Als Mutter hat auch sie sechs Arme!

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Gewickelt hat sie ihre Söhne mit den Füßen, hochgehoben mit den Zähnen. Sigrid Kwella ist „Conterganerin“ und Mutter. Und sagt: „Meine Kinder haben die Chance gehabt, mit einer nicht perfekten Mutter aufzuwachsen.“

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Wie begrüßt man eine Frau ohne Arme? Die Frage stellt sich nicht länger, als Sigrid Kwella die Tür öffnet und ihre Besucherin hereinbittet: Mit größter Selbstverständlichkeit streckt die 41-Jährige ihrem Gast die drei Finger ihrer rechten Hand entgegen. Ihr Händedruck ist warm und überraschend fest. Kein Zweifel: Die zierliche Frau hat derlei Situationen bestens im Griff.

Sie sei heute mit sich und ihrer Behinderung im Reinen, sagt Sigrid Kwella später, als wir in ihrer gemütlichen Küche sitzen. Sie hat Tee gemacht und ihre Freundin mit einem Kuss charmant-resolut vom Frühstückstisch weg ins Wohnzimmer hinüber komplimentiert. Routiniert füllt sie die Tassen, den Süßstoffspender bedient sie mit dem Kinn. Alles in der hohen Berliner Altbauküche ist so eingeräumt, dass sich die Dinge, die sie häufiger benutzt, in den unteren Schränken oder in einem niedrigen Wandregal befinden. Mit ihrer Behinderung ins Reine zu kommen, fährt sie fort, sei ein langer Prozess gewesen. „Und der ist auch nie ganz abgeschlossen.“ Schließlich werde sie immer wieder mit Situationen konfrontiert, mit denen sie nicht ohne fremde Hilfe zurechtkomme. „Da muss ich mich immer wieder mit mir arrangieren, mich zu mögen“, sagt Sigrid Kwella.

Begonnen hatte alles im September 1961. Weil ihre Mutter wie viele schwangere Frauen den Versprechungen des Pharmakonzerns Grünenthal auf einen sanften Schlaf ohne Nebenwirkungen vertraut hatte, kam Sigrid Kwella ohne Arme zur Welt. Vier Jahre, von ihrem zweiten bis zu ihrem fünften Lebensjahr, verbrachte sie mit anderen Berliner Contergan-Kindern im Oskar-Helene-Heim. Hier wurde ihnen beigebracht, sich ohne fremde Hilfe an- und auszuziehen, sich zu waschen, zu essen, statt der Hände ihre Füße zu gebrauchen. Krankengymnastik, Turnen, Schwimmen, Beschäftigungstherapie, später auch therapeutisches Reiten – die Frühförderung der Opfer des größten Arzneimittelskandals war in der jungen Bundesrepublik geradezu generalstabsmäßig durchorganisiert – immer mit dem Ziel, den Kindern ein Maximum an Eigenständigkeit für ihren Alltag zu eröffnen. „Das hätten unsere Eltern nicht leisten können, nicht in dieser Perfektion“, ist sich Sigrid Kwella heute sicher. Die Kehrseite? „Man darf nicht vergessen, dass es ein Krankenhaus war – unsere Eltern waren nicht da, die Besuchszeiten waren kurz und wir hatten viele, viele Menschen um uns herum, die alle glaubten uns sagen zu können, was wir zu tun und zu lassen hätten.“

Kämpferisch, ehrgeizig und perfektionistisch, so beschreibt sich Sigrid Kwella heute. Nicht auf ihre Mutter, sondern auf Grünenthal habe sie als junge Frau geflucht, wenn sie in engen Toiletten mit ihrer Anziehhilfe kämpfte, um die Hose herunterzuziehen, während draußen eine lange Schlange wartete und die Toilettenfrau schon ungeduldig gegen die Tür hämmerte. „Strahlend schön und stolz wie Bolle“ sei sie später mit ihrem dicken Bauch durch die Gegend gelaufen und hat sich wenig darum geschert, dass viele ihr nicht zutrauten, ein Kind alleine zu versorgen. Gewickelt hat sie ihren Sohn mit den Füßen, hochgehoben mit den Zähnen. „Ab der sechsten, siebten Woche fingen die Kinder dann an, sich an mir festzuhalten – was sie bei anderen nicht gemacht haben“, erzählt sie. Manchmal griff sie auch zu unpopulären Maßnahmen: Statt das Kind umständlich mit den Füßen anzuziehen, dreimal hintereinander schweißgebadet die Treppen runter- und wieder hochzurennen, um alles, was sie brauchte, nach unten zu transportieren, hat sie lieber den Mittagsschlaf ihres Sohnes genutzt und die Einkäufe schnell alleine erledigt.

