Orlando: Queer-Community sieht weg

Omar Mateen war ein aggressiver Soziopath und der gedemütigte Sohn eines gewalttätigen Vaters, Saddique (re). - Fotos: Imago
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Seit dem Massaker von Orlando am 12. Juni 2016 ist ein Jahr vergangen, die Erinnerung an den Mord an 49 Menschen, die in einer Gay-Bar feierten, verblasst. Der Attentäter von Orlando hatte sich auf die Scharia berufen und – weil es in den USA schwierig ist, Schwule von Hochhäusern zu stürzen (wie in islamischen Ländern üblich) – dazu berechtigt geglaubt, ein Massaker anzurichten.

Das Verblassen der Erinnerung an die Opfer im Club Pulse, die in einer langen Reihe von Opfern von Homohass und Homophobie stehen, hat auch psychologische Gründe – wer möchte sich schon derart bedroht fühlen? Was aber eine verständliche und notwendige Abwehrreaktion ist, wird in der Queer-Community zum fehlenden Protest gegen die Zumutung islamistischer Todesdrohung. Stattdessen wird diese Abwehrreaktion zur Verleugnung radikalisiert: Das hat nichts mit dem Islam zu tun, der Täter ist ein Einzeltäter, der eigentliche Feind steht rechts und so weiter.

Ganz in diesem Sinn postete auf Facebook jemand zu meiner Veranstaltungsankündigung „Nach Orlando: Die queer community übt die Unterwerfung“: „Was ist das für 1 shice? Sorry. Aber die Opfer sind tot. Der Täter ist tot. Wem nützt dieses islambashing da noch? Ist das eine von der AfD gesponserte Veranstaltung? Hört sich alles sehr krude und dumm an.“

In den direkten Reaktionen auf den Massenmord wurden drei unterschiedliche Interpretationen deutlich: Eine war die der Betroffenen und der BürgerInnen von Orlando, die sehr genau begriffen haben, dass es sich bei diesem Attentat um einen „Angriff auf uns alle“ gehandelt hat. Die zweite sah von den konkreten Opfern ab und vermied es, wie Kanzlerin Merkel beispielsweise, von den Opfern – Schwulen, Lesben und Transsexuellen – zu sprechen. Die dritte Variante betonte, dass es sich nicht nur um „LGBTQ“ gehandelt habe, sondern darüber hinaus um „LatinX“.

Das Pulse wurde von letzteren einerseits als Safe-Space einer Minderheit in der Minderheit dargestellt, in dem Rassismus, Sexismus und Islamophobie keinen Platz gehabt hätten, um dann andererseits zu behaupten, dass gerade queere People of Color im Gedenken an die ­Opfer ausgegrenzt würden. So klagte zum Beispiel die Missy-Autorin Hengameh Yaghoobifarah im Blog des Magazins: „Es blieb zunächst unsichtbar, dass es sich bei den Betroffenen nicht etwa um schwule, weiße Cis-Männer, sondern fast ausschließlich um Schwarze und latinx Queers und Transpersonen handelt.“

Eine solche Rassifizierung der Opfer ist an sich schon widerlich genug. Auch unter den Opfern des 14. Juli in Nizza waren übrigens sehr viele Muslime, französische Staatsbürger maghrebinischer Herkunft. Sie wurden in den Zeitungen als Individuen gewürdigt, nicht als Angehörige irgendeines Kollektivs. Denn es war ja klar, dass sie zu Tode kamen, weil sie sich am 14. Juli auf dem Boulevard des Anglais aufhielten, um den Jahrestag der französischen Revolution zu feiern. Die meisten der Anwesenden haben das Feuerwerk sehen und mit ihren Familien einen schönen Abend verbringen wollen – und genau diese republikanische Lebens­freude war das Ziel des Attentäters.

Dass am Abend des Attentats von ­Orlando eine Latin Night stattgefunden hat, also eine Themenparty, dürfte dem Attentäter herzlich egal gewesen sein. Es waren übrigens auch die Mitglieder eines Frauenfußballclubs da. Die Mehrheit der Ermordeten aber waren in der Tat schwule Männer hispanischer Herkunft, über die Hälfte von ihnen stammte aus Puerto Rico.

