Sie wagen den Widerstand

Shamsia (Mitte) geht weiter zur Schule - trotz der Bedrohung. - © Danfung Dennis
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Shamsia Husseini und ihre Schwester Atifa sind auf dem Weg zur Schule, als plötzlich zwei Männer auf einem Motorrad neben ihnen stoppen. "Geht ihr zur Schule?" fragt der auf dem Rücksitz – und noch bevor die Mädchen antworten können, reißt er Shamsia die Burka vom Leib und schüttet ihr ätzende Säure ins Gesicht.

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Das war im November 2008. Seither ist Shamsias linke Gesichtshälfte schwer entstellt und sie sieht schlecht, kann kaum lesen. Doch das kann sie nicht hindern, weiterhin Tag für Tag über die schlammigen Straßen zur örtlichen Mädchenschule zu gehen, an der Seite von Atifa. Ihre Eltern ermutigen sie. "Meine Eltern haben gesagt, ich soll weiter zur Schule gehen – selbst wenn Lebensgefahr droht", sagt die 17-jährige Shamsia nicht ohne Stolz. Ihre Mutter kann, wie die meisten Frauen in der Region, weder lesen noch schreiben. Und die Tochter hat verstanden: "Die Menschen, die mir das angetan haben, wollen nicht, dass Frauen lernen. Sie wollen, dass wir dumme Dinger bleiben."

Shamsia ist nicht die Einzige, die es getroffen hat. Insgesamt 15 Schülerinnen und Lehrerinnen sind auf dem Weg in die Mirwais-Schule attackiert und verunstaltet worden. Und das Wunder ist: Fast alle der 1.300 Schülerinnen gehen heute wieder zur Schule. Sie trotzen ihrer Angst – und den Taliban.

In den fünf Jahren, seit die Mirwais-Schule für Mädchen in Kandahar von der japanischen Regierung gebaut wurde, scheint so etwas wie eine soziale Revolution stattgefunden zu haben. Selbst als die Taliban ihre Schlinge immer enger um die Region Kandahar ziehen, strömen die Mädchen jeden Morgen zur Schule. Viele von ihnen laufen täglich über drei Kilometer von ihren Ziegelhäusern in den Bergen bis hinunter ins Tal. Wenn die Mädchen dann auf den von Mauern umgebenen Schulhof stürmen, werfen die meisten von ihnen ihre alles verhüllenden Gewänder ab, hüpfen und albern herum auf eine Art, die draußen, außerhalb des Schulgebäudes unvorstellbar ist, für Mädchen und Frauen jeden Alters.

In Mirwais gibt es keine Elektrizität, kein fließendes Wasser und keine befestigten Straßen. Frauen sieht man nur selten in der Öffentlichkeit, und wenn, sind sie in Burkas gehüllt, die ihre Körper formlos und ihre Gesichter unsichtbar machen. Und so war es besonders bedrohlich, als am 12. November vergangenen Jahres sechs Männer begannen, zu zweit auf Motorrädern rund um die Schule zu kreisen. Eines der Teams verwendete eine Spraydose, ein anderes eine Spritzpistole, das dritte einen Krug – gefüllt mit Säure. Sie verletzten insgesamt elf Mädchen und vier Lehrerinnen; sechs von ihnen mussten ins Krankenhaus. Shamsia traf es am schlimmsten.

Die Angriffe scheinen das Werk der Taliban zu sein, der fundamentalistischen Bewegung, die die Regierung und die amerikanisch-geführte Koalition bekämpfen. Die Verbannung von Mädchen aus der Schule war eines der ersten Akte der Taliban-Herrschaft, bevor sie im November 2001 entmachtet wurden. Neue Schulen zu bauen und sicherzustellen, dass Kinder – und vor allem Mädchen – sie besuchen, war darum eines der Hauptziele der neuen afghanischen Regierung und der Nationen, die zu Afghanistans Wiederaufbau beigetragen haben. Manche Schülerinnen der Mirwais-Schule sind um die zwanzig. Sie gehen zum ersten Mal in ihrem Leben zur Schule.

