Gipfel: Sexuelle Gewalt im Krieg

Angelina Jolie kämpft für Frauenrechte.
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Nicht zufällig sitzen im Publikum im Londoner Kongresszentrum ExCel vor allem Frauen aller Nationen. Sie klatschen zustimmend, als Angelina Jolie in ihrer Eröffnungsrede sagt: „Es ist ein Mythos, dass sexuelle Gewalt ein unvermeidlicher Bestandteil von Kriegen und Konflikten ist.“

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Während das Schicksal der Männer im Krieg - allen voran der Soldaten - in den Geschichtsbüchern genau so wie in Filmen und in der Literatur allgegenwärtig ist, so liegt auch im Jahr 2014 noch immer ein Mantel aus Scham und Schweigen über dem Schicksal der Frauen: die sexuelle Gewalt als Kriegsmittel.

Jolie leitet gemeinsam mit dem britische Außenminister William Hague den Gipfel, der ab heute für vier Tage in London stattfindet. 48 AußenministerInnen und 600 RegierungsvertreterInnen aus 113 Nationen haben sich angekündigt. Außerdem sind zahlreiche Frauen- und Menschenrechtsorganisationen dabei, die seit Jahren in dem Bereich arbeiten: Medica Mondiale, Care International oder auch UN Women.

Die Forderungen der Konferenz im Hinblick auf die Umsetzung der „UN-Deklaration gegen sexuelle Gewalt in Kriegen“, die im September vergangenen Jahres von 113 Ländern unterzeichnet wurde, lauten:

  • Die Überlebenden der sexuellen Gewalt in Kriegen sollen stärker unterstützt werden, inklusive Entschädigung!
  • Die Gleichstellung der Geschlechter soll fester Bestandteil aller Bestrebungen nach Frieden und Sicherheit sein, Reformen der Rechtssysteme inbegriffen!
  • Die strategische Kooperation auf internationaler Ebene soll ausgebaut werden!
  • Sexuelle Gewalt in Konflikten soll besser dokumentiert werden - damit sie erkannt, analysiert und bekämpft werden kann!

Jolie berichtete, dass sie bei den Dreharbeiten zu dem Action-Film „Tomb Raider“ in Kambodscha - ihr internationaler Durchbruch als Lara Croft im Jahr 2001 – das erste Mal mit dem Thema konfrontiert wurde. Heute ist die Schauspielerin und Mutter von sechs Kindern 39 Jahre alt. Das Thema hat sie nicht mehr losgelassen.

Über zehn Jahre bereiste Jolie als Sonderbotschafterin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR  Krisengebiete, zuletzt besuchte sie im Kongo ein Hilfszentrum für vergewaltigte Frauen. 2012 brachte die Schauspielerin ihr Regie-Debüt über die systematischen Vergewaltigungen im Bosnien-Krieg in die Kinos: „The Land of Blood and Honey“. Besetzt mit serbischen und bosnischen SchauspielerInnen, die nicht selten selber betroffen waren und nach 16 Jahren erstmals darüber sprachen.

Auf der Bühne in London sagte der Weltstar heute: "Vergewaltigung als Kriegswaffe ist eines der erschütternsten und brutalsten Verbrechen gegen Zivilisten. So unmenschlich, dass es für die Opfer praktisch unmöglich ist, darüber zu sprechen."

Das soll sich ändern. #TimeToAct lautet die Kernaussage des Gipfels und der zugehörige Hashtag. Feministinnen fordern das schon seit Jahrzehnten. 1977 analysierte die amerikanische Frauenrechtlerin Susan Brownmiller in ihrem bahnbrechenden Buch "Gegen unseren Willen" Vergewaltigung als "Krieg gegen Frauen“: „Die Perversion des Krieges verstärkt sich selbst. Gewisse Soldaten müssen ihre neu errungene Überlegenheit unter Beweis stellen; müssen sie einer Frau, sich selbst und anderen Männern beweisen. Der Krieg gibt den Männern im Namen des Sieges und der Macht aus den Gewehrläufen stillschweigend die Erlaubnis, zu vergewaltigen. Und beides, Tat und Entschuldigung, angeführt für Vergewaltigung in Kriegszeiten, offenbaren ohne Tünche von „Ritterlichkeit“ oder Zivilisation die männliche Psyche in ihrer unverschämtesten Ausprägung.“ (EMMA, Oktober 1977)

Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Wie traurig aktuell das Thema ist, davon erfuhr die Weltöffentlichkeit wieder einmal jetzt, als die Terrororganisation Boko Haram (etwa: Die moderne Bildung ist eine Sünde) über 200 nigerianische Mädchen in ihre Gewalt brachte und an einen unbekannten Ort verschleppte. Die Aktualität zeigen auch die sexuellen Übergriffe auf Ägypterinnen, die im Namen des arabischen Frühlings auf den Tahrir-Platz in Kairo gekommen waren. Oder: Die Afghaninnen, die nach einer Vergewaltigung auch noch ins Gefängnis gesperrt wurden - wegen „unmoralischen Verhaltens“.

Denn der Krieg gegen die Frauen geht auch dann weiter, wenn schon alle von Frieden sprechen. Das belegte die Studie „Women, War and Peace“ von Elisabeth Rehn, ehemalige finnische Verteidigungsministerin, und Ellen Johnson Sirleaf, inzwischen Präsidentin von Liberia und Friedensnobelpreisträgerin. Im Auftrag der UN-Frauenorganisation UNIFEM reisten sie 2001 in die Nachkriegsgebiete dieser Welt und stellten fest: „Überall erzählten uns Frauen, dass der Krieg ihr Familienleben zerstört. Sie berichteten uns, dass die Militarisierung ihre Söhne infiziert, ihre Ehemänner, ihre Brüder – sie erkennen sie nicht wieder. Sie beklagten, ihre Männer seien kalt, verschlossen und jähzornig, oft gewalttätig. Vor allem, wenn sie Alkohol trinken, um zu vergessen, was sie gesehen haben.“

Rehn und Sirleaf prangern nicht nur den Anstieg der Häuslichen Gewalt als Kriegsfolge an, sondern auch den von Prostitution und Frauenhandel, für die die „Friedenssoldaten“ und „humanitären Helfer“ überhaupt erst die Nachfrage schaffen. „Wenn du denen keine Ehefrau, Tochter oder Schwester anbieten kannst, kriegst du als Mann hier nichts zu essen“, zitiert die Studie einen Vater aus einem Flüchtlingscamp in Sierra Leone.  

Erst im Juni 2008 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1820 und erklärten damit „Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt“ zum „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Darin heißt es: „Sexuelle Gewalt wird als Kriegstaktik angewandt, um Frauen und Mädchen zu erniedrigen, verängstigen und dominieren und um sie aus ihrer familiären oder ethnischen Gemeinschaft zu verstoßen“. Und der Sicherheitsrat stellt fest, dass Massenvergewaltigungen nicht nur „kriegerische Konflikte verschärfen“, sondern auch nach Kriegsende den „Friedensprozess erschweren“.

Auch daran hat sich bis heute nichts geändert. Bleibt zu hoffen, dass diese so hochkarätig besetzte Konferenz etwas in Bewegung setzt.

In EMMA zum Thema

1977 - Vergewaltigung: Krieg gegen Frauen
1989 - Das Schlimmste waren die Schreie
1993 - Der verkaufte Krieg
1999 - Vergewaltigung auf Befehl
2012 - Arabischer Winter: Tod den Rebellinnen!

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Das vererbte Trauma

Szene aus "Anonyma", dem Film über die im Krieg vergewaltigten Frauen.
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An Weihnachten 2009 machte Gerda Olschewski (Name geändert) ihrer Tochter und ihren beiden Enkelkindern ein ganz besonderes Geschenk: Sie überreichte ihnen einen Stapel Papier. Es waren elf Texte, die sie selbst geschrieben hatte. In sieben davon schilderte die 82-Jährige ihre Lebensstationen: von ihrer Kindheit in Schlesien bis hin zu ihrem Lebensabend in einem betreuten Wohnprojekt in Brandenburg. In zwei weiteren Texten aber stand etwas Schockierendes. Etwas, über das Gerda in all den Jahren noch nie gesprochen hatte: Sie war als 17-jähriges Mädchen kurz vor ihrer Flucht nach Westen von einem russischen Soldaten vergewaltigt worden.