Doch ist das in Florida, zumal in ­Orlando, kein Alleinstellungsmerkmal, denn mehr als ein Viertel der Bevölkerung ist hispanischer Herkunft. Es zählt allein das Kriterium der spanischen Sprache und der Herkunft. Eine Form der rassifizierten Identität, wie sie die Afro­amerikaner teilweise für sich in Anspruch nehmen und auf die sie nicht selten reduziert werden, existiert dort nicht.

Nach der Tat gab es rasch Spekulationen über Mateens sexuelle Orientierung. Es wurde behauptet, dass er schwule Dating-Apps heruntergeladen hätte; und seine Exfrau sagte, sie habe schon immer geahnt, dass er seine Homosexualität verleugnet habe. Das stellte sich später als Falschmeldung heraus, aber dennoch bleibt das Gerücht. Schwuler Selbsthass würde das Massaker von Orlando zu einer Angelegenheit der Community machen, vielleicht noch einer Gesellschaft, in der nach wie vor Diskriminierung existiert; merkwürdigerweise aber nicht zu einem Problem von Mateens Familie, die sakrosankt zu sein scheint. Warum? Weil es sich um eine muslimische Familie handelt.

Wer ist Omar Mateen? Er wird schon als Kind und Jugendlicher als eine wenig sympathische Persönlichkeit mit ausgeprägten aggressiven und soziopathischen Zügen beschrieben. Er musste mehrmals die Schulen wechseln, geriet immer wieder mit Mitschülern und Lehrern in Konflikt, etwa, als er sich nach dem 11. September 2001 als Neffe Osama bin Ladens ausgab, bzw. als er seine Mitschüler mit der Nachahmung der abstürzenden Flugzeuge provozierte.

Ein ehemaliger Lehrer berichtete, dass alle pädagogischen Bemühungen fehlschlugen, weil Omars Vater Saddique Mateen sich immer hinter seinen Sohn gestellt habe. Der Vater fiel auch durch Gewalt gegen seinen Sohn auf. Saddique Mateen war in den 1980er Jahren aus Afghanistan gekommen und galt damals als „gemäßigter Muslim“, das allerdings zu einer Zeit, als die USA die Taliban noch gegen die Russen unterstützten.

Seinem Sohn Omar ist es offenbar nicht gelungen, sich aus den traditionellen Fesseln der paschtunischen Stammeskultur zu befreien. Omars Versuche, auszugehen und mit Mitstudenten Kontakte zu knüpfen, könnten als zögerliche Schritte verstanden werden, doch auch ein wenig vom amerikanischen Traum abzubekommen. Seine eigene Gewalt­tätigkeit verhinderte allerdings sogar, dass er als staatlicher Gefängnisaufseher arbeiten konnte.

Zu dieser Gewalttätigkeit gehört bei Omar Mateen wie bei seinem Vater die Folgenlosigkeit der Tat. Während der ­Vater sich als Patriarch gerierte, dessen Handlungen auf seiner uneingeschränkten innerfamiliären Macht beruhten, ­gelang es dem Sohn nicht, ein eigenes Leben aufzubauen. Mehrere Versuche, eine Familie zu gründen, schlugen fehl. Seine erste Frau trennte sich von ihm ­wegen seiner Gewalttätigkeit.

Seit 2007 arbeitete Mateen bei einer Sicherheitsfirma. Das psychologische Gutachten, das ihn für diese Tätigkeit qualifizierte, stammte von einem Freund der Familie. Ein weiteres Gutachten einer Psychologin war schlicht gefälscht. Unter Kollegen war Mateen verhasst, nicht nur, weil er ständig homophobe, rassistische und sexistische Kommentare vom Stapel ließ, sondern auch, weil all dies folgenlos für ihn war. Obwohl es zahlreiche Beschwerden gegeben hat, wurde er nur einmal versetzt. Er redete sich stets damit heraus, selbst gereizt oder diskriminiert worden zu sein, als Muslim.

2013 und 2014 wurde sogar das FBI auf ihn aufmerksam, weil seine Bekenntnisse zu dschihadistischen Gruppen und entsprechende Kontakte in deren Umfeld kaum noch zu übersehen waren. Aber auch hier gelang es Mateen, alles durch eine Umkehrung des Vorwurfs zurückzuweisen – mit der Folge, dass das FBI ihn von der Watchlist nahm, um nicht als „islamophob“ zu gelten.

