Prügelknaben oder prügelnde Knaben?

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Es ist wieder so weit. Seit ein paar Jahren ertönt auf den Titelseiten in regelmäßigen Abständen großes Wehklagen. Beklagt wird die Lage des ehemals starken Geschlechts an deutschen Schulen: Ein "Krieg gegen die Jungen" (Focus) werde dort gegen die "Armen Jungs!" (Spiegel) geführt, die die "neuen Prügelknaben der Nation" (Zeit) seien. Jetzt hat eine Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) für einen neuen Adrenalinschub im Blätterwald gesorgt. Die Studie konstatiert: In Sachen Schulabschlüsse ist das ehemals schwache Geschlecht weiterhin das stärkere. Kurz gesagt, jedes dritte Mädchen macht Abitur, aber nur jeder fünfte Junge. Dafür macht knapp jeder dritte Junge den Hauptschulabschluss (und jeder zehnte gar keinen), aber nur jedes fünfte Mädchen.

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An der Spitze der deutschen Klagewelle steht diesmal die Wirtschaftswoche, die angesichts des Gender Gap in Sachen Bildung um den viel strapazierten "Wirtschaftsstandort Deutschland" fürchtet. Titelbild: Ein kleiner, verschüchterter, blonder Junge mit tränenfeuchten Augen sitzt im Schatten der übermächtig großen Lehrerin mit kurzem Rock und kräftigen Walküren-Beinen, die ihr langes Holzlineal schon im Anschlag hält. Kurzum: die klassische Domina-Fantasie. Im Hintergrund: Lachende Mädchen, die sich eifrig zu Wort melden und das Lineal ganz sicher nicht fürchten müssen. Titelzeile: "Wie die Schulen unsere Jungs verdummen".

Aha. Die Schuldfrage wäre also schon mal geklärt. Wieder mal verantwortlich für die männliche Bildungsmisere sind mitnichten die Jungen selbst, sondern "die Schulen". "Werden Jungen benachteiligt?", fragt Autor Dieter Dürand rhetorisch. Wassilios Fthenakis, Entwicklungspsychologe aus Bozen und "genauer Kenner des deutschen Bildungssystems", antwortet: "Ja, das ist empirisch nachgewiesen." Denn: "Jungen brechen weitaus häufiger die Schule ab, bleiben öfter sitzen und schaffen seltener das Abitur."

Mit Verlaub: Empirisch nachgewiesen ist hier lediglich die Tatsache, dass Jungen schlechtere Leistungen erbringen. Warum das so ist, darüber geben diese Zahlen keinerlei Auskunft.

Angesichts der Tatsache, dass zwei Drittel der Schulabgänger mit Hauptschulabschluss männlich sind, von "Jungendiskriminierung" zu sprechen – das ist eine interessante Logik. Genauso gut könnte man behaupten, starke Raucher würden aufgrund der Tatsache, dass sie häufiger an Lungenkrebs sterben als Nichtraucher, vom medizinischen System diskriminiert. Oder: Die Rettungsschwimmer der DLRG benachteiligen Nichtschwimmer, denn die ertränken schließlich häufiger als Schwimmer.

Was genau passiert nun an den Bildungsanstalten, dass sie so massenhaft Schulversager männlichen Geschlechts produzieren? Wirtschaftswoche-Autor Dürand erklärt es uns. Die Übeltäter sind die Lehrerinnen. Denn die weisen Jungen zurecht, "nur weil es unserem Lukas schwerfällt, die ganze Stunde still auf seinem Stuhl zu sitzen und er schon einmal zwischendrin aufspringt". Beschwerden "verzweifelter Väter und Mütter" gegen die "Schikanierung" ihrer Söhne häuften sich, berichten Elternvereine. "Fast immer sind Jungen betroffen, und fast immer sind Lehrerinnen in den Konflikt verstrickt." Versteht sich, dass diese Lehrerinnen keine Einzeltäterinnen sind, sondern von einer finsteren Macht gelenkt werden: dem Feminismus. Die armen Jungen sind "Emmas Opfer". Denn: "Das Verhalten von Mädchen ist an den Schulen zur Norm gemacht worden. Jungs werden zu Außenseitern gestempelt und in unserem Bildungssystem klar benachteiligt."

Was tun sie denn, die Mädchen? Kratzen, beißen, spucken sie? Nein, sie sind "diszipliniert". Wir halten fest: Das "Verhalten", um das es hier geht, war schon immer Norm – auch nachdem der Rohrstock abgeschafft wurde. Nämlich: Zuhören, wenn Lehrer oder Lehrerin was erzählen, wobei es Sinn macht, dabei auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. Versuchen zu verstehen, worum es geht. Sich melden, wenn man eine Frage beantworten kann. Die Klappe halten, wenn nicht. Mitmachen – beim Diktat, beim Chemieversuch, bei der Gruppenarbeit. Das Problem ist folglich ein anderes: Es sind in besonderem Maße die Jungen, die nicht mehr in der Lage sind, diese seit Existenz der allgemeinen Schulpflicht gängigen Gepflogenheiten einzuhalten.

Anstatt jedoch dies zu benennen, sind jetzt die LehrerInnen, pardon: die Lehrerinnen schuld, die es wagen, einen weitgehend störungsfreien Unterricht auch weiterhin einzufordern. Wenn man die Sache überhaupt als Vorwurf an das Bildungssystem formulieren möchte, dann wohl allenfalls so: Die Schulen haben bisher keine Strategie gefunden, um den sich rapide verschlechternden Fähigkeiten zur Konzentration und einem angemessenem Sozialverhalten eines beträchtlichen Teils der männlichen Schülerschaft zu begegnen.