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Davon hatten weder Tochter noch ­Enkelkinder etwas gewusst. Und dennoch hatte es nicht nur das Leben ihrer Mutter, sondern auch ihr eigenes geprägt. Endlich begriff Tochter Brigitte: Warum ihre Mutter immer ein angespanntes Verhältnis zum Vater gehabt hatte. Dass es nicht an ihr gelegen hatte, wenn die Mutter manchmal so unterkühlt gewesen war. Und: Warum sich ihre Mutter noch im Rentenalter von ihrem Mann hatte scheiden lassen. Heftige Kräche hatte es über diesen späten Schritt gegeben, der der Tochter völlig unverständlich gewesen war. Jetzt, nachdem sie die Berichte gelesen hatten, konnten sie anfangen, über all das zu sprechen. Endlich.

Gerda Olschewski ist nicht die einzige Frau, die an ihrem Lebensabend doch noch offenbart, was ihr jahrzehntelang das Leben und die Liebe schwermachte. Ganz wie sie versuchen rund 50 weitere Teilnehmerinnen des Projekts „Lebenstagebuch“, ihr Lebenstrauma zu verarbeiten: Diese Verletzung von Körper und Seele, die ­Sexualität mit Angst verknüpft und das Urvertrauen in andere Menschen bricht.

Ehen, Beziehungen, auch die zu den eigenen Kindern, und Selbstbewusstsein sind schwierig unter solchen Voraussetzungen. „Das Erlebnis der Vergewaltigung zieht sich durch das ganze Leben unserer Patientinnen“, weiß Psychologin Maria Böttche. Viele der Frauen leiden bis heute unter Depressionen, Alpträumen oder sogenannten Flashbacks, also dem Wiedererleben der Tat, die genauso überfallartig in den Kopf schießt wie ­damals die Soldaten die Luftschutzkeller auf der Suche nach „Kriegsbeute“ stürmten.

Aber die Frauen, die damals Opfer dieser Soldaten wurden, sind nicht die einzigen Betroffenen. „Das Trauma der Vergewaltigungen am Ende des Zweiten Weltkriegs setzt sich über mindestens zwei Generationen weiter fort. Ich erlebe, dass noch die Enkel heute Probleme haben, weil ihre Großmutter nie über ihre schrecklichen Erlebnisse hat sprechen können.“

Weil Psychologin Böttche und ihre KollegInnen vom Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer (bzfo) die zerstörerischen Folgen der Verdrängung kennen, haben sie gemeinsam mit der Uniklinik Greifswald das Projekt „Lebenstagebuch“ ins Leben gerufen (EMMA berichtete in der Ausgabe 6/08).

An der Greifswalder Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie interessiert sich Philipp Kuwert als einer der wenigen Wissenschaftler in Deutschland für die psychischen und physischen Folgen des Kriegsverbrechens, das 60 Jahre lang ­beschwiegen wurde, obwohl es Millionen deutschen Frauen 1945 widerfuhr. Kuwert wollte wissen: Welche Auswirkungen hat das Trauma von damals bis heute?

Also sorgt der Mediziner, der mit seinen 40 Jahren der Enkelgeneration der Betroffenen angehört, nicht nur für die wissenschaftliche Auswertung des Berliner „Lebens­tagebuch“-Projekts, sondern startete eine weitere Untersuchung: „Sexualisierte Kriegsgewalt im II. Weltkrieg“. 36 Frauen, die bei Kriegsende einer oder mehrerer Vergewaltigungen zum Opfer fielen, wurden von Kuwert und seinem Team befragt. Viele sind das nicht, angesichts der Millionen, denen „es“ passiert ist. „Viele Betroffe­ne sind schon tot oder aufgrund von Demenz nicht mehr in der Lage zu erzählen“, bedauert der Arzt. „Und ein Teil derer, die noch leben, sagt: ‚Dieses Fass mache ich jetzt nicht mehr auf!‘“

Aber es gibt auch diejenigen, die genau das am Ende ihres Lebens wollen: Den ­Deckel abheben und sich anschauen, was sie verdrängt haben – und wie es ihr Leben ­beeinflusst hat. Diese Frauen meldeten sich auf den Aufruf, den Kuwert im Oktober 2008, pünktlich zum Filmstart von „Anonyma“ an die Presse gab: „Wenn am Donnerstag in den Kinos ‚Anonyma – eine Frau in Berlin‘ anläuft, werden sich viele Frauen an ihre schrecklichen Erlebnisse zu Ende des 2. Weltkriegs erinnern. Frauen, die in den letzten Kriegstagen und unmittelbar danach vergewaltigt wurden, leiden oft bis heute an den traumatischen Folgen der Erlebnisse. Vielen ist nicht einmal ­bewusst, dass ihre Psyche bis heute leidet und manch quälende Erkrankung dort ihre Wurzeln hat.“