Mateen ist es mehrmals gelungen, sich vom Täter in ein Opfer zu verwandeln. Er nutzte die herrschende gesellschaftliche Stimmung, für die das Gefühl, beleidigt worden zu sein, schwerer wiegt als der Verdacht, terroristische Aktivitäten zu planen. Diese Taktik hatte er von seinem Vater gelernt. Schon Lehrern und Mitschülern war aufgefallen, dass Vater und Sohn nach eigenen Regeln lebten und amerikanische Umgangsformen für sich nicht gelten ließen. Kritische Bemerkungen, Gespräche oder gar die zeitweise Suspendierung von der Schule änderten daran nichts, sie waren im Gegenteil nur Bestätigungen dafür, dass die muslimische Kultur in Amerika nicht anerkannt wird.

Bei Omar Mateen muss es schon früh einen Moment gegeben haben, an dem er sich mit der islamistischen Gewalt identifizierte. Und je folgenloser die wiederholten öffentlichen Bekenntnisse waren, desto stärker dürfte er sich nicht ernst genommen gefühlt haben.

Dass sich Mateen das Pulse ausgesucht hat, hatte aus meiner Sicht mehr zu tun mit seiner Ablehnung der westlichen Gesellschaft als mit verleugneter Homosexualität. Das Pulse ist für ihn ein Ausdruck der Dekadenz und der Sittenlosigkeit des Westens gewesen, ebenso verführerisch wie bedrohlich.

In geschlechtergetrennten Gesellschaften wie der afghanischen ist der Lebensweg vorgezeichnet. Es ist möglich, als Schwuler zu leben, solange man bereit ist, zu heiraten und Kinder zu zeugen. Entscheidend ist, nicht aufzufallen und die Ehre der Familie zu bewahren. Sollte Mateen sich im Ansatz über sein gleichgeschlechtliches Begehren bewusst gewesen sein, so konnte er es im Rahmen seiner vom Vater übernommenen Tradition nicht als Frage der sexuellen Orientierung betrachten, sondern als Bedrohung für die Familie. Omars Vater antwortete nach dem Attentat auf die Frage, ob er es für möglich halte, dass sein Sohn schwul gewesen sei: „Wenn er schwul war, warum sollte er so etwas tun?“ Dem gegenüber stehen Berichte von Mateens Exfrau, die behauptete, der Vater habe den Sohn als „schwul“ beschimpft.

Bei nicht wenigen islamistischen Massenmördern wird eine schwankende sexu­elle Orientierung angenommen. ­Mohamed Bouhlel, der in Nizza 84 Menschen tötete, soll bisexuell gewesen sein; er soll mit einem wesentlich älteren Mann liiert gewesen sein. Er hatte ebenfalls eine Geschichte der Gewalt hinter sich. Auch Salah Abdeslam, der mutmaßliche Organisator der Anschläge vom November 2015 in Paris, soll sich in Brüssel in Schwulenbars aufgehalten ­haben. Freunden galt er als Frauenheld, der jede Nacht eine andere hatte; in der Brüsseler Schwulenszene galt er als Stricher. Ebenso wurde Mohammed Atta und einigen seiner Komplizen des 11. September 2001 zumindest latente Homosexualität unterstellt.

Doch was ist damit gemeint? In islamischen Gesellschaften ist nicht das Geschlecht des Objekts das entscheidende Merkmal sexueller Einteilung, sondern die Rolle, die im Akt eingenommen wird: ob man Penetrierender oder Pene­trierter ist. Erstere sind Männer, letztere Nichtmänner. „Nichtmänner“ sind, neben Frauen und Mädchen, auch Knaben, Transvestiten, ‚effeminierte‘ Männer und – bedingt – Nichtmuslime.

Omar Mateen, von dem berichtet wird, dass er angeekelt gewesen sei, als er zwei sich küssende Männer sah, hatte offenbar sein Leben lang gegen die drohende gesellschaftliche Kastration gekämpft, die den Afghanen zu einem durchschnittlichen US-Bürger gemacht hätte. Dass er in Wirklichkeit schon längst vom eigenen Vater kastriert worden war – wie viele islamistische Attentäter vor ihm –, konnte und wollte er nicht erkennen.

