Antje Vollmer: Mein Vermächtnis

Antje Vollmer, Pionierin der Grünen, ist tot, sie starb mit 79 Jahren. - Foto: dpa
Artikel teilen

Sie hatte schon beim Offenen Brief an Kanzler Scholz als Erstunterzeichnerin mitgemacht und war jetzt beim Manifest für Frieden selbstverständlich wieder dabei. „Setze meinen Namen auf jeden Fall drunter. Auch wenn ich nicht mehr da sein sollte“, schrieb sie mir Mitte Februar. „Ich bin stolz, dabei zu sein. Und ich bin glücklich, dass es weitergeht. Das macht mir ein klein wenig Hoffnung.“ Schon das ganze vergangene Jahr über hatten wir wieder eine lockere Korrespondenz, die sich in ihren letzten Lebenswochen intensivierte. Ich lernte, sie zu bewundern: für ihre tiefe Gelassenheit und ihre anhaltende Präsenz. Sie wusste, dass sie bald sterben wird. Aber das hat sie nicht gehindert, bis zum letzten Tag Anteil zu nehmen an der Welt. Ich kenne Antje seit ihrer wilden Zeit im „Feminat“, der Frauenspitze der Grünen von 1984 bis 1985 in Bonn; aus ihrer Zeit als stolze alleinerziehende Mutter, die auch als Stellvertretende Bundestagspräsidentin mit ihrem Sohn kindgerecht zelten ging; und als eine der wenigen PolitikerInnen mit einem tiefen historischen Wissen und umfassenden Blick auf die Welt. Daraus leitete sich folgerichtig auch ihr konsequentes heutige Engagement gegen den Ukraine-Krieg und für Friedensverhandlungen ab. Dass Antje Vollmer im Alter von 79 Jahren jetzt im Kreis ihrer Familie so würdevoll gestorben ist, das ist keine Überraschung: Man stirbt, wie man lebt.
Alice Schwarzer

Anzeige

 

ANTJE VOLLMER: MEIN VERMÄCHTNIS

Ich stand auf dem Bahnhof meiner Heimatstadt und wartete auf den ICE. Plötzlich näherte sich auf dem Nebengleis ein riesiger Geleitzug, vollbeladen mit Panzern – mit Mardern, Geparden oder Leoparden. Ich kann das nicht unterscheiden, aber ich konnte geschockt das Bild lesen. Der Transport fuhr von West nach Ost.

Es war nicht schwer, sich das Gegenbild vorzustellen. Irgendwo im Osten des Kontinents rollten zur gleichen Zeit Militärtransporte voller russischer Kampfpanzer von Ost nach West. Sie würden sich nicht zu einer Panzerschlacht im Stile des Ersten Weltkrieges irgendwo in der Ukraine treffen.

Nein, sie würden diesmal erneut den waffenstarrenden Abgrund zwischen zwei Machtblöcken markieren, an dem die Welt sich vielleicht zum letzten Mal in einer Konfrontation mit möglicherweise apokalyptischem Ausgang gegenübersteht. Wir befanden uns also wieder im Kalten Krieg und in einer Spirale der gegenseitigen existenziellen Bedrohung – ohne Ausweg, ohne Perspektive. Alles, wogegen ich mein Leben lang politisch gekämpft habe, war mir in diesem Moment präsent als eine einzige riesige Niederlage.

Es ist üblich geworden, zu Beginn jeder Erwähnung der ungeheuren Tragödie um den Ukraine-Krieg wie eine Schwurformel von der "Zeitenwende", vom völkerrechtswidrigen brutalen Angriffskrieg Putins bei feststehender Alleinschuld der russischen Seite zu reden und demütig zu bekennen, wie sehr man sich geirrt habe im Vertrauen auf eine Phase der Entspannung und der Versöhnung mit Russland nach der großen Wende 1989/90.

Wir befanden uns also wieder in einer Spirale der gegenseitigen existenziellen Bedrohung

Diese Schwurformel wird wie ein Ritual eingefordert, wie ein Kotau, um überhaupt weiter mitreden zu dürfen. Die Feststellung ist ja auch nicht falsch, sie verdeckt aber häufig genau die zentralen Fragen, die es eigentlich zu klären gäbe.

