"Schließt die Bordelle!"
Der Brief, der am 18. Mai allen 16 deutschen MinisterpräsidentInnen ins Haus flatterte, hat es in sich. Man könnte ihn sogar als historisch bezeichnen. Denn in dem dreiseitigen Schreiben fordern 16 Bundestagsabgeordnete von Union und SPD die LandeschefInnen nicht nur auf, die wegen Corona geschlossenen Bordelle, Terminwohnungen und Straßenstriche aus epidemiologischen Gründen noch nicht wieder zu öffnen. Sie gehen mit ihrem Appell einen Schritt weiter, und zwar einen großen: Die Abgeordneten plädieren dafür, die Bordelle nach Ende der CoronaKrise überhaupt nicht mehr zu öffnen. Nie wieder.
Denn: „Wir halten die Zustände in der Prostitution für die dort Tätigen in der großen Mehrzahl der Fälle für menschenunwürdig, zerstörerisch und frauenfeindlich.“ Und die PolitikerInnen fahren fort: „Entgegen einem weit verbreiteten Klischee sind die meisten Prostituierten (vor allem osteuropäische und afrikanische Frauen) keinesfalls freiwillig in der Prostitution, sondern wurden und werden getäuscht, erpresst und bedroht.“ Vielleicht, schreiben die Abgeordneten höflich, sei den Lan des chefInnen ja „das Ausmaß an sexuellen Übergriffen, an massiven physischen und psychischen Verletzungen durch täglich vielfache, erzwungene Penetration nicht bekannt“. Wie Freier ihr „vermeintlich erkauftes Recht auch gegen erkennbaren Widerwillen und Ekel durchsetzen“, sei jedoch zum Beispiel in Freierforen nachzulesen. Fazit: „Diesen Frauen hilft nicht die Wiedereröffnung der Bordelle, sondern ein Verbot des Sexkaufs und eine Tätigkeit/Ausbildung in einem existenzsichern den Beruf.“
Solche Töne hat man in der deutschen Politik bisher noch nicht gehört. Die 16 Abgeordneten fordern endlich auch für Deutschland, was viele andere Länder längst eingeführt haben: das sogenannte „Nordische Modell“. Das bedeutet: Strafen für Freier und Zuhälter, die den Markt für den Handel mit der Ware Frau erst schaffen. Vollständige Entkriminalisierung der Frauen in der Prostitution. Angebote an die Frauen für den Ausstieg.
UN-Konvention 1949: Prostitution ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde
Dieses Modell hatte Schweden im Rahmen eines Gesetzespaketes namens „Kvinnofrid“ (Frauenfrieden) schon 1999 eingeführt, bis heute sind Norwegen, Island, Frankreich, Irland und Israel gefolgt. Das Modell ist so erfolgreich, dass das EU-Parlament es schon 2014 allen EU-Ländern dringend zur Nach ahmung empfahl: „Die EU-Staaten sollen die Nachfrage nach Prostitution eindämmen, indem sie die Freier bestrafen und nicht die Prostituierten“, forderten die EU-Abgeordneten mit großer Mehrheit in einer Resolution. Und sie betonten, dass „nicht nur Zwangsprostitution, sondern auch freiwillige sexuelle Dienstleistungen gegen Bezahlung die Menschenrechte und die Würde des Menschen verletzen“.
Dass Prostitution ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist, hatten die Vereinten Nationen übrigens schon 1949 in ihrer „Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer“ konstatiert. Deshalb soll nach dem Willen der UN „jede Person bestraft werden“, die „eine andere zur Prostitution verleitet“, und zwar, Achtung: „selbst mit deren Einwilligung“. Bestraft werden soll außerdem, „wer ein Bordell unterhält oder an dessen Finanzierung beteiligt ist“. Die Vereinten Nationen hatten also schon vor über 70 Jahren das „Nordische Modell“ für wünschenswert erklärt – im Jahr 2020 folgt jetzt langsam auch Deutschland, das die Konvention 1949 nicht unterzeichnet hatte.
Einer der 16 UnterzeichnerInnen – acht Frauen und acht Männer – ist SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. „Prostitution trägt in Deutschland Züge einer modernen Form von Versklavung“, hatte Lauterbach schon im Herbst 2019 dem Kölner Stadtanzeiger erklärt. Der hatte in einer bemerkenswerten Serie die erschütternden Zustände im Kölner Rotlichtmilieu aufgedeckt (EMMA 6/19).