Das Elend der Kulturen, wie es sich in der Biografie Omar Mateens widerspiegelt, sollte eigentlich Anlass sein zu hinterfragen, wie es möglich ist, dass in Gesellschaften wie der US-amerikanischen oder den europäischen solche Verhältnisse überhaupt existieren können. Und weshalb sie in den Rang kultureller Errungenschaften erhoben und damit jeglicher Kritik enthoben werden. Schließlich sind die homosexuellenfeindliche Propaganda und die Mordtaten im Irak, im Iran und in Syrien hinlänglich bekannt.

Doch erkennt die Queer-Community die ihr drohende Gefahr? Keineswegs. „Heute sind es die Muslime mit ihren Moscheen und morgen sind es Schwule, Lesben, Bi-, Trans- und Intermenschen“, begründete wenige Wochen vor Orlando das Frankfurter CSD-Bündnis die Änderung seines Mottos von „Lieb geil“ zu „Liebe gegen Rechts“. Und der Freiburger CSD lud einige Tage nach Orlando zu einer Mahnwache ein. Man wollte mahnen – aber wovor? „Wir sind, wie viele Menschen rund um die Welt, zutiefst bestürzt und schockiert über diesen Angriff, der sich explizit gegen die LSBTTIQ*-Community gerichtet hat.“, schrieben die Freiburger. „Ein Angriff, der nun von einigen Politiker*innen instrumentalisiert wird, um den Hass gegen alle Muslime* und Musliminnen* zu schüren. Islamistischer Terror darf nicht mit dem Islam gleichgesetzt werden.“

Tatsächlich findet sich in keiner mir bekannten Stellungnahme im Zusammenhang mit Orlando ein Bezug auf die Attentate in Paris oder Brüssel bzw. auch ein Hinweis auf die tödliche Verfolgung von Schwulen in den islamischen Staaten.

Einerseits versuchen VertreterInnen muslimischer Organisationen, das Attentat zu einem Angriff nicht auf einen kommerziellen Gayclub, sondern zu einem Massaker an so genannten „LatinX“ umzudeuten. Andererseits versuchen dieselben Kräfte, die Queer-Community zu einem Bündnis gegen Rechts zu funktionalisieren, indem sie auf eine Gemeinsamkeit von „Islamophobie und Homophobie“ verweisen.

So auch die New Yorker Gewerkschafterin und Trotzkistin Eman Abdelhadi, die an der New York University über Gender im amerikanischen Islam ihre Doktorarbeit schreibt. Wenige Tage nach den Toten in Orlando ging Abdelhadi zur Mahnwache vor dem Stonewall Inn am 14. Juni, jenem Ort, an dem die neuere Emanzipationsbewegung der Homo- und Transsexuellen ihren Ausgang nahm. „Als ich ankam, fand ich mich einem Meer von gutgekleideten Homos der oberen Mittelklasse wieder – zumeist Cis-Männer, die Sorte, die Werbung der Human Rights Campaign in den Müll wirft und ‚love wins‘ proklamiert“, schreibt sie. „Ich fühlte mich plötzlich so sichtbar in meiner muslimness, so nackt in meiner identifizierbaren arabness. Ich war mir meines großen arabischen Tattoos bewusst, meiner Augen, meiner Haut, meines Haars.“

Aber die Araberin traf auch auf Freunde: „Ein Grüppchen von vier Leuten trug ein Plakat, auf dem stand: ‚Nein zu Homophobie, Nein zu Islamophobie‘. Ich war erleichtert, sie zu sehen. Abgesehen davon aber war es eine deutlich weißere, wohlhabendere Menge als auf den Demos, in denen Leute wie ich ihre Erfahrungen gesammelt haben – von Antikriegsdemos zu ‚Free Palestine‘ zu ‚Occupy‘ zu ‚BlackLivesMatter‘.“

Abdelhadi berichtete weiter, dass „die weißen Mittelklasse-Homos“ nicht auf Rassismus und soziale Ungerechtigkeit hingewiesen hätten, sondern nur den führenden Politikern New Yorks und der New Yorker Polizei zujubeln wollten, die ihnen versprachen, dass nicht weggeschaut würde, wenn Homo- und Transsexuelle angegriffen würden, und sie auf den Schutz des Staates vertrauen könnten.