Gleichzeitig mit der Ausbreitung des Guerilla-Krieges in Süd- und Ostafghanistan machten die Taliban Schulen zu ihren besonderen Angriffszielen. Doch wer genau hinter den Säureattacken steckt, ist unbekannt. Die Taliban bestreiten, daran beteiligt zu sein. Die Polizei inhaftierte acht Männer und kurz danach veröffentlichte das Innenministerium ein Video, in dem zwei Männer die Tat gestanden. Einer behauptete, er sei von einem Polizisten bezahlt worden, der ihn im Namen des pakistanischen Geheimdienstes beauftragt hätte, das Säure-Attentat auszuführen. Auf einer nachfolgenden Pressekonferenz sagte Präsident Hamid Karzai jedoch, es gäbe keine Anzeichen für eine pakistanische Einmischung.

Eines jedoch ist sicher: In den Monaten vor dem Überfall waren die Taliban in das Gebiet um Mirwais und andere Außengebiete der Provinz Kandahar, ihrer ehemaligen Hochburg im Süden Afghanistans, vorgerückt. Und mit ihnen tauchten die Poster in den örtlichen Moscheen auf, mit dem Aufruf: "Lasst eure Töchter nicht zur Schule gehen!"

In den ersten Tagen nach dem Angriff stand die Mirwais-Schule für Mädchen leer, die Eltern wagten es nicht, ihre Töchter nach draußen zu lassen. Da schritt der Schulleiter, Mahmood Qadari, zur Tat. Nachdem er vier Tage in den leeren Klassenräumen gestanden hatte, berief er eine Versammlung der Eltern ein. Hunderte kamen – Väter und Mütter – und Qadari appellierte an sie, ihre Töchter wieder zur Schule zu schicken. Nach zwei Wochen kamen die ersten zögernd zurück.

Also erbat Mr. Qadari, dessen eigene drei Töchter im Ausland leben, die Unterstützung der örtlichen Regierung. Der Gouverneur versprach, mehr Polizisten patroullieren zu lassen, eine Fußgängerbrücke über eine verkehrsreiche nahe gelegene Straße zu bauen und einen Bus einzusetzen, der die Mädchen zur Schule bringen sollte. Qadari berief ein weiteres Treffen ein und sagte den Eltern, dass es nun keinen Grund mehr gäbe, ihre Töchter zu Hause zu halten. "Ich erzählte ihnen, wenn ihr eure Töchter nicht zur Schule schickt, gewinnt der Feind", erklärte der Schulleiter. "Ich bat sie, nicht der Dunkelheit zu erliegen. Bildung ist der Weg, unsere Gesellschaft zu verbessern."

Diese Worte erreichten die Eltern von Mirwais. Auch wenn weder der Bus, noch die Polizeistreifen, noch die Brücke in die Tat umgesetzt wurden, tauchten die Mädchen trotzdem wieder in der Schule auf. Nur wenige blieben ganz weg, darunter drei, die bei den Attentaten verletzt worden waren. "Ich will nicht, dass die Mädchen herumsitzen und ihr Leben wegwerfen", sagt Ghulman Sekhi, ein Onkel von Shamsia und deren Schwester Atifa, die auch verätzt wurde.

Trotz der Bedrohung vor ihren Mauern pulsiert in der Schule jetzt das volle Leben. Die 40 Klassenräume sind so voll, dass der Unterricht auch noch in vier Zelten im Hof, gespendet von Unicef, abgehalten wird. Jetzt lässt der afghanische Bildungsminister ein festes Gebäude bauen.