Wo genau begann die Niederlage? Wo begann der Irrtum? Wann und wie entstand aus einer der glücklichsten Phasen in der Geschichte des eurasischen Kontinents, nach dem nahezu gewaltfreien Ende des Kalten Krieges, diese erneute tödliche Eskalation von Krieg, Gewalt und Blockkonfrontation? Wer hatte Interesse daran, dass die damals mögliche friedliche Koexistenz zwischen Ost und West nicht zustande kam, sondern einem erneuten weltweitem Antagonismus anheimfiel?

Und dann die Frage aller Fragen: Warum nur fand ausgerechnet Europa, dieser Kontinent mit all seinen historischen Tragödien und machtpolitischen Irrwegen, nicht die Kraft, zum Zentrum einer friedlichen Vision für den bedrohten Planeten zu werden?

Für die Deutung historischer Ereignisse ist es immer entscheidend, mit welchen Aspekten man beginnt, eine Geschichte zu erzählen.

Ich widerspreche der heute üblichen These, 1989 habe es eine etablierte europäische Friedensordnung gegeben, die dann Schritt um Schritt einseitig von Seiten Russlands unter dem Diktat des KGB-Agenten Putin zerstört worden sei, bis es schließlich zum Ausbruch des Ukrainekrieges kam.

Warum fand Europa nicht die Kraft einer friedlichen Vision für den Planeten?

Das ist nicht richtig. Richtig ist: 1989 ist eine Ordnung zerbrochen, die man korrekter als „Pax atomica“ bezeichnet hat, ohne dass eine neue Friedensordnung an ihre Stelle trat. Diese zu schaffen, wäre die Aufgabe der Stunde gewesen. Aber die visionäre Phantasie Europas und des Westens in der Wendezeit reichte nicht aus, um sich das haltbare Konzept einer stabilen europäischen Friedensordnung auszudenken, das allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion einen Platz verlässlicher Sicherheit und Zukunftshoffnungen anzubieten vermocht hätte.

Zwei Gründe sind dafür entscheidend. Beide haben mit alten europäischen Irrtümern zu tun: Zum einen wurde der umfassende wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 einseitig als triumphaler Sieg des Westens im Systemkonflikt zwischen Ost und West interpretiert, der damit endgültig die historische Niederlage des Ostens besiegelte. Dieser Hang, sich zum Sieger zu erklären, ist eine alte westliche Hybris und seit jeher Grund für viele Demütigungen, die das ungleiche Verhältnis zum Osten prägen.

Die Unfähigkeit, nach so umfassenden Umbrüchen andere gleichberechtigte Lösungen zu suchen, hat in dieser fatalen Überheblichkeit ihre Hauptursache. Vor allem aber wurde so das ungeheure und einzigartige Verdienst der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow mit einer verblüffenden Ignoranz als gerngesehenes Geschenk der Geschichte eingeordnet: Die große Vorleistung des Gewaltverzichts in der Reaktion auf das Freiheitsbestreben der Völker des Ostblocks galt als nahezu selbstverständlich.

Das aber war es gerade nicht. Bis heute ist erstaunlich, ja unfassbar, wie wenig Gewicht dem beigemessen wurde, dass die Auflösung eines sowjetischen Weltimperiums nahezu gewaltfrei vonstatten ging. Die naive Beschreibung dieses einmaligen Vorgangs lautete dann etwa so: Wie ein Kartenhaus, hochverdient und unvermeidlich, sei da ein ganzes System in sich zusammengesackt.

Das Verdienst der Sowjet Führung unter Gorbatschow - Geschenk der Geschichte?

Dass gerade diese Gewaltfreiheit das größte Wunder in einer Reihe wundersamer Ereignisse war, wurde kein eigenes Thema. Sie wurde vielmehr als Schwäche gedeutet. Es gibt aber kaum Vorbilder in der Geschichte für einen solchen Vorgang. Selbst die schwächsten Gewaltregime neigen gerade im Stadium ihres Untergangs gesetzmäßig dazu, eine Orgie von Gewalt, Zerstörung und Selbstzerstörung anzurichten und alles um sie herum in ihren eigenen Untergang mitzureißen – wie exemplarisch beim Untergang des NS-Reiches zu sehen war.

