Über Aufbruch und überflüssige Hürden

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Mensch wird nicht behindert geboren, sondern behindert gemacht. 95 Prozent aller Behinderten werden erst im laufe ihres Lebens durch Unfall oder Krankheit behindert. Und alle sind betroffen von der gesellschaftlichen Ausgrenzung zum „Anderen“. Frauen doppelt: wg. Behinderung plus Weiblichkeit.

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Christel Riemann-Hanewinckel liegt mit ihrer Eröffnungsrede in den letzten Zügen. „Behinderte Frauen auf dem Weg in eine selbstbestimmte Zukunft“ lautet der Titel der heutigen Tagung. „Die Frauenfrage wird in der Behindertenpolitik oft nicht mitgedacht“, bemängelt die Parlamentarische Staatssekretärin des Frauenministeriums und wünscht den Teilnehmerinnen „viel Kraft und Durchsetzungsvermögen“. Abgang Hanewinckel, Auftritt Martina Puschke. Die energische Moderatorin vom „Weibernetz“, dem Bundesnetzwerk behinderter Frauen, spurtet von ihrem Stuhl zum Stehpult, übernimmt das Mikro und ist ebenso flott wieder bei der Flipchart-Tafel, um die nächste Rednerin anzukündigen. Was mag denn diese Frau bloß für eine Behinderung haben? Hat sie überhaupt eine? Darf man das fragen? Man darf. Die Antwort fällt verblüffend aus: „Ich hab keine Füße.“ Wie bitte? Tatsache. In Martina Puschkes Schuhen stecken zwei Prothesen.

Jetzt surrt, gleich nach der Staatssekretärin, Rednerin Rosi Probst vom „Weibernetz“-Vorstand mit ihrem E-Rolli ans Mikro. Auch im Publikum verfolgen etliche der rund hundert Anwesenden das Geschehen vom Rollstuhl aus. Robuste Stahlrohr-Rollstühle, Hightech-Elektro-Rollstühle mit Mini-Cockpit, schnittige Edelstahl-Exemplare mit neongelben Felgen.

Einen Tag lang ist hier im Bonner Gustav-Stresemann-Institut Behinderung total normal. Selbstredend steht im Saal kein erhöhtes Podium, selbstverständlich verfolgen die gehörlosen Zuschauerinnen die Reden durch die fliegenden Hände der Gebärdensprachdolmetscherin, natürlich tippen die blinden Zuhörerinnen ihre Notizen in ein Braille-Stenogerät.

Die Podiumsdiskussion „20 Jahre bewegte behinderte Frauen“ ist nun in vollem Gange. Was in dieser Zeit ihre wichtigsten Stationen waren, will Martina Puschke von ihren beiden Gästen wissen. Es ist nicht ganz leicht, Victoria Przytullas Antwort zu verstehen – im akustischen Sinn. Inhaltlich ist das, was die sprachbehinderte Frau dem Auditorium berichtet, nur allzu gut verständlich. Das entscheidende Erlebnis der heute 33-Jährigen war ein Buch. Sein Titel: „Geschlecht: behindert – Besonderes Merkmal: Frau“. Es war für die damals 18-jährige junge Frau eine kleine Offenbarung. Victoria, heute Behinderten-Beraterin bei der „Koordinations- und Beratungsstelle“ (KOBRA) in Koblenz, las das Buch in einer Nacht. „Und ich hab die ganze Nacht durchgeheult. Ich dachte bis dahin immer, ich wäre die einzige Behinderte, die nicht als Frau wahrgenommen wird.“
Die zweite auf dem Podium, Andrea Schatz, erinnert sich sehr gut, wie sie 1992 eine Rede vor der Verfassungskommission halten musste. Sie war „wahnsinnig aufgeregt“, aber auch wild entschlossen, die Belange Behinderter – Männer wie Frauen – in die neue gesamtdeutsche Verfassung zu bringen. 30 Jahre lang hatte die Ostberlinerin in einem Land gelebt, „in dem es weder eine Frauen- noch eine Behindertenbewegung gab“. Also rollte die heutige Vorsitzende des „Berliner Netzwerks behinderter Frauen“ vor die Kommission und berichtete von ihrer Situation. „Dass die uns zuhören mussten – das fand ich ganz unglaublich.“

Das Engagement von Andrea Schatz und all den anderen hatte Folgen. Seit dem 15. November 1994 verkündet die deutsche Verfassung nicht nur, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, sondern auch: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Aber: Beide Postulate stoßen in der Realität an Grenzen. Niemand weiß das besser als die rund vier Millionen Menschen in Deutschland, die beides sind: weiblich und behindert. Denn sie sind doppelt betroffen: als Behinderte – und als Frauen.
 