Eineinhalb Jahre später kennt der Wissenschaftler Zahlen: Jede der Frauen wurde durchschnittlich 17 mal vergewaltigt. „Das ist aber eben nur der Durchschnitt. Eine Frau zum Beispiel fiel ihren Vergewaltigern 70 mal zum Opfer.“ Die jüngste Verge­waltigte war sieben Jahre alt. Jede dritte Frau leidet bis heute unter den Symptomen der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wie Depressionen, Alpträumen oder Übererregung, die sich als Herzrasen, Zittern oder Schlafstörung zeigt.

„Dabei können wir davon ausgehen, dass wir es hier mit den stabilsten Frauen der Opfergruppe zu tun haben“, erklärt Kuwert. Denn: „Schwer traumatisierte Menschen haben eine geringere Lebenserwartung als andere.“ Sie neigen zum Beispiel eher zum Alkohol- oder Tablettenmissbrauch oder leiden an Herzkrankheiten, denn das durch ständige Übererregung ausgeschüttete Adrenalin schädigt das Herz. Kuwert folgert: „Diejenigen, die heute noch willens und in der Lage sind, über die Kriegsvergewaltigungen zu sprechen, sind die, die das Trauma vergleichsweise gut verarbeitet haben.“

Aber auch diese Frauen berichteten den Interviewern von starken Symptomen. Und sie erzählen „durchgängig von einer lebenslang schwierigen Sexualität“. „In wenigen Tagen werde ich 82 Jahre alt, war also zur Zeit des Einmarsches der Roten Armee in Berlin 18 Jahre alt“, schreibt eine spätere Teilnehmerin der Studie. „Ich war noch unberührt, als ich vergewaltigt wurde. Ich habe zwar später geheiratet und drei Söhne geboren, aber ich glaube, dass mein Sexualleben keinen normalen Verlauf genommen hat. Ich finde es gut, dass man versucht, diese bisher unter den Teppich gekehrten Tatsachen aufzuarbeiten.“

Traurige Tatsachen, die auch Psychologin Böttche aus den Lebenstagebüchern ihrer Patientinnen kennt. „Die Sexualität der Frauen ist mit Scham und Angst ­besetzt“, berichtet die Psychologin. „Viele Frauen schreiben, dass sie ‚lange keinen Mann wollten‘ oder nur geheiratet haben, weil sie sich Kinder wünschten.“

Das erzkonservative Familienbild der 50er tat sein übriges. Eine unverheiratete Frau: Ein Flittchen. Oder eine Lesbe? ­Jedenfalls ein Ding der Unmöglichkeit. Am Ende stehen „viele Scheidungen“, weiß Psychologin Böttche.

Das wundert weder Psychologin Böttche noch Psychiater Kuwert. Überrascht waren beide allerdings davon, dass sich nicht nur Frauen bei ihnen meldeten, die die Kriegsvergewaltigungen erlebt hatten, sondern viel öfter noch deren Töchter – und manchmal auch die Söhne.

„Meine inzwischen 87-jährige verwitwete Mutter hat während ihrer Flucht aus Pommern 1945 zweimal Vergewaltigungen durch russische Soldaten über sich ­ergehen lassen müssen. Diese ­schreck­lichen Erlebnisse haben sie selbst sowie ihre Ehe und ihre Beziehungen zu uns Kindern zeitlebens belastet“, schreibt eine Tochter. „Leider waren meine Eltern nicht in der Lage, das Geschehene durch offene Gespräche untereinander oder gar mit therapeutischer Hilfe zu verarbeiten.“

Und eine Schwiegertochter berichtet über ihre in Schlesien geborene Schwiegermutter: „In dieser für sie furchtbaren Zeit wurde aus der lebensbejahenden jungen Frau durch die Vergewaltigung durch russische Soldaten eine für ihr ganzes Leben gekennzeichnete Frau. Sie war ständig psychosomatisch krank, wurde tablettenabhängig, viele depressive Schübe belasteten die Partnerschaft und das familiäre Zusammenleben. Eine liebevolle ­Zuwen­dung zum Ehemann und die damit verbundene Sexualität fiel ihr sehr schwer, auch das Verhältnis zu den Kindern bestand in der Hauptsache aus der sich gehörenden Versorgung, aber eine innige liebevolle, über Körperkontakt zugewandte Annäherung an die beiden Kinder war ihr nur sehr schwer möglich.“