Die Sowjetunion des Jahres 1989 unter Gorbatschow, wiewohl politisch und wirtschaftlich geschwächt, verfügte über das größte Atompotential, sie hatte eigene Truppen auf dem gesamten Gebiet ihrer Herrschaft stationiert. Es wäre ein Leichtes gewesen, das alles zu mobilisieren. Das wurde ja auch von vielen Vertretern des alten Regimes vehement gefordert.

Mit dem historischen Abstand wird noch viel deutlicher, welche staatsmännische Leistung es war, lieber „Helden des Rückzugs“ (Enzensberger) zu sein, als in einem letzten Aufbäumen als blutige Rächer und Schlächter von der Geschichte abzutreten. Die Wahl, die Michail Gorbatschow fast allein getroffen hat, hat ihm nicht zuletzt die Enttäuschung vieler seiner Bürger eingebracht. Es hieß, er habe nachträglich den Großen Vaterländischen Krieg verloren.

Wie ein stummes Mahnmal gigantischer europäischer Undankbarkeit steht dafür der erschreckend private Charakter der Trauerfeier um den wohl größten Staatsmann unserer Zeit auf dem Moskauer Prominenten-Friedhof. Es wäre ein Gebot der Stunde gewesen, dass die Granden Europas Michail Gorbatschow, der längst im eigenen Land isoliert war, ihre Hochachtung und ihren Respekt erwiesen hätten, indem sie sich vor ihm verneigten.

Welch Leistung, lieber "Helden des Rückzugs" als blutige Rächer und Schlächter zu sein

Zumindest aus Deutschland, das fast ihm allein das Glück der Wiedervereinigung verdankt, hätte ein Bundespräsident Steinmeier an diesem Grab stehen müssen. Die Einsamkeit um diesen Toten war unerträglich. So nutzte ausgerechnet Viktor Orbán die Chance, diesen Boykott einer angemessenen Würdigung zu unterlaufen. Es bleibt ein beschämendes Zeichen, ein Menetekel historischer Ignoranz. Wenige Tage später drängelten sich die Repräsentanten des europäischen Zeitgeistes dann alle mediengerecht am Grab der englischen Queen und des deutschen Papstes Benedikt XVI.

Bis heute ist mir schwer verständlich, warum es nicht zumindest eine Demonstration der Dankbarkeit bei den eigentlichen Profiteuren dieses Gewaltverzichtes, bei den Bewegungen der friedlichen Bürgerproteste gegeben hat. Gerade sie hatten ja hautnah die Ängste erfahren, was alles hätte passieren können, wenn es 1989 in Ost-Berlin eine ähnliche Reaktion wie bei den Studentenprotesten in Peking gegeben hätte.

Und tatsächlich ist ein Teil der heutigen Zurückhaltung im Osten Deutschlands gegenüber der einseitigen Anprangerung Russlands wohl dieser anhaltenden Dankbarkeit zuzuschreiben. Mediale Wortführer und Interpreten aber wurden andere – und sie wurden immer dreister. Immer kleiner wurde in ihren Interpretationen der Anteil am Verdienst der Gewaltfreiheit auf sowjetischer Seite, immer wirkmächtiger wurde die Legende von der eigenen großartigen Widerstandsleistung.

Alle kundigen Zeitzeugen wissen genau, dass der Widerstand und der Heldenmut von Joachim Gauck, Marianne Birthler, Katrin Göring-Eckardt durchaus maßvoll war und den Grad überlebenstüchtiger Anpassung nicht wesentlich überschritt. Manche Selbstbeschreibungen lesen sich allerdings heute wie Hochstapelei. Sie verschweigen oder verkennen, was andere Kräfte zum großen Wandel beitrugen und dass mancher Reformer im System keineswegs weniger Einsatz und Mut gewagt hatte.