Kein Wunder also, dass auf den EMMA-Leserinnen-Aufruf „Total normal“ massenhaft Zuschriften in der Redaktion ankamen. „Meine Bitte an euch ist aufzuzeigen, wie Frauen mit Behinderung nicht nur im üblichen Sinne diskriminiert, sondern als weibliche Menschen nicht einmal gesehen werden. Sie haben kein Gewicht. Das wirkt sowohl in der eigenen Familie als auch im Beruf, von Liebesbeziehungen ganz zu schweigen“, weiß Elke Faulkner, 61, die im Alter von sieben Jahren an Kinderlähmung erkrankte. Was das hinkende Mädchen im von Nazi-Nachwehen geprägten Nachkriegsdeutschland erlebte, „tat weh“. Und die Heranwachsende musste feststellen: „Wir sind von den herrschenden Schönheitsnormen noch härter betroffen als andere Frauen.“

„‚Total normal’ ist es, dass Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung die gleichen Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle, Pläne haben wie andere ohne Behinderung auch“, schreibt die „AG Freizeit für Behinderte und Nichtbehinderte Marburg“. „‚Total normal’ ist es leider auch, dass sie als Mädchen und Frauen weniger ernst genommen werden, weniger gestärkt und ermutigt werden, das zu tun, was sie möchten.“

„Als Baby bekam ich Polio, und ich habe heute eine Steh- und Gehbehinderung. Die Lebensbedingungen einschließlich der Erziehung meiner Eltern waren bei mir positiv, so dass ich ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln konnte. Trotzdem musste ich erfahren, dass behinderte Frauen in der Gesellschaft das Schlusslicht sind“, berichtet Christa Fritsch. „Wir brauchen ein fast grenzenloses Durchhaltevermögen.“

In der Tat. Stichwort Arbeit: Frauen mit Behinderung sind das Schlusslicht auf dem Arbeitsmarkt. Jeder vierte behinderte Mann ist erwerbstätig, aber nur jede sechste behinderte Frau.

„Obwohl behinderte Frauen im Bereich der schulischen Ausbildung ebenso qualifiziert sind beziehungsweise eher schneller und besser als behinderte Männer abschneiden, werden sie im beruflichen Bereich eher ausgemustert“, stellt der Frauengesundheitsbericht der Bundesregierung fest.

„Stichwort Geld: Jede dritte erwerbstätige Frau mit Behinderung hat ein Monatseinkommen unter 1.125 Euro (aber nur jeder sechste behinderte Mann). Stichwort Gewalt: Studien zeigen, dass zwei Drittel aller behinderten Frauen, die in einer Einrichtung leben, Opfer sexueller Gewalt werden. Und Stichwort Schönheitsterror: „Ich heiße Olivia und bin 13 Jahre alt. Ich besuche eine Schule für Körperbehinderte, weil ich eine seltene Krankheit habe: das Bardet-Biedel-Syndrom. Dazu gehört unter anderem, dass ich nur 30 Prozent Sehkraft habe, und eine Stoffwechselstörung lässt mich von Geburt an übermäßig zunehmen. Vielleicht könnt ihr euch ja vorstellen, was man sich alles anhören muss als übergewichtige Dreizehnjährige in einer Welt der Knochengerüste und Barbie-Kopien?“

„Behinderte Frauen auf dem Weg in eine selbstbestimmte Zukunft“ heißt deshalb die Tagung, auf der behinderte Frauen aus ganz Deutschland über ihre Erfolge, Wünsche und Forderungen debattieren. Zum Beispiel über das fehlende Recht auf Pflege und Assistenz durch weibliches Personal, das behinderten Frauen, die sich den Körper nicht von einem männlichen Zivildienstleistenden oder Pfleger waschen lassen möchten, nicht gesetzlich gewährt wird. Oder über die Frage, warum der sexuelle Missbrauch „widerstandsunfähiger Personen“ immer noch kein „Verbrechen“, sondern „nur“ ein „Vergehen“ ist.

Die Frauen sind hier auf Einladung des „Weibernetzes“, dem Bundesnetzwerk behinderter Frauen, das sich die „politische Interessenvertretung behinderter Frauen“ auf die Fahnen geschrieben hat.

