Von der Erinnerung überwältigt

Ⓒ laif
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Seit Mai dieses Jahres hat Maria Böttche auffallend viele E-Mails von Menschen in ihrem Postfach, die eigentlich so gar nicht zu den typischen Internet-Usern gehören. Die elektronische Post kommt von Frauen um die 70. Auch das, was diese Frauen Maria Böttche schreiben, ist normalerweise nicht Gegenstand des üblichen Informations- austausches per Computer. Sie schildern der Psychologin ihre Erlebnisse bei Kriegsende: Flucht, Vertreibung, Bombenalarm. Und einige von ihnen schreiben über ein Ereignis, das sich auf besondere Weise in ihre Erinnerung und ihren Körper eingeschrieben hat: Vergewaltigung. Ihre eigene oder die ihrer Mutter, Schwester, Tante, Freundin, Nachbarin.

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"Lebenstagebuch" heißt das Projekt, das das Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer (bzfo) in Kooperation mit der Uni Greifswald im Frühjahr dieses Jahres ins Leben gerufen hat. Frauen und Männer ab 65, also solche, die das Kriegsende als Kind, Jugendliche oder Erwachsene erlebt haben, können hier etwas tun, das ihnen oft ihr ganzes Leben lang unmöglich war: über das Grauen erzählen, das sie so früh geprägt und nie verlassen hat.

Eigentlich arbeitet das Zentrum für Folteropfer mit Menschen aus fernen Ländern, aus (Bürger)Kriegsgebieten oder Diktaturen. Dort sind Vergewaltigungen als Kriegswaffe oder zur Erpressung von Aussagen an der Tagesordnung. "Viele unserer Patientinnen und auch Patienten wurden vergewaltigt", sagt Pressesprecherin Britta Jenkins.

Dass auch deutsche Frauen im Krieg massenhaft durch Sexualgewalt traumatisiert wurden, wird erst jetzt zum Thema. "Es ist eigentlich erst in den letzten zehn Jahren möglich, dass sich das ‚Tätervolk‘ mit dem beschäftigen darf, was der eigenen Bevölkerung passiert ist."

Für diese Beschäftigung ist es höchste Zeit. Denn die Betroffenen sind inzwischen alt, viele schon gestorben. Hospize melden, dass so manche ihrer Patientinnen noch auf dem Sterbebett das furchtbarste Erlebnis ihres Lebens erzählen, über das sie bis dahin nie gesprochen hatten. Bei vielen aber bricht früher, oft mit dem Ruhestand, dem Tod des Ehemannes oder dem Einzug ins Pflegeheim, der Panzer auf. "Gerade wenn die Ablenkung wegfällt, werden viele Menschen von ihren Erinnerungen überwältigt", weiß Jenkins. "Und sie merken, dass da noch etwas unerledigt ist."

Und so bittet Psychologin Böttche ihre zurzeit 35 Teilnehmer- Innen, deren Zahl in den kommenden drei Jahren noch auf 100 anwachsen soll, ihr zunächst ihre Lebensstationen zu schildern, bevor sie sich dann in zwei Texten an das eigentliche Erlebnis wagen. Und an die Frage, wie es sich später in ihrem Leben ausgewirkt hat. "Die Frauen berichten zum Beispiel, dass sie lange ‚keinen Mann wollten‘ oder schließlich nur geheiratet haben, weil sie sich Kinder wünschten." Und auch die Auswirkungen, die das lebenslange Schweigen für die Familie hatte, sind Thema: "Die Kinder konnten nie verstehen, warum ich mit Papa so umgegangen bin."

Am Ende der sechswöchigen "Internet-Therapie" schreiben die Teilnehmerinnen schließlich einen Brief an das Kind oder die junge Frau, die sie damals waren. "Damit geben sie sich selbst den Trost und die Hilfe, die ihnen früher versagt geblieben ist", erklärt die Psychologin. Es gehe darum, "dass sie das Erlebte nicht länger abspalten, sondern als Teil ihrer Geschichte annehmen können".

Die Idee zu diesem in Deutschland einzigartigen Projekt brachte die Projektleiterin Christine Knaevelsrud aus Holland mit. Dort ist die Internet-Therapie mittlerweile eine verbreitete Methode und hat sich für Menschen mit "Posttraumatischer Belastungsstörung" bewährt. Auch für alte Menschen. Denn: "Nur ein Prozent derjenigen, die eine Therapie von Angesicht zu Angesicht machen, sind über 60", erklärt Maria Böttche. Gerade Älteren, die mit viel Skepsis gegenüber dem Gang zum Psychologen, dafür aber mit der Kultur des Briefeschreibens aufgewachsen sind, komme darum das Konzept "Lebenstagebuch" entgegen.

Auch Martina Böhmer wird bald in ihrem Beratungszimmer bei "Wildwasser" in Bielefeld die Geschichten alter Frauen zu hören bekommen. Denn auch die feministischen Frauenberatungsstellen entdecken, dass sie seit ihrer Gründung in den 70er und 80er Jahren eine Klientel vernachlässigt haben: diejenigen, deren sexueller Missbrauch in Kriegszeiten geschehen ist, und die besonders gute Gründe hatten, das Trauma so tief wie möglich zu vergraben. Jetzt aber klopfen diese Frauen an die Türen der Töchtergeneration, die vor 30 Jahren das Thema der sexuellen Gewalt so entschlossen ans Licht zerrte.

