die sich um Mode und Lifestyle rankt. Was soll das? Ganz einfach, Lego will doppelt verdienen. Mir wird oft gesagt: Ach, lass doch Mädchen Mädchen und Jungs Jungs sein. Nein! Lasst Kinder Kinder sein!

Warum folgen nicht mehr Eltern diesem Motto?
Alle Eltern sind stolz, wenn das eigene Kind hübsch ist. Das erklärt auch, warum manche Mütter ihre Töchter anziehen wie sich selbst. Ein Problem ist auch, dass Erwachsene es irgendwie süß finden, wenn Kinder wie Erwachsene gekleidet sind. Das macht in dem Moment aber etwas mit Kindern. Wir bringen ihnen etwas bei, was wir eigentlich nicht wollen können. Nicht selten fragen sich Mütter, die ihren Mädchen knappe Bikinis kaufen, warum die Tochter in der Pubertät plötzlich eine Essstörung hat. Die Körperbilder auf Social Media radikalisieren diese ohnehin gefährliche Entwicklung. Die Zahlen essgestörter Mädchen schießen durch die Decke. Das ist kein individuelles, sondern ein großes gesellschaftliches und kulturelles Problem.

Frau Prof. Haller, abschließend muss ich Sie noch nach der „Scrunch-Butt-Leggins“ fragen, dieser Sporthose, die wie keine andere den Hintern abmalt.
Für mich geht diese Hose einher mit der Optimierung des eigenen Körpers. Wer einen trainierten Hintern hat und ihn allen zeigen will, der hat nun die passende Hose dafür gefunden – was an sich nicht negativ ist. Junge Mädchen sind nur auf der Suche nach ihrer Identität. Was bieten wir Ihnen an? Ein normiertes sexualisiertes Körperbild einer Modeindustrie, das sie krank macht? Sollten wir nicht versuchen, ihnen mit unserem Vorbild ein eigenes Bild von Schönheit und Ästhetik und vor allem Vielfalt zu geben? Uns KonsumentInnen fehlt generell der Gedanke von Widerstand!

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