Genau genommen fängt die Diskriminierung schon bei der Statistik an: Die amtliche Behindertenstatistik meldet rund 3,5 Millionen behinderte Männer, aber nur drei Millionen behinderte Frauen. Die Statistik erfasst allerdings nur Menschen mit Schwerbehindertenausweis. Weil dieser Ausweis vor allem (ehemals) Erwerbstätigen Vorteile bringt, beantragen ihn behinderte Frauen oft gar nicht erst. Die Folge laut Frauengesundheitsbericht: „Frauen sind in der Behindertenstatistik insgesamt unterrepräsentiert. Das betrifft vor allem Hausfrauen und Frauen mit Kindern.“

Zwei Drittel der Frauen, die die Statistik dennoch erfasst, haben eine „schwere körperliche Behinderung“. Jede zehnte ist geistig behindert und jede weitere zehnte hat eine „Sinnesbehinderung“, ist also zum Beispiel gehörlos oder blind. Hinzu kommen die „psychischen Behinderungen“ – vor allem bei Frauen.

Die Statistik enthält auch eine besonders frappierende Zahl. Eine Zahl, die diejenigen, für die behinderte Menschen „die anderen“ sind, eines Besseren belehren könnte: Nur jede zwanzigste dieser Behinderungen ist angeboren. In 95 Prozent aller Fälle haben Krankheit oder Unfall einen Menschen, der sich bis dato zu den „Normalen“ zählen konnte, im Laufe des Lebens plötzlich zum „Anderen“ gemacht. 36 Jahre alt sind Frauen im statistischen Durchschnitt, wenn die Behinderung „eintritt“: durch einen Autounfall oder einen übersehenen Felsen im Badesee, durch Arthrose oder Multiple Sklerose. Oder auch durch ein (sexuelles) Trauma.

Laut Sozialgesetzbuch sind Menschen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben beeinträchtigt ist.“ Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht dagegen vom „Zusammenspiel einer medizinisch diagnostizierbaren Schädigung des Organismus und gesellschaftlichen Sichtweisen und Normen“. Mit anderen Worten: Die Kriterien für „normal“ und „unnormal“ sind nicht absolut, sondern relativ – abhängig von den Normen der Gesellschaft.

„Die Menschen einteilen in Gesunde und Behinderte, Normale und Unnormale, Frauen und Männer, Befehlsempfänger und Befehlsgeber, Werte und Unwerte – das ist der unverzichtbare Kern allen Elitedenkens“, schrieb Alice Schwarzer 1981 in EMMA, dem Jahr, das die UNO als „Internationales Jahr der Behinderten“ ausrief. Und das der deutsche Bundespräsident Carl Carstens damals noch ungeniert gönnerhaft mit Worten wie diesen eröffnete: „Was Behinderte brauchen, ist Verständnis, Zuwendung, Freundschaft. Sie brauchen vor allem eine Lebensaufgabe, die ihnen das Gefühl gibt, nützlich zu sein.“ Bald darauf klagten die „Unnützen“ gesellschaftliche Ausgrenzung und Herablassung à la Carstens mit ihren provokanten „Krüppeltribunalen“ an. Sie forderten einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik: statt entmündigender Fürsorge respektvolle Unterstützung für ein maximal selbstbestimmtes Leben.

Die Zeiten ändern sich. 23 Jahre nach der Carstens-Rede ist ein behinderter Mann, der seit einem Attentat querschnittsgelähmte Rollstuhlfahrer Wolfgang Schäuble, als Kandidat für das Bundespräsidentenamt im Gespräch. Die Frage, ob er körperlich für das Amt geeignet ist, spielt in der Debatte keine Rolle (mehr). Aber weiterhin gilt: Behinderter Mann sticht Frau – ob mit oder ohne Behinderung.

Ein Vierteljahrhundert nach dem „Internationalen Jahr der Behinderten“ wurde nun 2003 zum „Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung“ ausgerufen, kurz: EJMB. Motto: „Nichts über uns ohne uns!“ In allen EU-Staaten fanden Hunderte von Aktionen statt, gekrönt durch einen Behinderten-Marsch durch Europa. Über vier Millionen Euro stellten EU, Bund und der Ausgleichsfonds – der von Betrieben gefüllte Topf, die ihre „Behindertenquote“ nicht erfüllen – allein in Deutschland für Projekte zur Verfügung.