Kürzlich wurden in der Schule einige Prüfungen abgehalten. In einem Klassenraum, einer Geographieklasse, stellt eine Lehrerin Fragen, die Schülerinnen hören zu und schreiben ihre Antworten auf Papier. "Wie heißt die Hauptstadt von Brasilien?" fragt die Lehrerin Arja, während sie im Klassenraum auf und ab geht. Oder: "Wie viel mal ist Amerika größer als Afghanistan?"

An einem Pult in der vordersten Reihe sitzt Shamsia, das Mädchen mit dem verätzten Gesicht. Sie hält die hohle Hand über ihre Narbe. Aus Scham. Die Ärzte haben Shamsia, deren Name "Sonnenschein" bedeutet, gesagt, dass ihr Gesicht operiert werden muss, um die Narben verschwinden zu lassen. Ein ferner Traum: Shamsias Dorf hat noch nicht einmal Elektrizität, ihr Vater ist arbeitslos.

Nach der Unterrichtsstunde mischt sich Shamsia unter die anderen Mädchen, sie stehen herum, lachen und scherzen. Sie wirkt unbefangen, trotz ihres entstellten Gesichts, bis sie beginnt, von ihrem Leidensweg zu erzählen. "Die Leute, die das getan haben", sagt sie, "fühlen nicht den Schmerz von anderen."

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Afghanistan: Dramatischer Rückschritt

Maria von Welser im Gespräch mit Afghanistannen.
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Ihren schwarzen Schal mit den weißen Punkten hat sie lässig über ihr rötlich-gewelltes Haar geschlungen. Lailoma Ahmad sieht mich freundlich an. Wir stehen vor der Schranke der Polizeihauptwache in Kabul. Die 42-Jährige ist Kriminalkommissarin, eine von drei Frauen unter 230 männlichen Kollegen. Sie hat mir ein Interview zugesagt. Aber dazu wird es nicht kommen.

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Nervös geht sie zweimal rein und raus aus dem riesigen Gebäudekomplex. Für das Foto, um das wir inständig bitten, steht sie fast wie eine Diebin an der mit Stacheldraht bewehrten Mauer der Hauptwache. Es muss schnell gehen, sagt sie. Meine Fragen will sie später im Büro beantworten. Sie ist spürbar unter Druck. Jetzt dürfen wir hinein in die Polizeistation. Vorher noch: sechs Taschen- und Körperkontrollen. Zu oft sind in den letzten Monaten Bomben von Selbstmordattentätern vor und in den Behördenbauten explodiert. Innen drin laufen hunderte von Männern wie Wiesel durch die Gänge. Wir müssen zu Lailomas Boss. Aber – der ist nicht da. Dann zum Vize. Wir, drei Frauen: Lailoma die Kommissarin, ich die Reporterin und die afghanische Übersetzerin.

Ich erlebe, wie afghanische Männer Frauen behandeln:
Gar nicht.

Jetzt erlebe ich mal wieder ein Lehrstück, wie afghanische Männer Frauen behandeln. Nämlich gar nicht. Er, der Vize-Boss, sieht kaum auf. Geschweige denn, dass auch nur einer der vier Polizisten in seinem Büro sich erhebt. Wir sitzen wie vor einem Richter. Warten höflich. Die anwesenden Herren bekommen Tschai angeboten, Bonbons auf Tellern gereicht. Uns beachtet keiner.

Ich will Lailoma eine Frage stellen. „Später“, winkt die Übersetzerin leise ab. Aber ein später gibt es nicht. Der Vize schüttelt nach einer Stunde auf unsere erneute Bitte um ein Gespräch mit Lailoma ungnädig seinen Kopf und scheucht uns mit einer arroganten Handbewegung aus seinem Zimmer. Das war’s. Die Polizistin lächelt tapfer. Ich bin fassungslos ob einer solchen Behandlung. Im Gang ruft sie noch: „Ich rufe Sie an, dann beantworte ich alles!“ Der Anruf kommt nie.