Den Attentäter Mateen bezeichnet Abdelhadi als einen „durchgeknallten, waffenbesessenen Homophoben“. Die Autorin, die ansonsten sehr genau weiß, wer in welche Schublade gehört, verschwieg Mateens Identität als Muslim und machte ihn zum Einzeltäter.

In den Tagen nach Orlando wurden diverse ideologische Abwehrmechanismen deutlich, mit denen das Offensichtliche geleugnet werden sollte: Dass es sich nämlich um ein Verbrechen aus Hass auf eine Gesellschaft handelt, die es ihren Bürgerinnen und Bürgern erlaubt, ein eigenes Leben zu führen. Diese Abwehrmechanismen heißen: Leugnung der ideologischen Motivation; Bagatellisierung der Differenz zwischen einer religiösen oder ideologischen Überzeugung; sowie Glorifizierung von Identität als unveräußerlichem individuellem Anspruch auf ein Zwangskollektiv, sei es nun muslimisch oder gay.

Als nach den Morden von Orlando die New York Times Artikel veröffentlichte, in denen es um vieles ging, nur nicht um die islamistische Ideologie des Attentäters, konstatierte der konservative schwule Publizist James Kirchick wütend: „Die Verwechslung der Prioritäten ist atemberaubend. Wenn nur die LGBT-Leute so viel Bissigkeit für al-Baghdadi aufbringen könnten, wie sie es für Kim Davis getan haben, jene Standesbeamtin in Kentucky, die sich weigerte, Heiratsurkunden für gleichgeschlechtliche Paare auszustellen.“

Die Glorifizierung von Identitäten ist ein weiterer ideologischer Abwehrmechanismus der Queer-Community. Problematisch ist am Begriff der Identität ja schon, dass immer etwas identisch sein muss; in diesem Fall das Individuum mit den Erwartungen, die an es qua Herkunft oder sexueller Orientierung gestellt werden.

Die Unterwerfung, die ich meine, geht im Sinne von Michel Houellebecq still vonstatten, sie braucht keine aufgeregten Bekenntnisse, keine vordergründige Identifikation mit dem Angreifer. Es sind die „Warnungen vor dem Rechtspopulismus“, die kein Wort über Todesstrafen, über Ehrenmorde und über Verfolgungen verlieren dürfen, um nur nicht in den Geruch des „Rassismus“ zu kommen. Sicher, es gibt einen Rassismus gegen Muslime, der diese schlicht als minderwertig erachtet, aber ist der tatsächlich hegemonial, wie man auf Neudeutsch sagt? Ist nicht vielmehr die Anpassung an den Diskurs bestimmend, in dem das Individuum aus seiner Gemeinschaft nicht austreten kann und darf – und ist nicht gerade das kultursensible Umgehen mit muslimischen Ehrenmördern das Symptom unserer Zeit?

Nur wenige Wochen nach Orlando wurde Carolin Emcke, einer offen lesbischen Journalistin, der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Am 17. Juni veröffentlichte Emcke in der Süddeutschen Zeitung eine Kolumne, die die Gefühlslage vieler auf den Punkt brachte. Sie schrieb: „Es fühlt sich an, als wäre einem die Haut vom Leib gezogen worden. Mit einem einzigen Riss. Von den Fußsohlen bis zum Schädel. So als gäbe es keine Schutzschicht mehr. Als läge alles bloß und wund. Ausgeliefert dem, was da noch kommen möge. Dieser Schmerz über die eigene Schutzlosigkeit ist vielleicht das Bitterste neben der Trauer, die seit dem Massaker von Orlando eingezogen ist und die nicht mehr verschwinden will. Wenn es etwas gibt, das Menschen, die anders aussehen, anders lieben oder anders begehren als die normgebende Mehrheit, wenn Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle oder queere Menschen etwas miteinander gemein haben, dann die Erfahrung der Verwundbarkeit.“

Diese treffende Beschreibung der negativen Gemeinsamkeit hätte genügt. Aber Emcke konnte sich dem Zwang der demonstrativen „Anti-Islamophobie“ nicht entziehen: „Das Motiv des Massenmörders ist eindeutig: Hass auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle – und alles, was als anderes markiert wird. Ob sich dieser Hass noch in der dschihadistischen Ideologie des IS seine Legitimation zur Gewalt suchte oder ob der Hass sich selbst genug war – das spielt primär für diejenigen eine Rolle, die dieses Verbrechen instrumentalisieren wollen für ihre politischen Ziele. Es ist ein so vertrautes wie geschmackloses Spektakel, wie Homosexuelle vor allem dann wahrgenommen und als Menschen mit Rechten verteidigt werden, wenn sie sich als Spielfiguren in der feindseligen Kampagne gegen Muslime einsetzen lassen.“