Ein Bundespräsident Steinmeier hätte an Gorbatschows Grab stehen müssen

Das mag menschlich, allzu menschlich sein und also nicht weiter erwähnenswert. Fatal allerdings ist, dass dieser Teil der Bürgerrechtler heute zu den eifrigsten Kronzeugen eines billigen antirussischen Ressentiments zählt. Dies knüpft dabei bruchlos an jene Ideologie des Kalten Krieges an, die vom berechtigten Antistalinismus über den verständlichen Antikommunismus bis hin zur irrationalen Slawenphobie viele Varianten von westlichen Feindbildern bis heute prägt.

Die wichtigsten Fragen, die heute zwischen Ost und West verhandelt werden müssten, lauten: Was bedeutet es eigentlich, eine europäische Nation zu sein? Was unterscheidet uns von anderen? Welche Fähigkeiten muss eine Nation erwerben, um dazuzugehören? Was sind die Lehren unserer Geschichte? Welche Ideale prägen uns? Welche Irrtümer und Verbrechen? Diese Fragen werden in aller Deutlichkeit wachgerufen am Beispiel der Ukraine und ihres Abwehrkampfes gegen die russische Aggression.

In unseren Medien verkörpert die Ukraine das Ideal und Vorbild einer freiheitsliebenden westlichen Demokratie heroischen Zuschnitts. Die Ukraine, so heißt es, kämpfe nicht nur für ihre eigene Nation, sondern zugleich für die universale historische Mission des Westens. Wer sich machtpolitisch behauptet, wer seine Existenz mit blutigen Opfern und Waffen verteidigt, gilt als Bollwerk für die europäischen Ideale der Freiheit, koste es, was es wolle. Wer aber den Weg des Konsenses, der Kooperation, der Verständigung und der Versöhnung sucht, gilt als schwach und deswegen als irrelevant, ja als verachtenswert. Von daher sind Gorbatschow und Selenskyj die eigentlichen Antitypen in der Frage, was es heute heißt, Europäer zu sein und die europäischen Tugenden zu verkörpern.

Der Weg der Kooperation, Verständigung & Versöhnung gilt als Schwäche

Neben diesem Hang zum Heroischen und zur Selbsterhöhung liegt hier die Wurzel, die ich für den Grundirrtum einer europäischen Identität halte: das scheinbar unausrottbare Bedürfnis nach nationalem Chauvinismus. Jahrhundertelang haben nationale Exzesse die Geschichte unseres Kontinents geprägt. Keine Nation war frei davon: nicht die Franzosen, schon gar nicht die Briten, nicht die Spanier, nicht die Polen, nicht die Ukrainer, nicht die Balten, nicht die Schweden, nicht die Russen, noch nicht einmal die Tschechen – und schon gar nicht die Deutschen.

Es ist ein fataler Irrtum, zu meinen, durch den Widerstand gegen die anderen imperialen Mächte gewinne der eigene Nationalismus so etwas wie eine historische Unschuld. Das ist Selbstbetrug und einer der folgenschwersten europäischen Irrtümer. Er verführt auch heute noch viele junge Demokratien dazu, sich nur als Opfer fremder Mächte zu sehen und die eigene Gewaltgeschichte, die eigenen Gewaltphantasien für berechtigt zu halten. Was Europa immer wieder zu lernen hatte und historisch meist verfehlte, ist die Kunst der Selbstbegrenzung, der friedlichen Nachbarschaft, der Fairness, der Wahrung gegenseitiger Interessen und des Respektes voreinander. Was Europa endlich verlernen muss, ist das ständige Verteilen von Ketzerhüten, das Ausmachen von Achsen des Bösen und von immer neuen Schurkenstaaten.

Ach Europa! Jedes Mal, wenn wieder eine der großen Krisen und Kriege des Kontinents überstanden war – nach dem 30-jährigen Krieg, nach dem Feldzug Napoleons gegen Russland, nach zwei Weltkriegen, nach dem Kalten Krieg –, konnte man hoffen, der machtpolitische Irrweg sei nun durch bittere Erfahrung widerlegt und gebe einem überlebenstüchtigeren Weltverständnis endlich Raum. Und jedes Mal fielen wie durch einen Fluch die Völker Europas wieder der Versuchung anheim, den Weg der Dominanz und der Konfrontation zu gehen.