Dabei ist Lailoma in einer privilegierten Position. Sie hat einen Job, sie lebt in Kabul. Sie kommt zurecht in der Männerwelt. Für die meisten anderen der elf Millionen Afghaninnen aber hat sich seit der Bombardierung ihres Landes durch die ­Alliierten im Jahre 2001 wenig verbessert. Millionen Frauen werden weiterhin geschlagen; Tausende wegen so genannter „Vergehen gegen die Sittlichkeit“ jahrelang eingesperrt; Hunderte von Fremden oder dem eigenen Mann ermordet. Der Westen scheint die Frauen längst aufgegeben zu haben. Dabei wollte die NATO 2001 angeblich vor allem den Frauen ihre Rechte „zurückbomben“, nach der frauenfeindlichen Herrschaft der Taliban. Die „Achse des Bösen“ vernichten, wie es der damalige US-Präsident George W. Bush formuliert hat. Aber das ist Geschichte.

Tatsache ist heute: Jeden Tag kommen Nato-Soldaten um, immer öfter werden sie in so genannten „Insider-Angriffen“ von Afghanen in Uniform getötet, die sie selber ausgebildet haben. Tatsache ist auch, dass jeden Tag irgendwo in dem 650000 Quadratkilometer großen Land eine Bombe explodiert, sich ein Selbstmordattentäter in die Luft jagt und Menschen sterben. Männer, Frauen, Kinder.

Präsident Karsai hat die Gewalt gegen Frauen legitimiert.

Zum Beispiel in diesem Herbst in Parwan, einer Provinz nahe Kabul. Eine 22-jährige Afghanin wird von einem Taliban erschossen, weil sie angeblich Ehebruch begangen haben soll. In einem Video auf YouTube ist zu sehen, wie ein Mann in weißer Kleidung der Frau neunmal in den Kopf feuert. Auch dann noch, als sie längst hingefallen ist und regungslos daliegt. Nach der Exekution schwenkt die Kamera auf die Hänge über dem Dorf: dort jubeln Dutzende von Männern und rufen „Lang leben die Mudschahidin“.

Das geschah fast zeitgleich mit der Konferenz über eine milliardenschwere Hilfeleistung für Afghanistan durch die internationale Gemeinschaft in Tokio. 56 Staaten wollen das Land auch nach dem Truppenabzug Ende 2013 mit 8,4 Milliarden Dollar weiter unterstützen. Auch Deutschland wird mit 430 Millionen Euro dabei sein. Allerdings gegen Bedingungen: Unter ande­rem sollen die Frauenrechte gewahrt werden, heißt es. Wieder einmal.

Dass der afghanische Präsident das wirklich umsetzen wird, das bezweifeln die meisten Frauen in dem Land am Hindukusch. Denn Karsai persönlich trägt Mitschuld an den Leiden der Frauen. Hat er doch noch in diesem Jahr Gewalt gegen Frauen offiziell legitimiert. So heißt es in der von ihm im Internet veröffentlichten Richtlinie wortwörtlich: „Der Mann ist ein fundamentales Wesen, die Frau ist ihm untergeordnet“. Und weiter: „Die Frau hat sich den Geboten der Scharia komplett zu unterwerfen.“

Fakt ist: Drei von vier Frauen werden zwangsverheiratet, meist sind sie noch keine 16 Jahre alt. Frauen sind eine Ware. Sie gehören Vätern, Brüdern, Ehemännern. Nur nicht sich selbst.

Männliche Ärzte dürfen Frauen nicht behandeln.

In keinem Land der Welt sterben mehr Kinder und Frauen bei der Geburt. Das liegt unter anderem daran, dass männliche Ärzte afghanische Frauen nicht behandeln dürfen; dass 80 Prozent aller Mütter ihre Kinder zuhause unter abenteuerlichen ­hygie­nischen Bedingungen bekommen. Oft im hintersten Stall, weit ab von der Familie, wie mir Adiba in einem Dorf erzählt. Jetzt endlich gibt es ein von UNICEF eingerichtetes medizinisches Frauenzentrum und Adiba motiviert mit ihren Freundinnen alle anderen Frauen im Dorf, dort Hilfe zu suchen.