Es sind nun diese Kinder der ­Kriegs­generation, die an die Türen der Therapeu­tInnen klopfen und von eigenen Symptomatiken berichten. „Wir haben viele Anfragen von Töchtern, die ihrerseits große Probleme mit ihren Beziehungen haben“, erzählt Maria Böttche. „Häufig können sie keine Nähe zulassen, weil sie sie zwischen den Eltern nicht erlebt, aber auch von der traumatisierten Mutter nicht bekommen haben. Und oft haben sie sich als Kind selbst die Schuld daran gegeben, wenn die Mutter kühl war.“

„Gefreezed“ lautet der Fachbegriff für die nach einem Trauma „eingefrorene“ Seele, die, gerade wenn der Mantel des Schweigens über das Grauen gelegt wird, so manches Mal nie wieder auftaut. Resultat: Eine „massive Selbstwertproblematik“ auch bei den Töchtern. „Bei mir melden sich auch Töchter, bei denen sich Zwangshandlungen ausgebildet haben“, sagt Psychologin Böttche. Wie die Frau, die ihr schrieb: „Ich hole mir Halt und Schutz, indem ich mir den ganzen Tag die Hände wasche.“

Vielen dieser Töchter wird langsam klar, dass sie das Erbe ihrer traumatisierten und zum Schweigen verdammten Mütter angetreten haben. „Und diese Töchter fragen: ‚Warum gibt es so ein Therapie-Projekt nicht auch für uns? Wir geben das doch auch wieder an unsere Kinder weiter!‘“

Angesichts des Ansturms denken die ExpertInnen darüber nach, das „Lebenstagebuch“ auch auf die zweite Generation auszuweiten. Bis es soweit ist, vermittelt Böttche die Töchter an spezialisierte Trauma-TherapeutInnen.

Und sie versucht, das Schweigen zu brechen, das jahrzehntelang in den Familien herrschte. „Etwa die Hälfte der alten Frauen, die beim Lebenstagebuch mitmachen, offenbaren sich anschließend ihren Familien“, erzählt die Psychologin. So wie Gerda Olschewski, in deren Familie jetzt gesprochen wird.

Aber auch denjenigen, die ihre Texte und die Antworten der Psychologin ­darauf lieber für sich behalten, geht es besser. „Ich habe den großen Zusammenhang in meiner Lebensgeschichte erkannt, den roten Faden. Und das ist mir sehr wichtig. Meine Ängste sind deutlich ­zurückgegangen und die Attacken auch kürzer“, schreibt eine Teilnehmerin. Eine andere berichtet: „Ich habe deutlich mehr Respekt vor meinem Leben (vor allem auch Kindheit) erhalten und obendrein Selbstwert gewonnen. Vielleicht der ­Anfang für das Ende meiner ‚Probleme‘ (Schreckhaftigkeit, Bindungsängste, Menschenängste)?“

Nach dem ersten Projekt-Jahr steht fest: „Die Symptome wie Übererregung oder Depression gehen signifikant zurück. Einige Patientinnen fangen noch mal ein neues Hobby an oder engagieren sich ­ehren­amtlich, weil sie aus ihrer Starre ­ausbrechen“, freut sich Maria Böttche ebenso wie „über den Fakt, dass eine Therapie 65 Jahre nach dem Trauma immer noch wirksam ist und zu Erfolgen führt“.

Die letzten zwei der insgesamt elf Texte schreiben die Teilnehmerinnen des Lebens­tagebuchs am Ende an sich selbst, an das Mädchen von damals, das nach dem Willen der alten Frau heute nun nicht mehr länger zum Schweigen verdammt sein soll. „Ich würde ihr immer meine Hilfe anbieten und versuchen, sie zu beschützen, solange sie es möchte“, versichert die heute 78-jährige Herta der damals 13-jährigen. Und das Wichtigste: „Vor allem darüber sprechen, denn ­geteiltes Leid ist halbes Leid.“

Das Projekt Lebenstagebuch bietet auch weiterhin Plätze zur Behandlung an. - www.lebenstagebuch.de oder Behandlungszentrum für Folteropfer, Turmstr. 21, 10559 Berlin.

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