Letzteres ist schlicht eine Lüge. Vor allem aber ist es ein Tort gegen alle, die sich für LGBT-Flüchtlinge aus islamischen Staaten einsetzen. In Emckes Friedenspreis-Rede folgt dann konsequenterweise die Gleichsetzung von Queeren und Muslimen unter dem Regenbogen der Kulturen. Als hätte sie die Opfer von Orlando, die hingerichteten Schwulen im Iran und im Herrschaftsgebiet des Islamischen Staates niemals auch nur wahrgenommen, rekurrierte Emcke in ihrer Rede auf gleichwertige Identitäten und Kulturen: „Manchmal scheint mir das bei der Beschäftigung der Islamfeinde mit dem Kopftuch ganz ähnlich. Als bedeutete ihnen das Kopftuch mehr als denen, die es tatsächlich selbstbestimmt und selbstverständlich tragen. So wird ein Kreis geformt, in den werden wir eingeschlossen, wir, die wir etwas anders lieben oder etwas anders aussehen, dem gehören wir an, ganz gleich, in oder zwischen welchen Kreisen wir uns sonst bewegen.“

Was Emcke mit den Kreisen beschreiben will, mit den Ein- und Ausschlüssen, das ist die direkte Folge des Denkens in Communitys und Identitäten, die untereinander aushandeln, was richtig und was falsch ist; einen universellen Maßstab dafür gibt es nicht mehr. Nicht der Einzelne soll nach seiner Fasson glücklich werden, sondern jede Community nach ihrer Fasson. Dieses Prinzip, anzuerkennen, dass ­alles verhandelbar sei, ist schon der erste Schritt zur Unterwerfung.

Wer, wie die frei lebende und liebende Emcke, großzügig das Kopftuch als selbstbestimmt und selbstbewusst gewähren will, impliziert damit, dass die Frauen mit Burka oder Niqab da bleiben sollen, wo sie sind. In Großbritannien und Frankreich funktioniert der Rückzug des Rechtsstaates schon ganz gut, viele islamische Communitys organisieren sich nach eigenen Gesetzen. Da können sich die Mittelklasse-­Angehörigen beruhigt zurücklehnen – sie brauchen jene Anderen, die ihnen ihre ­eigene Normalität vor Augen führen.

Denn wenn diese Anderen als kulturell Andere daherkommen, erübrigt sich ein schlechtes Gewissen. Das Elend der Anderen ist ja Teil ihrer Kultur. Der anderen Kultur.

 

Tjark Kunstreich war lange in Berlin als Sozialarbeiter tätig und in der Aids-Arbeit engagiert. Er ist heute Psychoanalytiker in Wien.

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Dieser Text ist ein gekürzter Beitrag aus: Beißreflexe - Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten (Querverlag, 16,90€)

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Debattenkultur in der Szene

Patsy l'amour laLove, Herausgeberin des Buches "Beißreflexe". - Foto: Aidshilfe
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Das Buch „Beißreflexe“ war kaum auf dem Markt, da brach der Sturm los. Die Herausgeberin Patsy l’Amour laLove sollte „verprügelt“, ihre Bücher sollten „verbrannt“ werden, twitterten Menschen anonym, die sich „Em“, „Uludag-Lucky“ oder schlicht „L.“ nennen.

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Was hatte Patsy sich zuschulden kommen lassen? In dem Buch hat die Berliner Genderforscherin und „Polittunte“ Auf­sätze linker, feministischer, schwuler und queer-trans Autorinnen und Autoren zum Thema Queerfeminismus versammelt. Sie nehmen den reaktionären Kern einer pseudofortschrittlichen Ideologie auseinander. Eine harsche Reaktion der Vertreterinnen dieser Denkrichtung war also zu erwarten. 