Wie sie kämpfen inzwischen viele engagierte Frauen in Afghanistan gegen die hohe Sterblichkeitsrate von Müttern und Babys. Dafür hat im Herbst 2012 die afghanische Ärztin und Politikerin Sima Samar den Alternativen Nobelpreis erhalten: für ihren „Mut und ihre Entschlossenheit in einer der instabilsten Regionen der Welt“. Die 55-Jährige startete 1989 die Hilfsorganisation Shuhada, die in Afghanistan Arztpraxen, Krankenhäuser sowie Schulen betreibt. Sie war nach ihrer Rückkehr aus dem pakistanischen Exil von 2001 bis 2002 die erste Frauenministerin ihres Landes. Seither ­leitet sie die von ihr gegründete unabhängige Menschenrechtskommission in Kabul (AIHRC).

Die 28-jährige Maryam Durani ist ebenfalls solch eine starke Frau. Sie sieht mich mit großen dunklen Augen hinter der schwarzumrandeten Brille direkt an, drückt mir fest die Hand zur Begrüßung. Das ist in Afghanistan ungewöhnlich. Da blicken Frauen eher zu Boden und Männer über Frauen hinweg. Durani kämpft an zwei Fronten für die Rechte der afghanischen Frauen. Einmal mit dem von ihr gegründeten Radiosender und dann als Mitglied des Provinzrates in Kandahar. Ausgerechnet in Kandahar, wo täglich Tausende von Nato-Soldaten mit den Taliban kämpfen.

Empörung klingt in Maryams Stimme durch, wenn sie vom jüngsten Attentat in diesem Sommer auf Hanifa Safi, die beliebte Politikerin und Ex-Frauenministerin, zu sprechen kommt. Unter ihrem Auto war eine Bombe explodiert. Sie war sofort tot, Mann und Tochter überlebten schwer verletzt.

Maryam Durani kommt mit einem schwarzen Tuch auf dem Kopf und über ihren Schultern zu unserem Gespräch. Begleitet von ihrem Vater. „Das ist sicherer“. Denn sie ist im Visier der Taliban. Jeder kann sich im Internet das Video ansehen, in dem die junge Frau zwischen Michelle Obama und Hillary Clinton steht. Sie erhielt den internationalen Preis für „Frauen mit Mut“, die New York Times listete sie unter den „100 mächtigsten Frauen der Welt.“

Zum ersten mal gehen Frauen für ihre Rechte auf die Straße.

Jetzt, während meines Besuches in Afghanistan, gehen Frauen erstmals auf die Straße. In der Burka, da fühlen sie sich sicherer. Sie demonstrieren mit Transparenten, fordern von der Regierung Karsai eine strenge Bestrafung der Attentäter von ­Hanifa Sani und der Mörder der 22-jährigen hingerichteten jungen Frau in Parwan. 86 Prozent dieser protestierenden Frauen haben nach einer jüngsten Umfrage der Afghanistan Times Angst, dass diese Regierung die Taliban nach dem Truppenabzug an den Kabinettstisch holt – und dann sieht es schwarz aus für ihre Rechte.

Sicher: Es hat sich manches verbessert. Jetzt geht fast jedes dritte Mädchen zur Schule. Es gibt Frauenkliniken und Frauenzentren. Frauen dürfen ihr Haus verlassen. Allerdings wagen es die meisten nur in der Burka, dem hellblauen Ganzkörpergewand.