Europa muss endlich das Ausmachen von immer neuen Schurkenstaaten verlernen

Umso wertvoller ist aber das große Gegenbeispiel: Gorbatschows Hoffnung, dass auch für alle ehemaligen Staaten der Sowjetunion eine neue Sicherheitsordnung möglich sei, die den unterschiedlichen Sicherheitsbedürfnissen gerecht werden würde, war in der Charta von Paris durchaus angedacht als Raum gemeinsamer wirtschaftlicher und politischer Kooperation zwischen dem alten Westeuropa und den neuen östlichen Staaten. Das war damals auch die Vision von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Aber es gab keinen Plan, kein Konzept, die Vision war einfach zu undeutlich.

Wie schnell sich wieder das Gefühl des leichten Triumphes einstellte, lässt sich an einem traurigen Beispiel gut ablesen: am Umgang mit Jugoslawien. Jugoslawien gehörte zu den blockfreien Staaten, es hatte sich rechtzeitig vom Stalinismus gelöst und die jahrhundertealten nationalen Rivalitäten aus der Zeit der Donau-Monarchie einigermaßen befriedet. Es wäre nichts leichter gewesen, als diesem Jugoslawien als Ganzem 1989 eine Öffnung nach Europa und zur EU anzubieten.

Es hätte Zeit gebraucht, aber es wäre möglich gewesen. Man hätte nur darauf verzichten müssen, dem nationalen Drängen der Slowenen und Kroaten zu schnell nachzugeben und das neue Feindbild der aggressiven Serben zu pflegen. Solche Weisheit allerdings fehlte völlig im Überbietungswettstreit um die Anerkennung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan. Der bosnische Bürgerkrieg, Srebrenica, die Zerstörung Sarajewos, Hunderttausende Tote und traumatisierte Menschen, der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Nato gegen Belgrad, die völkerrechtswidrige Anerkennung des Kosovo als selbständiger Staat, das vielfältige Aufbäumen von neuen nationalen Chauvinismen wären vermeidbar gewesen.

Beispiel für das Gefühl des leichten Triumphes: der Umgang mit Jugoslawien

Was bedeutet das alles für die unmittelbare Gegenwart und für die deutsche Politik im Jahre 2023?

Die Koordinaten haben sich entscheidend verschoben. Bis zum Ende der Regierung Schröder konnte man davon ausgehen, dass gerade Deutschland aus der Zeit der Entspannungspolitik einen privilegierten Zugang, zumindest einen gewissen Spielraum zum Konfliktausgleich zwischen den großen geopolitischen Spannungsherden innehatte. Diese Zeit ist endgültig vorbei.

Ungefähr im Jahre 2008 begann Putin, dem Status quo zu misstrauen und seinen Machtbereich gegen den Westen auszurichten. Deutschland begann, sich als europäischer Riegenführer im neuen Konzept der Nato zu definieren. Im Rahmen der Reaktionen auf den Ukrainekrieg rückte es endgültig ins Zentrum der antirussischen Gegenstrategien. Das begrüßenswerte, aber medial vielgescholtene Zögern des Kanzlers Olaf Scholz war zu wenig von einer haltbaren politischen Alternative unterfüttert und geriet so ins Rutschen.

Wirtschaftlich und politisch zahlen wir dafür einen hohen Preis. Der deutsche Wirtschaftsminister bemüht sich, die alten Abhängigkeiten von Russland und China durch neue Abhängigkeiten zu Staaten zu ersetzen, die keineswegs als Musterdemokratien durchgehen können. Die Außenministerin ist die schrillste Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie.

Deutsche Politik im Jahre 2023: die Koordinaten entscheidend verschoben

Ihre Begründungen verblüffen durch argumentative Schlichtheit. Dabei wachsen die Rüstungskosten und der Einfluss der Rüstungs- und Energiekonzerne ins Unermessliche. Der Krieg verschlingt sinnlos die Milliarden, die für die Rettung des Planeten und gegen die Armut des globalen Südens dringend gebraucht würden. Das aufsteigende China aber wird propagandistisch als neuer geopolitischer Gegner ausgemacht und in der Taiwan-Frage ständig provoziert. Das sind alles keine guten Auspizien.