Denn was sich gewandelt hat, sind nicht die Lehrerinnen, die im Geiste der Emanzipation zu linealschwingenden Dominas mutiert sind, sondern die Jungen selbst. Die haben in dem historischen Moment, in dem die Mädchen nicht nur auf-, sondern überholen, das Hase-und-Igel-Spiel angefangen. In diesem Fall heißt das: Die Jungs verlagern den Schauplatz. Wie sich seinerzeit Schröder und Fischer – als die rot-grüne Quote es gebot, die Hälfte der Ministerposten mit Frauen zu besetzen – zigarredampfend ins Kaminzimmer zurückzogen, wo fortan die Musik spielte. Wie sich die amerikanischen Männer im Angesicht des zweifachen WM-Sieges ihrer Fußballfrauen nicht die Bohne für Fußball interessierten, sondern Rugby als Nationalsport feierten. So spielen die Jungs jetzt das Bildungsspiel nicht mehr mit. Die Mädchen machen die besseren Abschlüsse – na und? Bildung ist eh uncool, was für Weicheier. "Einser-Schüler gelten schnell als Streber. In dem Zwiespalt zwischen der Anerkennung als guter Schüler oder ein richtiger Junge zu sein, entscheiden sich viele für die Männlichkeit und gegen die Schule", zitiert die Wirtschaftswoche den Hamburger Erziehungswissenschaftler Jürgen Budde.

Und mit der Entscheidung für die "Männlichkeit" geht einher die Flucht in die Bereiche, in denen die Geschlechterwelt noch in Ordnung scheint. Ihr habt auch eine Nobelpreisträgerin? Uns doch egal – wir haben Lukas Podolski! Ihr habt eine Kanzlerin? Na und – wir haben Bushido! Ihr könnt inzwischen auch mit Computern umgehen? Na gut, dann steckt ihr mal schön eure Nase in die Internet-Lexika – wir ballern so lange als Terrorist oder Mafia-Boss durch die Gegend und schicken unsere virtuellen Nutten auf den Strich!

"Je brutaler die Computerspiele sind und je häufiger sie gespielt werden, desto schlechter sind die Noten"“, erklärt der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer. In einer Studie mit 23.000 SchülerInnen hat der Medienexperte, der schon seit Jahren einen schärferen Blick auf die gesellschaftliche Konstruktion von Männerbildern einfordert, einen zwingenden Zusammenhang zwischen Medien- und Computerkonsum sowie Schulleistungen festgestellt (siehe auch Seite 31). Die Zahlen sprechen für sich: Jeder zehnte Junge schaut täglich mehr als fünf Stunden fern – aber nur jedes 30. Mädchen.

Hinzu kommt, dass just das Rekurrieren auf angestammte männliche Vorrechte, das ein Teil der Jungen – nämlich der abgehängte – betreibt, ihnen das Genick bricht. Während die Mädchen in so genannten bildungsfernen Schichten mit Anstrengung auf ihre schlechten Berufsaussichten reagieren, halten die Jungs das Recht auf einen Job für ein Herrenrecht. So stellt eine Studie des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung fest: "Ein schlechter Arbeitsmarkt scheint jüngere Frauen geradezu anzuspornen, mehr in der Schule zu leisten und so ihre Jobchancen zu verbessern. Jungen hingegen reagieren nicht mit messbaren Bildungsanstrengungen." Denn zu viele Jungen unterlägen dem "Irrglauben, sie würden schon eine Arbeit in einem traditionellen Männerberuf in der Fabrik oder auf dem Bau finden". Diese Zeiten aber sind vorbei. Bildungsforscher und Pisa-Erfinder Andreas Schleicher erklärt auf die Frage, ob "Mädchen einfach schlauer" seien als Jungs: "Sie begreifen eher, dass ihre Berufsperspektiven von einer guten Ausbildung abhängen, während Jungen immer noch glauben, für sie würde sich schon ein Job finden." Auf die Frage, ob Jungen in der Schule bewusst diskriminiert würden, antwortet der Pisa-Erfinder der Wirtschaftswoche mit einem klaren Nein. Was das Magazin nicht weiter anficht.

Statt also hysterisch-feministische Lehrerinnen zum Sündenbock für das beunruhigende Schulversagen der Jungen zu machen, wäre dringend geboten, darüber nachzudenken, wie man dem grassierenden Männlichkeitswahn in den Kinderzimmern begegnen könnte. Doch lieber stellen Journalisten und Politiker das "Schulsystem" in Frage als die Männlichkeitsdogmen, in die sich ein Teil der verunsicherten Jungen flüchtet. Nämlich genau der Teil, der laut Jugendforscher Klaus Hurrelmann in der Schule heutzutage von "cleveren, flexiblen Mädchen geradezu deklassiert wird".

"Wenn zwei Drittel aller Schulabbrecher männlich sind, besteht dringender Handlungsbedarf", fordert der schulpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion in NRW. Das ist sehr richtig. Denn: Jungs sind nicht Opfer der "Verweiblichung der Schule", wie es uns Wirtschaftswoche & Co. erzählen möchten, sondern des zunehmenden Männlichkeitswahns in Zeiten der Frauenemanzipation.

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