Auf dem Land probiere ich eine solche Burka und bekomme Platzangst. Sie sitzt so eng auf meinem Kopf, dass ich jetzt verstehe, warum so viele Afghaninnen über Kopfschmerzen klagen. Durch das kleine Gitter ist der Sichtradius auf unter 180 Grad eingeschränkt und außerdem ist dieses Gewand erdrückend heiß, die Temperaturen in Kabul liegen im Sommer zwischen 37 und 39 Grad.

Dennoch: Immer mehr junge Frauen setzen sich gegen das Diktat zur Wehr. Wie die 23-jährige Physiotherapeutin Farchunda Nesjatu. Ihre Eltern haben sie ­ermutigt einen Beruf zu erlernen. Nie würde sie gegen ihren Willen verheiratet werden, beteuert sie. „Aber es ist schwer in Afghanistan einen Mann zu finden, der eine berufstätig Frau akzeptiert“. Ob sie im Land bleibt? „Das weiß ich noch nicht“, sagt sie, und ihr Kopfschütteln spricht eine deutlichere Sprache als ihr Mund.

Das Wort vom „brain drain“ geht um in Afghanistan. Zu viele junge Menschen mit guter Ausbildung wollen raus. Masima Fayez und Shaima Gasim von „medica ­Afghanistan“ stellen resigniert fest, dass die häusliche Gewalt wieder zunimmt: „Die Regierung unterstützt die Frauen zu wenig. Frauenrechte spielen einfach keine Rolle“.

Die Mädchen boxen gegen die Schatten der Vergangenheit.

Am letzten Tag meiner Begegnungen mit Frauen in Afghanistan fahren wir noch in das Olympic. Dahin, wo die ­Taliban vor elf Jahren ihre Schauprozesse abgehalten haben. 20 boxende junge Mädchen warten auf uns. Zum Beispiel Shafika und Faima. Sie sind 14 und 22 Jahre alt. Ihrem Trainer Mohammad Saber Sharifi ist der Stolz auf seine Mädchen im Gesicht abzulesen: „Wir haben es diesmal zwar nicht nach London zu den Olympischen Spielen geschafft, aber das nächste Mal sind die Mädchen dabei!“

Dreimal die Woche trainieren sie im Zentrum. Landesüblich in T-Shirts, mit langen Ärmeln und in langen Hosen. Damit auch alles ordentlich bedeckt ist. Die meisten binden sich auch ein Tuch fest um den Kopf. Wenn sie boxen, dann kämpfen sie gegen die Schatten der Vergangenheit und gegen den Horror der Gegenwart. Alle Eltern mussten schriftlich zustimmen, dass die Mädchen nach der Schule zum Box­training gehen und an Wettkämpfen teilnehmen dürfen. Zu Zeiten der reinen Taliban-Herrschaft wäre Boxen für Frauen undenkbar gewesen. „Seit ich boxe, fühle ich mich glücklich und frei“, sagt Shafika.

Was geschieht mit den Frauen in Afghanistan nach dem Abzug der Truppen im Januar 2014? Präsident Hamid Karsai will dann nicht mehr antreten. Werden die Taliban die schwache demokratische Ordnung stürzen – oder sich einbinden lassen in eine neue Regierung? Schon jetzt haben die amtierenden Minister verkündet, dass nur sechs Prozent der Milliarden-Dollar-Hilfen in Frauen- und Kinderprojekte fließen sollen.

Die meisten Frauen haben Angst vor dem Abzug der internationalen Truppen. Sie fürchten, dass ihr Leben dann noch gefährlicher wird, die Korruption zunimmt und auch die häusliche Gewalt. Ganz zu schweigen davon, dass die meisten Menschen in diesem kargen Land am Hindukusch immer noch keinen Zugang haben zu sauberem Wasser, menschenwürdigen Latrinen oder ärztlicher Versorgung.

Die Autorin ist Gründerin und langjährige Leiterin der TV-Sendung „Mona Lisa“. ­Gerade veröffentlichte sie „Heiter weiter. Vom glücklichen dritten Leben“ (Südwest).

 

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