Und dennoch: Wenn mich nicht alles täuscht, steht Europa kurz vor der Phase einer großen Ernüchterung, die das eigene Selbstbild tief erschüttern wird. Für mich aber ist das ein Grund zur Hoffnung. Der so selbstgewisse Westen muss einfach lernen, dass die übrige Welt unser Selbstbild nicht teilt und uns nicht beistehen wird. Die eilig ausgesandten Sendboten einer neuen antichinesischen Allianz im anstehenden Kreuzzug gegen das Reich der Mitte scheinen nicht besonders erfolgreich zu sein.

Wie konnten wir nur annehmen, dass das große China und die Hochkulturen Asiens die Zeit der willkürlichen Freihandels- und Opiumkriege je vergessen würden? Wie sollte der leidgeprüfte afrikanische Kontinent die zwölf Millionen Sklaven und die Ausbeutung all seiner Bodenschätze je verzeihen? Warum sollten die alten Kulturen Lateinamerikas den spanischen und portugiesische Konquistadoren ihre Willkürherrschaft vergeben? Warum sollten die indigenen Völker weltweit das Unrecht illegaler Siedlungen und Landraubs einfach beiseiteschieben in ihrem historischen Gedächtnis?

Wird eine Phase der großen Ernüchterung Europas Selbstbild erschüttern?

Meine Hoffnung besteht darin, dass sich aus all dem eine neue Blockfreienbewegung ergeben wird, die nach der Zeit der vielen Völkerrechtsbrüche wieder am alleinigen Recht der UNO arbeiten wird, dem Frieden und dem Überleben des ganzen Planeten zu dienen.

Meine ganz persönliche Niederlage wird mich die letzten Tage begleiten. Gerade die Grünen, meine Partei, hatte einmal alle Schlüssel in der Hand zu einer wirklich neuen Ordnung einer gerechteren Welt. Sie war durch glückliche Umstände dieser Botschaft viel näher als alle anderen Parteien.

Wir hatten einen echten Schatz zu hüten: Wir waren nicht eingebunden in die machtpolitische Blocklogik des Kalten Krieges. Wir waren per se Dissidenten. Wir waren gleichermaßen gegen die Aufrüstung in Ost wie West, wir sahen die Gefährdung des Planeten durch ungebremstes Wirtschaftswachstum und Konsumismus. Wer die Welt retten wollte, musste ein festes Bündnis zwischen Friedens- und Umweltbewegung anstreben, das war eine klare historische Notwendigkeit, die wir lebten. Wir hatten dieses Zukunftsbündnis greifbar in den Händen.

Was hat die heutigen Grünen verführt, all das aufzugeben für das bloße Ziel, mitzuspielen beim großen geopolitischen Machtpoker, und dabei ihre wertvollsten Wurzeln als lautstarke Antipazifisten verächtlich zu machen?

Was haben die Grünen aufgegeben, um beim großen Machtpoker mitzuspielen?

Ich erinnere mich an meine großen Vorbilder: Die härtesten Bewährungsproben hatten die großen Repräsentanten gewaltfreier Strategien immer in den eigenen Reihen zu bestehen. Gandhi hat mit zwei Hungerstreiks versucht, den Rückfall der Hindus und Moslems in die nationalen Chauvinismen zu stoppen, Nelson Mandela hatte äußerste Mühe, die Gewaltbereitschaft seiner jungen Mitstreiter zu brechen, Martin Luther King musste sich von den Black Panthers als zahnloser Onkel Tom verhöhnen lassen. Ihnen wurde nichts geschenkt. Und das gilt auch heute für uns letzte Pazifisten.

Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit, gerade in Zeiten großer Krisen und existentieller Ängste. Heute aber gilt: Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planenten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.

Antje Vollmer

 

Artikel teilen
 
Zur Startseite