Natascha Kampusch: Die Widerständige

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Sie blieb stolz gegen ihren Kerkermeister – und sie ist stolz im Umgang mit den Journalisten. Jetzt hat sie ein Buch geschrieben. Das Opfer erobert sich seine Geschichte zurück.

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Als die zehnjährige Natascha Kampusch am ersten Abend ihrer Gefangenschaft in ihrem Verlies saß, stellte sie sich die Zeit nach ihrer Befreiung vor. „Ich malte mir aus, wie triumphal es wäre – und auch ein bisschen peinlich –, wie sich alle um mich scharen und unermüdlich ausfragen würden.“

Jetzt ist Kampusch 22 und dieser Zeitpunkt ist da. Er ist triumphal, aber auch ein bisschen peinlich; ausfragen darf sie jedoch niemand, so lautet die Vorschrift.

Natascha Kampusch tritt zum ersten Mal live vor Publikum auf. Sie sitzt in der „Pädadogik“-Ecke einer Wiener Buchhandlung, neben ihr der fesche Fernsehmoderator Christoph Feurstein, rundherum Dutzende Securities mit Stöpseln im Ohr, Trennwände und Absperrgitter.

Die Zuhörer sitzen auf Bücherstapeln. 19,95 Euro kostet das Stück, 50000 Erstauflage, die dritte ist bereits in Vorbereitung. Die Boulevardzeitungen haben vorgerechnet, dass die Autorin damit eine Million Euro verdienen wird.

Vorerst ist Natascha Kampusch jedoch nur nervös. Der Metallstuhl ist unbequem, das Headset rutscht, es ist zu viel Kohlensäure im Wasser, das Mikrophon verstärkt unbarmherzig jeden Atemzug. Sie macht lange Pausen, bevor sie spricht. Auf die ihr eigene, freundlich sarkastische Art sagt sie zu dem Moderator: „Seien Sie nicht so unsicher, Herr Feurstein, Sie machen das schon.“ Dann liest sie, mit einer Stimme, die langsam fester wird. Wenn sie in Wien fertig ist, folgen Hamburg, London und Paris.

Es ist, für alle deutlich sichtbar, eine Quälerei. Die junge Frau setzt sich einem Publikum aus, das sich gruseln will. In den Online-Foren wird sie hemmungslos beschimpft: Als eitle Selbstdarstellerin, publicitygeil und geldgierig, die nie Ruhe gibt und ständig ins Rampenlicht drängelt, obwohl längst keiner mehr neugierig sei auf sie.

Natascha Kampusch hätte sich verstecken können. Sie hätte still sein können, unter einer neuen Identität weiterleben, auswandern vielleicht sogar, an einen Ort, an dem sie niemand kennt. Stattdessen ist sie in Wien geblieben, wo jeder ihr Gesicht kennt, und setzt sich auf die Bühne. Warum bloß?

Um das zu verstehen, muss man ihr Buch lesen. „Was ist das für ein Leben, in dem man sein Gesicht nicht zeigen kann, seine Familie nicht sehen darf und seinen Namen verleugnen muss?“ schreibt sie da. Sie erzählt, wie ihr Entführer ihr jahrelang einen Spiegel verweigerte, damit sie sich nicht selber sehen konnte. Wie er ihr verbot, ihre Eltern zu erwähnen, die Katzen, das Ferienhaus, die Schule. Wie er ihr einen neuen Namen gab.

„Du bist nicht mehr Natascha. Du gehörst jetzt mir“, sagte er und nannte sie „Bibiana“. „‚Du hast keine Vergangenheit mehr‘, bläute er mir ein … Er nahm mir meine Geschichte und meine Identität. Ich sollte nichts mehr sein als ein Stück weißes Papier, auf das er seine kranken Phantasien schreiben konnte.“

An dieser Stelle wird klar, was der eigene Name bedeuten kann. Natascha Kampusch ist entschlossen, ihn zu verteidigen. Damals gegen Wolfgang Priklopil und heute gegen die Medien.

Zwischen den beiden gibt es übrigens Parallelen, beinahe unheimliche Parallelen. Da war zum Beispiel die Gegensprechanlage im Verlies. Der Täter konnte die Gefangene abhören, wie es ihm beliebte; wenn er schlecht drauf war, brüllte er monoton „gehorche! gehorche! gehorche!“ hinein. In der Angst, unter permanenter Beobachtung zu stehen, verklebte das Mädchen alle Ritzen zwischen den Holzbrettern mit Zahnpasta.

Nein, Priklopil bedrängte Natascha nicht mit versteckten Kameras. Das geschah erst später im Spital, als Paparazzi sich als Krankenpfleger verkleideten, um zu ihr vorzudringen. Verständlich, dass Kampusch bis heute versucht, Bilder, die von ihr erscheinen, zu kontrollieren. Als eine U-Bahn-Zeitung ein Foto aus der Disco veröffentlichte („Natascha: „So süß ist ihre Liebe“), klagte sie.