Diesmal klangen die Reden schon anders. EU-Sozialkommissarin Anna Diamantopoulou sprach in ihrer Eröffnungsansprache in Magdeburg nicht mehr von barmherziger „Zuwendung“, sondern vom „Recht behinderter Menschen, in der Gesellschaft eine uneingeschränkte und aktive Rolle zu spielen“. Denn: „Menschen mit Behinderungen wollen kein Almosen, keine Barmherzigkeit, kein Mitleid. Sie wollen, was wir alle wollen: Die Chance zur Selbstverwirklichung, ein erfülltes Leben.“

So sehen das auch die EMMA-Leserinnen. Zum Beispiel Ulla Funke-Verhasselt: „Ich möchte auf keinen Fall Artikel über Mitleid und Tränenheischerei lesen, kein Gesülze oder Gejammere. Ich finde, dass wir Behinderte kein Mitleid brauchen, sondern Akzeptanz. Aber nicht als was Besonderes, sondern als normale Menschen mit einem Handicap.“ Oder Elfie Riemer: „Als ich euren Appell gelesen habe, war mein erster Gedanke: Bitte kein Gejammer darüber, wie schlecht es den armen Krüppeln geht! Ich möchte positive Geschichten lesen, die Mut machen, die aufbauen und zeigen, dass fantastische Dinge möglich sind. Fantastisch ist für mich zum Beispiel, dass ich seit einem Jahr Motorrad fahre. Okay, das tun viele Frauen, aber mir fehlt seit meiner Geburt der linke Unterarm, und ich habe den Traum vom Motorradfahren fast 40 Jahre mit mir herumgetragen, bis ich ihn mir endlich erfüllen konnte!“

Einen Traum erfüllte sich auch Catherine Bader-Bille, der der rechte Unterarm fehlt. Obwohl sie schon als Kind ein Leichtathletik-As war und bei Jugend-Wettbewerben in der Disziplin Weitsprung stets auf dem Siegertreppchen stand, wurde die heute 37-jährige Leipzigerin nicht zur „Spartakiade“, den DDR-Meisterschaften, zugelassen. Auch eine Ausbildung an der Kinder- und Jugend-Sportschule war wg. Behinderung verboten. Dann kamen 1989 die Wiedervereinigung und 1992 die ersten „Paralympics“ – die Weltmeisterschaften für SportlerInnen mit Behinderung. Bei den letzten Paralympics 2000 in Sydney holte Catherine Bader-Bille sie endlich: die Goldmedaille im Weitsprung.

Esther Weber-Kranz, Deutsche Meisterin, Europa- und Weltmeisterin im Florettfechten hat ebenfalls paralympisches Gold erfochten. Vor 20 Jahren hatte die passionierte Sportlerin einen Autounfall. Seitdem ist sie rechtsseitig gelähmt. Ihre Siege erfocht sie mit links. Fürs Fechten hatte sie sich entschieden, „weil es integrativ ist: Behinderte und Nichtbehinderte sind zusammen in einem Verein. Das war mir sehr wichtig.“ Auch Dressurreiterin und Weltmeisterin Bianca Vogel, die ihren Wallach Roquefort ohne Arme lenkt, startete bis 1991 ausschließlich – und erfolgreich – bei Turnieren für nichtbehinderte ReiterInnen. „Ich bin selbstbewusst erzogen worden und weiß mit meiner Situation umzugehen“, sagt die 42-jährige Erzieherin aus Sinzig. „Die Beschränkung meiner Person auf eine Behinderung lasse ich nicht zu.“

Frauen mit Behinderung sind vor allem Frauen. Daher hatte die Deklaration für das „Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung“, die 2002 in Madrid verabschiedet wurde, noch vorgesehen, dass die „besondere Diskriminierung behinderter Frauen mit geeigneten Fördermaßnahmen abgebaut werden“ sollten. In den deutschen Richtlinien zur Vergabe von Fördergeldern tauchte das Wort „Frau“ allerdings nicht mehr auf. Folge: Von den 630 deutschen Anträgen auf Förderung eines Projektes wurden ganze zehn von Frauenprojekten gestellt. Unter den 170 Anträgen, die positiv beschieden, also finanziell gefördert wurden, waren sieben Aktionen von und für behinderte Frauen, eine davon war die Tagung des „Weibernetzes“. „Bezeichnend dafür, dass in der Behindertenpolitik die Frauenfrage immer noch nicht mitgedacht wird“, klagt „Weibernetz“-Sprecherin Martina Puschke.