Ausbeutung, Elend und Gewalt sind in deutschen Bordellen Alltag
Es wird ernst für die Profiteure der Prostitution. So ernst, dass Gesundheitspolitiker Lauterbach nicht nur wegen seiner deutlichen Worte in Sachen Corona bedroht wurde, sondern auch wegen seiner klaren Positionierung gegen die Prostitution. Unbekannte schickten ihm eine Trauerkarte zu, in der auch seiner Familie Gewalt angedroht wurde, unterschrieben mit „INCEL Bewegung“. Incels nennen sich Männer, die unfreiwillig ohne Beziehung sind (involuntary celibates), Frauen und besonders Feministinnen dafür die Schuld geben und sich in InternetForen in ihrem Frauenhass bestärken. Auch der Attentäter von Halle war im Umfeld der „Incels“ unterwegs. Doch Lauterbach lässt sich nicht einschüchtern. „Für mich hat Prostitution keinen Platz in Deutschland“, erklärt er unerschrocken. Von der SPD auch dabei: Johannes Fechner, rechtspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, und Leni Breymaier, Gewerkschafterin und Mitgründerin des Ausstiegshilfe-Projekts Sisters.
Ebenfalls bei den UnterzeichnerInnen: Annette WidmannMauz, die Vorsitzende der CDUFrauenunion und Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, sowie ihre Parteikollegin Yvonne Magwas, die Vorsitzende „Gruppe der Frauen“ im Bundestag. Der 52-köpfigen Gruppe gehören alle weiblichen Abgeordneten der CDU/CSUFraktion an.
Noch 2016, während der Verhandlungen um das „Prostituiertenschutzgesetz“, hatte die SPD unter den Einflüsterungen der Pro-Prostitutionslobby in Berlin fast alles aus dem Gesetzentwurf wieder herausverhandelt, was Bordellbetreiber, Menschenhändler und Zuhälter bei ihren Geschäften ernsthaft hätte stören können. Inzwischen scheint es, als dringe die Propaganda von der „selbstbestimmten Sexarbeit“ nicht mehr unwidersprochen durch. Immer mehr PolitikerInnen, auch sozialdemokratische, begreifen, welches Ausmaß an Ausbeutung, Elend und Gewalt in deutschen Bordellen Alltag ist.
90 Prozent der Prostituierten kommen aus den Armenhäusern Europas
Zu offensichtlich ist, dass sich durch das „Prostituiertenschutzgesetz“, das im Juli 2016 in Kraft trat, quasi nichts geändert hat. Immer noch kommen 90 Prozent der Prostituierten aus den Armenhäusern Europas, immer noch zahlen sie Bordellbetreibern Wuchermieten von 180 Euro pro Tag, immer noch kann die Polizei Zuhälterei und Menschenhandel so gut wie nie nachweisen.
Einer der seltenen Fälle, in denen das gelang, war der Fall des Stuttgarter „Paradise“. Im Februar 2019 erging das Urteil gegen Bordellbetreiber Jürgen Rudloff. Der musste zugeben, dass sein vorgeblich so sauberes WellnessBordell nur funk tionieren konnte, weil er sich von brutalen Zuhältern kontinuierlich mit „Frischfleisch“ beliefern ließ. Im Februar 2019 wurde Rudloff, der bis dahin durch die Talkshows getingelt war, wegen „Beihilfe zum schweren Menschenhandel und zur Zuhälterei“ zu fünf Jahren Haft verurteilt. Spätestens da hätte der oder die letzte begreifen können, wie das System Prostitution funktioniert.
Dass viele „Sexarbeitende“ in „prekären Verhältnissen“ leben, hat nun auch der „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“ zugeben müssen. Der Lobbyverband, dessen Gesichter gut verdienende Dominas mit eigenen Studios sind, ist über den Appell der 16 Abgeordneten verständlicherweise not amused und trommelt allen Ernstes für die sofortige Wiedereröffnung der Bordelle. Die Feststellung, die Prostitution sei ein „Superspreader“, „diffamiere Sexarbeiter*innen“. Man habe schließlich ein „Hygienekonzept“ erarbeitet, in dem es u. a. heißt: „Während der Dienstleistung muss zwischen den Köpfen der beiden Personen ein Abstand von mindestens einer Unterarmlänge sein.“
Andere Länder sind vorausgegangen, Deutschland hinkt hinterher
„Corona hat das ganze Narrativ, das dem Prostituiertenschutzgesetz zugrunde liegt, ad absurdum geführt“, erklärt Elisabeth Winkelmeier-Becker, Parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium und bis vor kurzem rechtspolitische Sprecherin der CDU/CSUFraktion. Die ehemalige Richterin war es, die den Appell an die MinisterpräsidentInnen initiierte. „Deutschland gilt international als Bordell Europas“, schreiben die UnterzeichnerInnen. „Dabei ist das Nordische Modell doch inzwischen das moderne System“, erklärt Juristin Winkelmeier-Becker. „Andere Länder sind schon vorgegangen, Deutschland hinkt hinterher.“
Das sehen auch einige Abgeordnete in anderen Parteien so. Zum Beispiel Franziska Brantner, die, als sie noch für die Grünen im EUParlament saß, den „Brüsseler Appell“ der Europäischen Frauenlobby unterschrieb: „Für ein Europa ohne Prostitution!“ Doch noch scheinen Frauen wie sie bei den Grünen eine Minderheit zu sein.