Journalisten kippen schnell in die Täterperspektive, ohne es zu merken. Dann teilt Kampusch kleine, spöttische Bemerkungen aus. Anfang September erwischte es den ARD-Talkshow-Profi Reinhold Beckmann. Der fragte sie, mit treuherzigem Blick, nach ihrem „Schiausflug“. „Ja, so hat das auch der Täter genannt“, erwiderte sie kühl.

Für die Gefangene war jeder Tag eine Qual. Bis auf die Knochen abgemagert, mit Verletzungen am ganzen Körper, konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Ihr war schwindlig und übel, sie war innerlich besetzt von dem Lauern auf ihre Chance zur Flucht. Bloß wie?

Nein, das war kein „Schiausflug“. Es war Teil eines sadistischen Folterprogramms, das in einer tiefen Depression mündete. Weil die holländische Touristin, die Natascha auf der Toilette krächzend anzusprechen versuchte, sich lächelnd umdrehte und ging. „Ich habe um Hilfe gebeten, aber man hat mich nicht verstanden. Es war wie in meinen schlimmsten Alpträumen. Es war, als sei ich gar nicht da.“

Für einen besonders beklemmenden Moment der Komplizenschaft sorgte ein honoriger, integrer Mann. Ludwig Adamovich, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs, der untersuchen sollte, ob der Polizei Ermittlungsfehler unterlaufen waren, sagte in einem Interview: „Es ist denkbar, dass diese Gefangenschaft allemal besser war als das, was sie davor erlebt hat.“ Diesen Satz hat man im Ohr, wenn man im Buch nun erfährt: Genau das hörte sie vom Täter auch. „Du bist nichts wert, du musst mir dankbar sein, dass ich mich deiner angenommen habe. Niemand würde dich sonst wollen“, erklärte Wolfgang Priklopil gern, bevor er sie – nackt, mit geschorenen Haaren und blauen Flecken – vor die Haustüre schubste. „Lauf doch. Schau doch, wie weit du kommst.“ Als das Mädchen dann nach ihrer Selbstbefreiung panisch durch die Vorgärten von Strasshof hetzte, fand sie niemanden, der ihr das Handy lieh. Die Frau, die sie durchs Küchenfenster bat, die Polizei zu rufen, machte sich zunächst einmal Sorgen um ihren Rasen.

Natascha Kampusch hat jedes Weltvertrauen und den Glauben an Menschen verloren. Das ist beinahe körperlich spürbar. Sie macht der Gesellschaft den Vorwurf: Dass sie blind ist für Gewalt, die vor aller Augen stattfindet; und dass ein Opfer nie sicher sein kann, ob es Hilfe findet.

Dieser Vorwurf provoziert. Noch heftiger wird die Abwehr, wenn Kampusch daran erinnert, wie sehr das Böse dem Normalen ähnlich sein kann. Sie zeichnet den Täter nicht als perverses Sexmonster, sondern als zwanghaften Mann, der „ein fleißiges Frauchen“ zum Arbeiten, Putzen und Kuscheln suchte. Eine, die ihm gehorchte, zu ihm aufblickte. Sie musste Kuchen backen wie seine Mutter, und die Möbel ebenso blitzblank scheuern. „Sein Bild einer heilen Familienwelt war wie aus den 1950er Jahren entsprungen“, schreibt sie.

Das ist so nah dran am Gewöhnlichen, dass es wehtut. Die große Verschwörung, dunkle Hintermänner und ein mafiöser Kinderpornoring wären fürs Publikum leichter zu ertragen, weil sie leichter wegzuschieben wären. „Man muss so ein Verbrechen ausschmücken mit Sado-Maso-Phantasien und wilden Orgien, bis es so weit entrückt ist, dass es mit dem eigenen Leben der Anderen nichts mehr zu tun hat“, vermutet Kampusch. Zur Strafe nennen die Boulvardzeitungen sie dann „Lügnerin“.

Nein, diese Frau hat den Medien nicht alles gegeben, was sie von ihr verlangten. Sie ist ein Stück weit mitgegegangen, weil sie das für notwendig hielt. Aber sie zieht selbst die Grenze, die sie nicht überschreiten will.

Sie hat auch nicht alles getan, was ihr Entführer von ihr verlangte. Sie hat sich gefügt, weil ihr nichts anderes übrigblieb. Aber sie habe sich nie vor ihm niedergekniet, erzählt sie, obwohl er ihr die Beine mit Gewalt verbog und sie in den Bauch trat, um sie dazu zu zwingen. Auch die von ihm befohlene Anrede verweigerte sie. „Ich nannte ihn ‚Verbrecher‘, wenn er wollte, dass ich ‚Gebieter‘ sagte. Ich sagte ‚Schnucki‘ oder ‚Schatzi‘ statt ‚mein Herr‘“.

Diese Zurückweisung ist schwer auszuhalten; am schwersten für jene, die sich mächtig fühlen. Wolfgang Priklopil schlug jedesmal zu, wenn sie Widerstand leistete. „Er hat mit mir die falsche Person erwischt“, sagt Natascha Kampusch heute. So ähnlich geht es der Öffentlichkeit auch.                   

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Natascha Kampusch: 3096 Tage (List, 19.95 €).

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