Dieses Problem hatten behinderte Frauen schon anno 1981 auf den Tisch gebracht – beim „Krüppeltribunal“. Zum ersten Mal meldeten sich weibliche behinderte Menschen öffentlich zu Wort. Gisela Hermes erinnert sich noch gut, wie sie damals die Bühne in Dortmund-Scharnhorst stürmten und ihre doppelte Betroffenheit demonstrierten. „Eine Gruppe Frauen hat sich dort geschminkt und dabei Tipps aus der einschlägigen Literatur zitiert.“ Diese Tipps klangen ungefähr so: „Auch behinderte Frauen können ihren leicht dümmlichen Gesichtsausdruck mit Schminke kaschieren.“ Aber die Anklägerinnen nahmen auch die männlichen Weggefährten ins Visier. „Natürlich hatten auch bei unseren Versammlungen die Männer die Tagesordnungen bestimmt und die Redebeiträge geliefert“, erinnert sich Hermes, die heute das „Bildungs- und Forschungsinstitut zum Selbstbestimmten Leben“ (bifos) leitet. „Und jetzt konnten sie sich ganz schlecht mit unserem Vorwurf abfinden, dass sie auch Machos waren.“

„Ich bin damals gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich in der Emanzipationsbewegung was zu suchen hätte“, erzählt Rosi Probst. In ihrer Kindheit in den 50er Jahren auf dem bayerischen Land war dem Mädchen im Rollstuhl, das an einer „spinalen Muskelathrophie“ litt, die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht gründlich ausgetrieben worden. „Du findest sowieso nie einen Mann“, hatte die Mutter prophezeit und als Alternative vorgeschlagen: „Du kannst ja deinem Bruder den Haushalt führen.“ Folge: „Ich hab mich immer nur als Behinderte gefühlt – nie als Frau.“ Rosi war 43, als die Münchner Volkshochschule zum ersten Mal einen Gesprächskreis für behinderte Frauen anbot. „Da war ich von der ersten Stunde an drinnen und sah: Anderen geht es ja genauso!“

Heute ist Rosi Probst im Vorstand des „Weibernetzes“, hat in Bayern ein Landesnetzwerk gegründet und weiß: „Behinderte Männer sind oft besondere Machos. Die haben Schwierigkeiten, ihre Rolle als Mann zu finden – so wie wir Schwierigkeiten haben, unsere Rolle als Frau zu finden.“

Nach der Initialzündung auf dem „Krüppeltribunal“ gründeten sich in ganz Deutschland „Krüppelfrauengruppen“, die zunächst als Selbsthilfegruppen konzipiert waren, aber im Laufe der Jahre immer stärker an die Öffentlichkeit drängten. 1983, zwei Jahre nach dem Dortmunder Tribunal, erschien die erste wissenschaftliche Studie über „Lebensbedingungen behinderter Frauen“ und wiederum zwei Jahre später brachte Gisela Hermes das wegweisende Buch heraus, das nicht nur Viktoria Przytulla schlaflose Nächte bescherte: „Geschlecht: behindert – Besonderes Merkmal: Frau“.

Anfang der 90er Jahre begannen die Frauen schließlich, auch politisch Einfluss zu nehmen. 1992 gründeten sie in Hessen das erste Landesnetzwerk behinderter Frauen. Bald folgten weitere. 1996 gab es die erste Europäische Konferenz behinderter Frauen in München. Dort schlossen sich die deutschen Teilnehmerinnen zu ihrem Bundesnetzwerk zusammen – dem „Weibernetz“.

Seither verschaffen sich die „Weiber“ nicht nur im Deutschen Behindertenrat Gehör, wo sie mit Sitz und Stimme vertreten sind. Auch bei Anhörungen im Bundestag und anderen politischen Gremien treten behinderte Frauen mittlerweile als eigenständige Interessengruppe auf. Mit Erfolg.

So ist das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), das im Mai 2002 in Kraft trat, weltweit das erste mit einem „Frauenfördergrundsatz“. Die Lobbyistinnen waren auch zur Stelle, als das Sozialgesetzbuch IX, kurz: SGB IX, geschrieben wurde. Das Gesetz regelt staatliche Leistungen der Rehabilitation.