Sie ist es gewohnt, Probleme direkt anzugehen – mit viel Power und ohne Angst vor unbequemen Einsichten. Während ihre Kinder klein waren, studierte die gelernte Erzieherin Sozialpädagogik und schrieb ihre Diplomarbeit über Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern behinderter Mütter. Bei fast allen Contergan-Frauen, die sie dafür interviewte, stieß sie auf dieselben endlosen Diskussionen, die sie zu Hause mit ihren eigenen Söhnen führte. „Wenn die Armlänge fehlt, musst du die Kinder durch reden dazu bringen, die Situation zu verlassen.“ Eine Häufung von Verhaltensauffälligkeiten hat sie bei ihrer Untersuchung nicht feststellen können. Aber ein Aha-Erlebnis hatte sie: „Wir Conterganer sind es gewohnt, im Alltag ständig über unsere Grenzen zu gehen. Wir können keine Rücksicht darauf nehmen, ob uns der Rücken weh tut – wenn die Tasche auf dem Boden steht und wir gehen müssen, heben wir sie auf. Aber wie soll ich meinen Kindern Grenzen setzen, wenn ich ihnen tagtäglich vorlebe, dass ich über meine gehe? Ab da hab ich angefangen, meine Grenzen besser zu sehen und zu achten.“  

Ihre Söhne sind mittlerweile groß: Johannes, seit einem halben Jahr volljährig, lebt bei ihr und ihrer Freundin, der knapp 15-jährige Raphael ist nach der Trennung bei seinem Vater geblieben. Fragt man sie, ob sie ihrer Behinderung auch Positives abgewinnen kann, fallen ihr als erstes ihre Kinder ein: „Sie haben die Chance gehabt, mit einer nicht perfekten Mutter aufzuwachsen – sie sind beide sehr hilfsbereit und gehen selbstverständlich mit Behinderung um. Das ist etwas, was andere Kinder nicht gelernt haben.“ Auch für sich selbst habe sie viel erreicht: „Ich bin zufrieden mit meinem Leben, wie es ist.“ Neben der glücklichen Beziehung zu ihrer Freundin geben ihr vor allem die vielen Reisen, die sie unternommen hat, ein gutes Gefühl. „Aber ich denke auch, dass ich mir um meine Zukunft nicht so viele Sorgen machen müsste, wenn ich nicht behindert wäre.“

Denn die Zeiten, als Sigrid Kwella im Berliner Landesverband gemeinsam mit anderen ConterganerInnen begeistert Tischtennis und Fußball spielte und im Winter Ski fuhr, sind unwiderruflich vorbei. Wie viele Betroffene leidet sie heute an vielfältigen Verschleißerscheinungen – Folgeschäden ihrer Behinderung: Schultern und Rücken sind durch das ständige Bücken übermäßig strapaziert, die Kniegelenke vom häufigen Stehen auf einem Bein und dem Hantieren mit den Füßen in Mitleidenschaft gezogen. Ihren Job in der Lesbenberatung musste sie deswegen aufgeben: Die vier Treppen konnte sie nicht mehr bewältigen, einen Aufzug gab es nicht.

Ihre Pflege und Assistenz für zu Hause hat sie selbst organisiert. Dabei ist ihr die Unterscheidung wichtig zwischen (bezahlten) Assistenzen und den Menschen, mit denen sie lebt und von deren Hilfsbereitschaft sie profitiert, die sie aber nicht überfordern möchte. Immer stärker auf Hilfe von außen angewiesen zu sein, das sei ohnehin der „Horror, den wir alle haben“. So kämpft sie derzeit mit allen Mitteln, damit die Krankenkasse die Kosten für die Erneuerung ihrer Kronen und Brücken übernimmt: „Die Zähne ersetzen bei mir im oberen Bereich die fehlende Armlänge, sie sind meine dritte Hand, die ich brauche, um etwas von rechts nach links zu geben“, erläutert sie. Ein künstliches Gebiss – für andere kein Problem, wenn die eigenen Zähne nicht mehr mitmachen – käme deshalb für sie einer Katastrophe gleich: „Damit wäre ich auf einen Schlag gleich auf sehr viel mehr Hilfe angewiesen, weil mir plötzlich die Bisskraft fehlte.“

Einschränkungen, die ihr ihre Umwelt auferlegt, kommentiert die 41-Jährige um so bissiger. Die Tiefgarage am Potsdamer Platz? „Kann man wunderbar reinfahren, wenn man Arme hat, um an die Ausgabe für den Parkschein zu kommen.“ Doch sie wäre nicht sie selbst, wenn sie das nicht auf eine Idee gebracht hätte: Sie, die derzeit arbeitslos ist, hätte große Lust, künftig Bauträger und ArchitektInnen in Sachen behindertengerechtes Bauen zu beraten. Und zwar „nicht nur nach DIN-Norm“, wie sie betont, sondern so, dass junge und alte, blinde und gehörlose Menschen, RollstuhlfahrerInnen und Leute mit Kinderwägen die neuen Gebäude künftig gleichberechtigt nutzen könnten. Ein Traum? Zuzutrauen wäre es ihr.

Karin Nungeßer, EMMA 2/2004

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