Aber die Gewaltdrohungen schockieren dann doch. So schrieb „Em“: „Du redest von #Beißreflexen. Mein einziger ­Reflex ist der Griff zum Basi.“ Darunter postete sie das Foto von acht Frauen mit rosafarbenen Sturmmasken, die Baseballschläger in der Hand halten. Und „L.“ drohte: „Diese ganze Stalino-Marx- freundliche, Islam- und Queerfeindliche Bubble sind genau die Leute, gegen die im Ernstfall nur Waffengewalt hilft.“ Eine Marburger Unigruppe musste gar eine Lesung mit dem Beißreflexe-Autor Till Randolf Amelung absagen, weil der Veranstalter Drohungen erhalten hatte.

Diese so genannten Queerfeministinnen erregen sich über Indianerkostüme bei Nicht-Indianern oder Dreadlocks bei Nicht-Jamaikanern oder darüber, wenn Nicht-Araber bzw. Nicht-Japaner Falafel oder Sushi verkaufen. Das alles nennen sie „rassistisch“. Und sie diffamieren seit Jahren Islamismus-KritikerInnen wie die EMMA-Redaktion oder die Femen als „RassistInnen“. Besonders erbarmungslos gehen sie allerdings gegen die Mitglieder ihrer eigenen Szene vor.

Auch davon wissen die Autorinnen und Autoren der „Beißreflexe“ Geschichten zu erzählen. Heute können sie noch etliche hinzufügen. Aber sie können auch von der Erleichterung darüber berichten, dass es endlich jemand wagt, das Terror-Tabu zu brechen. Patsy: „Wo ich referiere, kommen Leute auf mich zu, bedanken sich und schildern eigene Erlebnisse.“

Tjark Kunstreich, der in dem Buch über die Reaktionen in der Queer-Szene auf das islamistische Attentat in dem schwul-lesbischen Club in Orlando schreibt, erlebt ähnliches. Nach Vorträgen erzählten ihm Einzelne, natürlich vertraulich, „dass sie es in ihren queeren Blasen nicht mehr aushalten. Da habe ich das Gefühl, ich hab’ es mit Sektenaus­steigern zu tun.“

„Es ist ein Kollektiv, das durch Angst zusammengehalten wird“, erläutert Koschka Linkerhand, ebenfalls Autorin des Buches. Die 31-Jährige hat eigene leidvolle Erfahrungen gemacht, als sie von Leipzig nach Hamburg zog. „In Leipzig lasen wir Simone de Beauvoir und Roswitha Scholz.“ Als sie in Hamburg ein Seminar mit der marxistisch-feministischen Theoretikerin Scholz zum Thema Antiziganismus vorschlug, erlebte Linkerhand ihren ersten Shitstorm. „Ihr sitzt auf euren weißen Ärschen, während Roma-­Frauen angegriffen werden“, wetterte eine Nadezda aus Berlin.

Was war passiert? Linkerhand hatte ein Unwort benutzt. Zwar verwendet auch der „Zentralrat der Sinti und Roma“ den Begriff Antiziganismus für die Diskriminierung von Roma und Sinti. Aber in der queerfeministischen Szene findet man, dass in „zigan“ immer noch zu viel ­„Zigeuner“ steckt. Rassismus!

Linkerhands Argumente für ihre Wortwahl wollte niemand hören. Nach der Schimpftirade distanzierten sich auf dem E-Mail-Verteiler reihenweise Frauen von ihr und entschuldigten sich bei Nadezda, dass sie so eine in ihren Kreisen hatten. „Danach wurde ich auf Partys geschnitten“, erzählt die Feministin. „Eine Bekannte wollte nicht einmal mit mir in denselben Zug steigen, als wir zu einem feministischen Camp fuhren.“

Es ist ein typisches Muster. Jemand verwendet ein als falsch deklariertes Wort oder stellt eine für falsch befundene Frage – und wird prompt zur Persona non grata. Für Uneingeweihte ist die Szene ein ­Minenfeld.

 

Besonders hart trifft es manche StudentInnen, die sich an der Berliner Humboldt-Universität für den Studiengang Gender Studies einschreiben. Sabrina Weidner hat dort vor einem halben Jahr ihren Abschluss gemacht. Heute arbei­tet sie für die feministische Bibliothek in Leipzig.