Allerdings hat nun auch die grüne Abgeordnete Lisa Badum zusammen mit Leni Breymaier eine Stellungnahme veröffentlicht: „Corona – eine unfreiwillige Evaluation des Prostituiertenschutzgesetzes“. Dort schreiben die Grüne und die Sozialdemokratin: „Bordellbetreiber schicken ihre Security in Kurzarbeit, beantragen für sich Soforthilfen des Staates. Und die Frauen? Sind eben doch nicht angemeldet, haben keinen privaten Wohnraum, haben keine Krankenversicherung, sind doch nicht sozialversichert, doch nicht angestellt und doch nicht selbstständig.“ Fazit: „Wir sollten uns als Gesellschaft Gedanken machen, ob wir in Sachen Prostitution so weitermachen wollen.“
Ganz wie die Grünen schien bis vor kurzem auch die Linke geschlossene Pro-Prostitutions-Partei zu sein. Doch auch dort bröckelt es. „Wir betrachten Prostitution als Ausdruck patriarchalischer Gewalt und Herrschaftsverhältnisse, die wir überwinden wollen. Wir wollen in einer Welt ohne Prostitution leben!“ Das schreiben die „Linken für eine Welt ohne Prostitution“ in ihrem Aufruf. Den haben schon über 250 Mit glieder unterzeichnet. Darunter sind auch die drei Bundestagsabgeordneten Sylvia Gabelmann, Gökay Akbulut und Heike Hänsel. Und auch Heinz Bierbaum, Präsident der Europäischen Linken, fordert das „Sexkaufverbot nach schwedischem Beispiel“. Die antikapitalistische Partei wird sich überlegen müssen, ob sie ihre Verteidigung der hyperkapitalistischen „Sexindustrie“, in der sogar der Körper und die Sexualität als Ware vermarktet werden, wirklich weiter rechtfertigen möchte.
„Wir haben wegen Corona einen großen Baustein in diesem System lahmgelegt“, sagt Elisabeth Winkelmeier-Becker. „Es wäre absurd, wenn wir diese Chance nicht nutzen würden.“
Die UnterzeichnerInnen des Appells
Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU, Parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, Wahlkreis: Siegburg. Dr. Maria Flachsbarth, CDU, Parlamentarische Staatssekretärin im Entwicklungsministerium + Präsidentin des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB), Wahlkreis: Hannover; Annette Widmann-Mauz, CDU, Vorsitzende der CDU-Frauenunion und Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Wahlkreis: Tübingen. Yvonne Magwas, CDU, Vorsitzende der „Gruppe der Frauen“ , Wahlkreis: Vogtland. Dr. Katja Leikert, CDU, stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Wahlkreis: Hanau. Hermann Gröhe, CDU, Minister für Gesundheit a. D., Wahlkreis: Neuss. Leni Breymaier, SPD, erweiterter Fraktionsvorstand, Gründerin von „Sisters“, Wahlkreis: Aalen-Heidenheim. Prof. Dr. Karl Lauterbach, SPD, Wahlkreis: Köln Mülheim/Leverkusen. Johannes Fechner, SPD, rechtspolitischer Sprecher, Wahlkreis: Emmendingen-Lahr. Mechthild Heil, CDU, Vorsitzende der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschland (kfd), Wahlkreis: Ahrweiler. Frank Heinrich, CDU, Ausschuss für Menschenrechte, Wahlkreis: Chemnitz. Michael Brand, CDU, Ausschuss für Menschenrechte, Wahlkreis: Fulda. Antje Tillmann, CDU, finanzpolitische Sprecherin, Wahlkreis: Erfurt/ Weimar. Martin Patzelt, CDU, Wahlkreis: Frankfurt/ Oder. Marc Henrichmann, CDU, Wahlkreis: Coesfeld/ Steinfurt. Volker Ullrich, CSU, Wahlkreis: Augsburg.