Schwarzer über Transsexualität
Genie hat kein Geschlecht. Kreativität hat kein Geschlecht. Intelligenz hat kein Geschlecht. – Das sind so die Sätze, die Feministinnen seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten verkünden. Und: Die sexuelle Aktivität definiert nicht den Menschen. Sex ist nicht gleich Gender, biologisches nicht gleich soziales Geschlecht. Ziel ist: Die Befreiung von der Geschlechterrolle – und die Befreiung der Sexualität.
Es ist für Feministinnen also eine Binse, dass das biologische Geschlecht nur einer von vielen Faktoren/Identitäten ist, die den Menschen ausmachen. Unabhängig vom Geschlecht sollte der Mensch die Freiheit haben zu fühlen und zu tun, wie er es kann bzw. will: nach traditionellem Verständnis so genannt „weiblich“ oder/und „männlich“, am besten schlicht menschlich.
Die Geschlechterrolle wurde nicht etwa abgeschafft, sie wurde vervielfacht. Wie konnte das passieren?
Wie also konnte es passieren, dass ausgerechnet im Namen des Feminismus die Geschlechterrolle nicht etwa endlich abgeschafft wird, sondern vervielfacht? Der so genannte intersektionelle Feminismus (Noch so eine Kapriole, denn der Feminismus war von Anbeginn an gleichzeitig klassen- und rassenbewusst) und die Queerszene leugnen heute die Existenz von „Frauen“ und „Männern“ und spalten sie auf in X Identitäten. Frau oder Mann soll sich entscheiden, was sie oder er nun ist: „cis-sexuell, transsexuell, transgender, agender, demigender, non-binary, pansexuell, endogeschlechtlich (= nicht intersexuell), genderfluid, intergender oder pangender“.
Ich scherze? Keineswegs. Diese „geschlechtlichen Identitäten“ sind im „Queerlexikon“ online im Angebot. Und das ist noch längst nicht alles. Auch das „sexuelle Verhalten“ wird klassifiziert in: „ace-fluid“ oder „gynosexuell“, „cupiosexuell“ etc. etc.
Wer nun glaubt, diese so sektiererischen Absurditäten seien das Freizeitvergnügen einer Minderheit, hat recht, aber: Dieser Geist ist – zusammen mit Unterstrichen, Sternchen und LGBTTIQA – längst Mainstream geworden, er steht in Amtsrichtlinien und Feuilletons. Auch das Phänomen der Transsexualität wird nicht länger als dramatischer Konflikt zwischen Seele und Körper verstanden, sondern ist Trend. Wie konnte das passieren?
Die Seele ist bei Transsexuellen stärker als der Körper – entgegen alle biologistischen Ideologien
Als ich Mitte der 70er-Jahre erstmals mit dem Problem der Transsexualität konfrontiert war – durch einen Mann, der eine Frau werden wollte –, fand ich das frappant: Die Seele ist bei Transsexuellen stärker als der Körper – was alle biologistischen Ideologien zu widerlegen scheint. Ich plante ein Buch über Transsexualismus, aber die EMMA kam dazwischen. 1984 schrieb ich zum ersten Mal über Transsexuelle (nebenstehend ein Auszug).
In EMMA begleiteten wir die Transsexuellen dann ab den 80er-Jahren; ließen Männer, die Frauen wurden, oder Frauen, die Männer wurden, zu Wort kommen und forderten – oft gegen den Widerstand der Mehrheit der Feministinnen – die Akzeptanz und Legalisierung der Transsexualität. Das ist nahezu erreicht.
Doch es ist gekippt: vom Verständnis in Propaganda. Es ist heute wie im Märchen vom Aschenputtel, deren Schwestern sich die Zehen abgehackt haben, um in den richtigen Schuh, die Rolle der Braut zu passen. Statt der steigenden Zahl der Neo-Transsexuellen, zunehmend Frauen, zu sagen, dass sie auch ohne Hormone und Operationen aus der Geschlechterrolle ausbrechen können, passt man ihren Körper der gewünschten Rolle an.
Und die Minderheit der echten Transsexuellen, deren tiefer Konflikt nur durch Anpassung zu heilen ist? Bei ihnen vergisst man das Aufregendste: Nämlich, dass Transsexuelle Menschen sind, deren gelebte Erfahrung zwei Geschlechter umfasst – und sie uns viel erzählen könnten.
Alice Schwarzer
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Editorial von Alice Schwarzer aus dem Jahr 1984: Befreiung von der Rolle!
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