Martina Puschke ist voll des Lobes: „Es gab Runde Tische zum Thema sexuelle Gewalt, Behinderte Frauen und Beruf oder Mütter und Rehabilitation.“ Mit Folgen: So können Ärzte seit Juli 2001 behinderten Patientinnen zur Prävention sexueller Gewalt Selbstbehauptungskurse verschreiben. Mütter bekommen während der Reha eine Haushalts- und Kinderhilfe zur Seite gestellt. Und Frauen, die wegen einer Behinderung ihren Beruf nicht mehr ausüben können, haben das Recht auf eine Umschulung, die erstens wohnortnah, zweitens in Teilzeit und drittens mit Kinderbetreuung stattfinden kann.

Denn noch sind Frauen in den Umschulungen „erschreckend“ in der Minderheit. Das liegt nicht nur daran, dass die Berufsförderungswerke oft 200 Kilometer von Wohnort und Familie entfernt liegen, sondern auch am nicht eben verlockenden Angebot: „Die Berufsförderungswerke bieten für Frauen nur Berufe im Bereich Büro und Reinigung an“, klagt Viktoria Przytulla. Folge: Die KOBRA-Beraterin hat in ihren Sprechstunden massenhaft „Frauen, die todunglücklich sind“.

„Auch für Mädchen werden fast nur Ausbildungen im Bereich Büro und Hauswirtschaft angeboten“, klagt Gisela Hermes, die in einer bifos-Studie festgestellt hat: Der Anteil der Mädchen in den Berufsbildungswerken liegt bei nur 30 Prozent. „Und wir fragen uns: Wo stecken die anderen Mädchen?“

Sie machen zum Beispiel die „MiMMi“: das „Mitmach-Mädchenmagazin-Mittendrin“. Und im Oktober 1998 versammelten sich 180 Mädchen zum ersten Mal zur Mädchenkonferenz in Würzburg, Motto: „Jung und mittendrin – Behinderte Mädchen erobern sich die Welt!“ Drei Tage lang machten junge Frauen mit Down-Syndrom oder Muskel-Atrophie, gehörlos oder gehbehindert, in Workshops Körperarbeit und Kosmetik und debattierten über „Spaß am Sex“ oder die Frage: „Wie erziehe ich meine Eltern richtig?“ Konferiert wurde mit „so viel Power“, dass der „Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte“ seither alle zwei Jahre zur Mädchenkonferenz trommelt. Im Oktober 2004 werden wieder 250 junge behinderte Frauen in Potsdam erwartet.

Sollten sie dort mit einer behinderten Barbie spielen wollen, werden sie sich wohl noch etwas gedulden müssen – oder sie in den USA bestellen: Dort ruhen die ellenlangen Beine der Blonden, die in diesem Fall „Becky“ heißt, im Rollstuhl – seit den Paralympics 2000 sogar im sportlichen Rennrollstuhl. Es ist sicher kein Zufall, dass die Firma Mattel die Puppe mit Handicap im Land des „American with Disabilities Act“ herausbrachte. Dort müssen seit 1990 nicht nur staatliche, sondern auch Privatunternehmen wie Telefongesellschaften oder Imbissketten gewährleisten, dass KundInnen mit Behinderung ihre Dienste in Anspruch nehmen können. Über das deutsche Pendant des Acts, das Antidiskriminierungsgesetz, wird zur Zeit von Behindertenverbänden und Justizministerium heftig verhandelt.

Und so rollt Becky bisher nur durch die USA, und auch ihre gehörlose Gefährtin, deren Plastikhände „I love you“ in Gebärdensprache formen, gibt es hier noch nicht.
A propos Gebärdensprache. Kürzlich erstritten gehörlose Frauen eine neue Gebärde für den Begriff „Frau“: Wer von einem weiblichen Wesen spricht, zupft sich am Ohr, um einen Ohrring anzudeuten. Bis dato formten man und frau eine Brust – was sonst? Es hagelte Protest: Schließlich sei die Gebärde für „Mann“ ja auch kein Griff in den Schritt. In der Tat: Bei „Mann“ greift die Hand zum Kopf und deutet eine Hutkrempe an. Der ganz normale Sexismus in der (Gebärden)Sprache.

Frauen mit Behinderung sind eben nicht „die anderen“, sagt Martina Puschke. „Frauen mit Behinderung sind vor allem Frauen.“ Spricht’s und eilt, wie es ihre dynamische Art ist, mit wehendem Jackett den Gang des Gustav-Stresemann-Instituts hinunter. Schließlich will sie pünktlich zur Disco kommen.

 

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