"Immer mehr Frauenberatungsstellen bitten um Beratung", berichtet Böhmer. Warum haben die alten Frauen so lange verdrängt? Warum reagiert eine alte Frau verstört, wenn man sie als "traumatisiert" bezeichnet? In welcher Sprache kann ich stattdessen mit ihr reden?

"Wildwasser" zog Konsequenzen und schuf, finanziert von der "Aktion Mensch", eine halbe Stelle für "Einzelberatung und Gruppenangebot für Frauen ab 60". Dass sie diese Stelle mit Martina Böhmer besetzten, ist kein Zufall. Die gelernte Altenpflegerin hatte in ihren 25 Jahren Berufserfahrung oft erleben müssen, wie "randalierende" Heimbewohnerinnen mit Psychopharmaka ruhiggestellt wurden, weil sie sich gegen Waschungen im Intimbereich gewehrt hatten oder weil sie in Panik geraten waren, als ihnen der Pfleger mit den Worten "Jetzt machen Sie mal die Beine breit" einen Katheter einsetzen wollte.

Eine Krankenhaus-Patientin halluzinierte plötzlich von wilden Tieren, die über ihr Bett und die Wände hochkrochen. Es stellte sich heraus, dass ihre neue Bettnachbarin Besuch von ihrem amerikanischen Ehemann bekam und die beiden englisch miteinander sprachen. Der Mann und seine Sprache hatten ein altes Trauma aufbrechen lassen: Sie war nach Kriegsende von amerikanischen Soldaten vergewaltigt worden.

In ihrem schon 2000 erschienenen Buch "Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte alter Frauen" plädierte Martina Böhmer dringlich dafür, das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Altersheimen zu schulen. Die Nachfrage hielt sich in Grenzen. Erst im Februar 2008 stieß sie bei einem Vortrag auf offene Ohren einer berührten Seniorenheim-Leiterin. Jetzt arbeitet Altenpflegerin Böhmer mit der Heimleiterin daran, die Einrichtung im ostwestfälischen Schieder-Schwalenberg in ein Heim mit "traumasensiblem Pflegekonzept" zu verwandeln. Es dürfte das erste in Deutschland sein.

"Das Bewusstsein, welche Themen über Jahrzehnte verschüttet wurden, beginnt jetzt erst", weiß auch Insa Fooken. "Es hat schon lange gedauert, bis über die sogenannten Besatzerkinder gesprochen und geforscht werden konnte. Aber die Vergewalti- gungen waren sicher das größte Tabu – nicht zuletzt deshalb, weil man dann auch darüber hätte reden müssen, was die deutschen Männer getan haben", weiß die Psychologie-Profes- sorin von der Universität Siegen, die auch Sprecherin des ForscherInnen-Netzwerks Weltkrieg2Kindheiten ist. Rund 30 WissenschaftlerInnen, viele von ihnen selbst "Kriegskinder", haben sich im Jahr 2002 zusammengeschlossen, um sich verstärkt der Frage zu widmen, wie sich Entwurzelung durch Vertreibung, Bombennächte oder gefallene Väter auf das Leben der heutigen Mittsechziger auswirken. Aber die Vergewaltigungen der Frauen waren auch hier kein Thema. Fooken bedauert, dass "der Aspekt der sexuellen Gewalt sowohl für die betroffenen Frauen als auch im Hinblick auf transgene- rationale Weitergaben in der Forschung bisher viel zu wenig thematisiert wurde".

Dabei ist aus der Holocaustforschung längst bekannt, dass auch und gerade Unausgesprochenes von der nächsten Generation übernommen wird. Was haben die sexuell traumatisierten Mütter an ihre Töchter vermittelt? Welche psychosomatischen Folgen zeigen sich bei den Frauen im Alter?

Eine, die die skandalöse wissenschaftliche Leerstelle füllen möchte, ist Ariane Raichle. Die Pädagogin an der Uni Dortmund möchte in Interviews mit kriegsvergewaltigten Frauen heraus- finden, "welche Faktoren ihnen dabei geholfen haben, die Erlebnisse zu bewältigen". Und: "Welchen Stellenwert hat das Erlebnis für die Frauen heute?" Die Forscherin am Lehrstuhl Rehabilitationspsychologie geht davon aus, dass "die Vergewaltigungen von damals heute für die Frauen noch eine große Rolle spielen. Das muss ihnen nicht unbedingt bewusst sein, sondern kann sich in psychischen Problemen oder Krankheiten ausdrücken".

Dass die speziellen Kriegstraumata der alten Frauen langsam ein Thema werden, dafür sorgen nicht zuletzt die Frauen selbst, deren lang verdrängte Ängste sich nur noch schwer ignorieren lassen. "Im Alter lassen die Kontrollfunktionen nach", sagt Insa Fooken. "Dann kann der Deckel nicht mehr draufgehalten werden."

Das kann Maria Böttche vom Projekt "Lebenstagebuch" bestätigen. "Einige Teilnehmerinnen haben ihre Texte ihren Kindern zu lesen gegeben und damit endlich das Schweigen in der Familie gebrochen", erzählt die Psychologin. Und so manche wünscht sich, dass ihre Berichte veröffentlicht werden. Denn: "Wir wollen daran erinnern, dass es uns Frauen gab."

www.lebenstagebuch.de
www.wildwasser-bielefeld.de
www.martinaboehmer.de
www.weltkrieg2kindheiten.de

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