Schon in der ersten Vorlesung brüllte eine Tutorin Sabrina an. Es ging um einen Text des Philosophen Roland Barthes, in dem das Wort „Neger“ vorkam. (Ein Begriff, der früher selbstverständlich war, auch für die Schwarzen selbst, und erst ab den 1970er Jahren problematisiert wurde.) Es sollte darüber diskutiert werden, ob der Professor diesen Text den StudentInnen einfach so vorlegen könne, mit diesem bösen Wort darin. Sabrina meldete sich und sagte, dass man das Wort „Neger“ in einer kritischen Analyse benennen können müsse. „Da hat die Tutorin mich niedergebrüllt, an dieser Stelle würde sie nicht weiterreden.“

Aber was wollte die Dozentin hören? „Uns wurde gesagt, dass wir solche Texte nicht lesen müssen und Professoren kritisieren können, die das erwarten.“

Die Atmosphäre in dem Stu­diengang beschreibt Sabrina als Spießrutenlauf. „Es gibt die Unbedarften. Die wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. Die fragen dann mal, was denn N-Wort überhaupt bedeutet, und dann werden sie von den Queer-Studentinnen fertig gemacht.“

Die Feministin nennt die Gruppe, die dort herrscht, nur die „Queers“. „Weil das nichts mehr mit Feminismus zu tun hat.“ Mit homo- oder transsexueller Identität, also dem, was ursprünglich mal queer ­bedeutete, hat es aber auch nicht unbedingt etwas zu tun, wie Beißreflexe-Autorin Linkerhand erklärt: „Du kannst dich jetzt demisexuell nennen.“ Als demisexuell gilt, wer nur sexuelle Kontakte mit Menschen will, zu denen er oder sie auch eine emotionale Beziehung hat.

Sabrina Weidner hat nach ihrem ersten Horrorsemester in Berlin das Vorlesungsverzeichnis akribisch durchsucht nach Veranstaltungen, in denen sie etwas lernen könnte. Sie wählte eine Veranstaltung des Erziehungswissenschaftlers ­Malte Brinkmann und erlebte eine „Klatsch­intervention“ (über die hatten Mitte 2015 auch die Medien berichtet). „Es war die letzte Stunde vor den Klausuren. Darauf wollte er uns vorbereiten.“ Aber es kam anders. Eine Gruppe setzte sich in den Seminarraum und klatschte fortwährend. Warum? Zuvor hatte Brinkmann offene Briefe erhalten, die ihn aufforderten, Kant von der Leseliste zu nehmen.

Auch Koschka Linkerhand hat so manche „Intervention“ erlebt. Seit mehreren Jahren hält sie Vorträge über feministische Theorie außerhalb der Uni. „Die ­haben solche „Häh-“Karten. Wenn ihnen was nicht passt, halten alle eine Karte auf der „Häh?“ steht hoch.“ Vorträge über Prostitution hat sie komplett aus ihrem Angebot gestrichen. „Das geht einfach nicht. Da bist du sofort swerf, egal, was Du sagst.“

Swerf? „Sexworker exclusionary radical feminist“, erklärt Linkerhand. (Zu Deutsch: radikale Feministin, die Sex­arbeiterinnen ausschließt.) „Solche Wörter kann man gut twittern“, erklärt sie. Die Kommunikation über Twitter ist Teil des Problems. Ein Tweet hat nur 140 Zeichen. Argumente kann man da nicht ausführen. Aber die Vorwürfe sind in der Welt – jeder kann sie lesen.

Diese Angriffe entmutigen viele junge Frauen. Koschka Linkerhand ist nach Leipzig zurückgegangen. Sie sagt: „Feminismus heißt für mich, als Frau den Mut zum eigenen Denken zu haben. Diesen Mut hatten sie mir in Hamburg genommen.“ Heute ist sie wieder voller Energie: „Die vielen Kämpfe von Frauen weltweit, ob in den USA, in Mexiko oder in islamischen Ländern, das macht mir Mut.“

Auch die kritische Diskussion, die „Beißreflexe“ angestoßen hat, ermutigt viele. Patsy l’Amour laLove berichtet: „Nach meinen Vorträgen sagen mir viele, dass sie durch das Buch erst wieder motiviert wurden, sich politisch zu engagieren.“

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"Beißreflexe", hrsg. von Patsy l'Amour laLove (Querverlag 16,90)

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